The Project Gutenberg eBook of Die Flucht der Beate Hoyermann

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Title: Die Flucht der Beate Hoyermann

Roman

Author: Thea von Harbou

Release date: October 17, 2025 [eBook #77073]

Language: German

Original publication: Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger, 1916

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FLUCHT DER BEATE HOYERMANN ***

Anmerkungen zur Transkription

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.

Worte in Antiqua sind "kursiv" dargestellt.


Die Flucht der
Beate Hoyermann


Die Flucht
der Beate Hoyermann

Roman


von


Thea von Harbou

9.-20. Auflage

signet

Stuttgart und Berlin 1916
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger

A. g. XIII.


Alle Rechte, inbesondere das Übersetzungsrecht, vorbehalten

Für die Vereinigten Staaten von Amerika:
Copyright, 1916, by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger.
Stuttgart und Berlin


Der geliebten Mutter
meines Mannes


[S. 7]

1

»Hai —! Hai —! Haiiiii —!!«

Der Kuli vor Beates Jinrikisha schrie wie eine Dampfpfeife, als er in vollem Trabe um die Ecke bog und im Menschengewühl der Hauptstraße untertauchte.

Für europäische Begriffe schien es ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, mit einem Jinrikisha in diesen Strom von gelben, hageren, behenden Leibern, blauen verwaschenen Kimonos und runden Strohdeckeln auf glattgeschorenen Schädeln hineinzujagen, ohne daß ein Unglück geschah; und Beate öffnete schon den Mund, um ihrem zweibeinigen Pferd ein »Mate! Mate! — Halt! Halt!« zuzurufen.

Aber das gellende »Hai — haiii —!« des Kulis und die gleichmütige Unbeirrbarkeit seines Trabens machten die Menschen vor ihm auseinanderspritzen wie Wassertropfen vor einem Hunde, der in den Fluß geht.

Nein, sie nahmen ihm seine Rücksichtslosigkeit auch nicht übel. Er war im Dienst, der Wackere — wie hätte er anders handeln können?

[S. 8]

Er hatte die Ehre — eine unverdiente, ganz gewiß, aber eine unbestrittene —, die verehrungswürdige Gemahlin des fremden weißen Mannes zu fahren, der seit einigen Monaten auf der kleinen Insel wohnte — auf der kleinen Insel, die, einer schönen, alten Sage nach, »Garten des Freundes« hieß.

Von dem Augenblick an, da der fremde weiße Mann mit seiner ehrwürdigen Gemahlin den Fuß an dieses Ufer gesetzt hatte, war Akira ihnen auf den Fersen geblieben — er und noch ein anderer, den Akira unendlich verachtete.

Dieser andere war dem fremden weißen Manne fast gegen die Kniekehlen gefahren, der Zudringliche. Er hatte ihn mit Lächeln und Verbeugungen genötigt, seinen — nur seinen Jinrikisha zu benutzen! Der Ehrwürdige möge geruhen, einzusteigen — er bot ihm den besten Jinrikisha von ganz Nippon und seine elenden Dienste an, und die Götter sollten ihm die Stunde seines Todes vergiften, wenn er nicht bereit war, für den Ehrwürdigen so oft sein Leben einzusetzen, als es ihm belieben würde, das zu verlangen.

Er, Akira, stand daneben und hörte Mosakus Geschwätz mit dem innigen Wunsche, ihm dafür seinen traurigen Jinrikisha in Stücke schlagen zu dürfen. Aber der weiße Mann ließ sich von Mosakus Redesturz überwältigen; er lachte und[S. 9] stieg ein, während die erlauchte Gemahlin in Akiras Wagen Platz nahm.

Als ehrgeizige Nebenbuhler, die sie waren, begannen Mosaku und Akira ein Wettrennen, daß die flachen Strohdeckel auf ihren kahlen Köpfen hüpften und tanzten, daß ihnen der Schweiß in Strömen von Armen und Beinen floß. O, sie wollten schon zeigen, was sie konnten — hai —!

Seit jenem Tage waren Monate verflossen; aber Akira und Mosaku haßten sich noch immer mit der gleichen Inbrunst, bewachten die Schritte der erlauchten Fremden mit den Augen der Gabelweihe und kannten keinen größeren Triumph, als wenn es einem gelang, dem anderen zuvorzukommen und ihm den Stammgast wegzuschnappen, wenn der weiße Mann oder seine ehrwürdige Gemahlin einmal allein gefahren zu werden wünschte.

Beate hatte in den ersten Wochen niemals gewußt, wer von den beiden Gegnern dem anderen durch größere Geschwindigkeit zuvorgekommen war und in schnellstem Trabe mit ihr davonsauste, sobald sie den Fuß aus dem kleinen Boot mit dem Drachensegel ans Land gesetzt hatte. Die japanischen Gesichter erschienen ihr anfangs alle gleich in ihrer gelbbraunen Blässe, den dunklen, ein wenig schrägen Augen über den starken Backenknochen und mit[S. 10] dem höflichen — unverwirrbar höflichen — Lächeln.

Erst allmählich lernte sie die Menschen aus dem Volke herauszuschälen und sich der fremden Seele näherzutasten; und obgleich sie auf den erdumfassenden Reisen mit ihrem Manne die Menschenseele schon in Häuten jeder Färbung verkleidet gesehen, hatte sie doch niemals so sehr das Gefühl des Fremden, gänzlich Unverwandtschaftlichen gehabt wie vor den Vertretern der gelben Rasse.

Sie hatte das englisch-japanische Wörterbuch im Schoße liegen und plagte sich mit den geschmeidigen Zahlen: »Ichi-mai, yo-mai — nein! Ichi-mai, ni-mai, sam-mai, yo-mai, go-mai ... na? ... — roku-mai, shichi-mai ...«

Sie hatte stets ihren Ehrgeiz darein gesetzt, sich mit der Sprache des Landes, in dem sie sich längere Zeit aufzuhalten gedachten, vertraut zu machen.

Als ihr Mann sich um den Residentenposten in Deutsch-Ostafrika bewarb, lernte sie auf Tod und Leben Kisuaheli und liebte diese ritterliche und liedhafte Sprache samt allen Rauheiten ihres arabischen Einschlags. Und als sie so weit war, daß sie dem würdevoll auf der Boma — der Festung — erscheinenden Häuptling des nächsten Dorfes selbst für seinen Ehrenhammel verbindlichst zu danken vermochte und ihn, der[S. 11] die Türe nicht wiederfand, höchstselbst hinauszuwerfen sich unterfing — als sie die kleinen, zwitschernden Liebeslieder ihrer schwarzen Zofe selber singen konnte und die nachdenklichen und neckischen Sprichworte dieser Menschen durchdacht hatte, da war für sie ein Weg gefunden zu der fremden Rasse, den sie gehen konnte, so oft sie die Laune trieb — und sie war ihn oft gegangen.

Denn es lag die angeerbte Würde tausendjährigen Blutes in der Art, wie ihr Ardili, der arabische Diener, die Obstschale mit den grünen Orangen und den roten Bananen darbot, als übe er einen uralten und feierlichen Opferbrauch.

Und es lag die ganze unendliche Sehnsucht derer, die immer wandern, in dem schwermütigen Spruch, mit dem der traumkundige Ibrahim ben Massud sie warnte, vom Wasser des Nils zu trinken.

»Denn wer von diesem Wasser trinkt, Herrin, und geht aus dem Lande, in dem es fließt, der muß wiederkommen, oder die Sehnsucht tötet ihn ...«

Sie liebte diese Ururenkel eines Herrenvolkes, das mit dem Gestampf seiner Herden und dem Gebrüll seiner Kriegshörner die Erde beben gemacht hatte und Paläste baute, um die noch nach tausend Jahren die Kasuarinen[S. 12] ihre wundervoll geschwungenen Zweige anbetend senkten.

Sie liebte sie, wie sie edle Bronzen liebte, Heldensagen und fremdartige Tiere — mit jener beschaulich entzückten, unwachsamen und eben darum etwas hochmütigen Liebe des Genießenden gegenüber dem Geschöpf, das nichts von ihm zu fordern hat.

Aber sie sollte nicht Wurzeln schlagen in der afrikanischen Erde.

Eines Tages kam ihr Mann von einem kurzen Marsch ins Innere des Landes zurück und hatte das Fieber in jedem Blutstropfen. Das beizte ihm das Weiße in den Augen gelb.

Sie schlug sich mit dem Fieber wie eine verwundete Löwin.

Als der Arzt der Station kam, um nach dem Kranken zu sehen, fand er an dessen Bett eine Frau, die sehr entschlossen schien, den Tod, der nach dem flatternden Herzen ihres Mannes greifen wollte, einfach in die Hand zu beißen.

Ja, das wollte sie. Aber der Tod brauchte seine Hände anderweitig und ging davon.

Und als sie das begriffen hatte und ihres Sieges gewiß war, fiel sie um — schlug mit ganzem Leibe zu Boden und hatte ein freundliches und sehr zufriedenes Gesicht dabei.

Als sie wieder aufwachte, saß ihr Mann an ihrem Bette und hatte einen Brief in der Hand;[S. 13] den gab er ihr, als sie wieder vernünftig denken konnte.

Der Brief war vom Gouverneur und lautete:

»Lieber Hoyermann! Jetzt sind Sie so freundlich und kommen um einen sehr langen Erholungsurlaub ein, oder der Teufel holt Sie. Kerle wie Sie kann ich nicht entbehren, wenn es einmal darauf ankommt! Augenblicklich kann ich's. Also, machen Sie, daß Sie fortkommen und verfügen Sie sich in eine Gegend, die fieberfrei ist. Möglichst weit weg von dieser gesegneten Landschaft. Ich habe große Pläne mit Ihnen, lieber Hoyermann. Das wissen Sie. Und ich habe nicht die Absicht, mir diese durch eine so abgeschmackte Lächerlichkeit, wie ein Sumpffieber es ist, zerstören zu lassen. Stellen Sie einstweilen einen tüchtigen Maat auf Ihren Posten und packen Sie schleunigst Ihre Koffer. Grüßen Sie mir Ihre tapfere Frau; ich hoffe, Sie beide bald in Daressalam zu begrüßen ...«

Und sie hatten die Koffer gepackt.

Nicht gern — o nein! nicht gern ... Aber es war ja kein Abschied auf immer. Sie würden wiederkommen, ganz gewiß ...

Und auf der Heimfahrt hatten sie Pläne geschmiedet, hatten mit halbem Leibe über sämtlichen Länder- und Meerkarten der Erde gelegen und den Globus vor sich um seine Pole tanzen lassen.

[S. 14]

Sie wollten die Zeit, die ihnen pflichtenlos gehörte, ausnutzen — die Erde kennenlernen und ihre Menschen zwischen Norden und Süden.

Nach kurzem Aufenthalt in der Heimat hatten sie sich in Hamburg eingeschifft und waren zu den Jagdgründen der Rothäute gefahren.

Sie waren durchaus nicht gesonnen, sich als gesittete Mitteleuropäer zu benehmen, die sich verfrachten lassen wie jedes beliebige und genügend frankierte Eilgut. Sie ließen sich durchaus keine Ratschläge erteilen und beleidigten alle wohlmeinenden Mitreisenden tödlich durch gänzliche Verachtung ihrer ausgekochten und auf Flaschen gezogenen Erfahrungen.

Einige Jahre unter afrikanischer Sonne stärken das Selbstbewußtsein; und wenn man es über sich gewann, innerhalb der ersten zehn Wochen über dieses und jenes nicht tobsüchtig zu werden, dann verläßt man den schwarzen Erdteil als ein Mensch, der für das Wort »unüberwindliche Schwierigkeiten« nur ein mildes Erstaunen übrighat.

Gerhard Hoyermann kannte Neuyork und verwahrte sich entschieden gegen die Zumutung, länger dort zu bleiben, als man unbedingt braucht, um sich für eine Reise, wie er und seine Frau sie vorhatten, auszurüsten.

Er war bereit, sich mit jedem Yankee, der sich durch seine Meinung auf die U.S.A.-Hühneraugen[S. 15] getreten fühlte, ihretwegen zu boxen, bis der Yankee blau war — aber er fand Neuyork von einer märchenhaften Scheußlichkeit und wollte seinem Schöpfer danken, wenn er es hinter sich hatte.

Gewiß, dreißig- bis fünfzigstöckige Häuser mochten ihre Vorzüge haben; aber leider nicht für ihn. Er fand, daß sie das Gleichgewicht der Erde störten.

Auch war es gewiß für Leute, die es eilig hatten, in die Stampfmühle des Lebens zu kommen, von großem Vorteil, daß die L-Züge alle zwei Minuten vorbeirasten und daß die Untergrundbahnen wie von sechzigtausend Teufeln der Djehennah besessen aus der Tiefe auftauchten, um mit einem Geheul, als seien sie selbst deswegen verzweifelt, nach anderthalb Sekunden wieder in ihr zu verschwinden. Aber er, Gott sei Dank, hatte es nicht eilig. Und seine Frau auch nicht, nein!

Sie fraßen ihr Leben nicht — sie verspeisten es, zierlich und gründlich, mit großem Appetit — und tranken seine höchsten Genüsse als edlen Wein aus sehr schön geschliffenen Gläsern.

Was sollten sie in einer Stadt, die beständig im Galopp hinter sich selbst herrast und bei dem Tanz ums goldene Kalb alle zehn Gebote und auch das elfte zerbricht, das da lautet: »Du sollst glücklich sein!«

[S. 16]

Gerhard Hoyermann wollte nach dem Wilden Westen, erklärte er. Er wollte die »bloody grounds« aufsuchen, in denen Winnetou, der rote Gentleman, mit seiner Silberbüchse und seinem famosen Rapphengst ...

»Beate, wie hieß der Gaul?«

»Iltschi — der Wind!« jauchzte Frau Beate.

Schön ... Also wo er mit dem Iltschi spazierengeritten war und den verfluchten Komantschen das Leben sauer gemacht hatte.

Er, Gerhard Hoyermann, bestand darauf, einen Grislybären zu jagen und sich dessen Tatzen am Lagerfeuer selbst zu braten. Er wollte nach Nuggets graben und mit irgendeinem schweigsamen Bronzekopf unter den Federn des Kriegsadlers eine Pfeife der Freundschaft rauchen — das wollte er!

Und wenn er Lust bekam, von den Rocky Mountains im Norden bis zu den Kordilleren im Süden einen Spaziergang zu machen, dann machte er ihn — howgh!

»Und Ihre Frau —?!«

»Meine Frau —?!«

In Gerhard Hoyermanns Augen lachten die Lichter und tanzten.

»Meine Frau — die geht mit! Was, Beate —?!«

Und er hatte ihr seine Tatze hingestreckt und nach der ihren gepackt, die eilig und freudig zu[S. 17] ihm gelaufen kam, und sie hatten sich angelacht — hoho! Dröhnend konnte Gerhard Hoyermann lachen! Und sie jauchzte dazwischen ... Natürlich ging sie mit! Was war da weiter dabei —?

In allen ihren Adern sprang das rote, brausende Blut ihres Glücks, das ein seliges Gemisch war von Rausch und Erkenntnis, von aller Heiligkeit des Kinderglaubens an morgen, von wissendem Besitzergreifen zweier Seelen, die Ehrfurcht voreinander haben, von dem staunenden Sichweitertasten, Hand in Hand, in ein Meer von Licht hinein.

Sie hatten zwischen Spiel und Ernst manchen hartatmenden Kampf gekämpft und sich ganz nahe, Eisenschädel gegen Eisenschädel, in die blaublitzenden Augen gehaßt. Bis sie erkannt hatten, daß sie Schulter an Schulter viel weiter kamen als Stirn an Stirn.

Nun liebten sie sich um dieser Erkenntnis willen und gingen in die Welt hinein, um sich die Welt zu erobern.

Mit dem »Wilden Westen« fingen sie an.

Die »bloody grounds« waren leider geschlossen. Wegen mangelnder Betriebsbeteiligung. Einen Grisly zu schießen, war nicht ratsam, da diese lieben Tiere in gleicher Heiligkeit und Unverletzlichkeit im Yellowstonepark lebten wie die Katzen im alten Ägypten. Gerhard sah die Zweckmäßigkeit dieser Heiligsprechung ein[S. 18] und bedauerte nur, daß er sich nicht an den Mormonen schadlos halten konnte.

Sie fanden auch Indianer; aber die meisten waren dem Tomahawk entfremdet und fuhren Automobil. Gerhard meinte, richtige Indianer könnte man augenscheinlich nur noch von Hagenbeck geliefert bekommen. Aber er hatte es sich in den Kopf gesetzt, dessen Quelle aufzuspüren. Und das gelang ihm auch.

Eines Tages begegnete ihnen ein Trupp jener armseligen Überreste, deren Ahnen Tempel und Städte aus Gold gebaut hatten. Und sie betrachteten die fremden bleichen Menschen, während sie stumm an ihnen vorübergingen, mit jenem tragischen Blick schwermütigen Stumpfsinns, den sterbende Tiere haben.

»Ein Glück,« sagte Gerhard, während er ihnen nachsah, »daß nicht die Deutschen schuld am Untergang der roten Rasse sind. Wir gingen kurz nach ihnen drauf am schlechten Gewissen ... Pfui Deibel!«

Beate verstand ihn recht gut. Diese roten Menschen, die nicht klug genug gewesen waren, sich mit ihren Bezwingern rechtzeitig auf den Händlerstandpunkt zu stellen, waren ganz umwoben von der Romantik, die aus ihrem Untergang eine Dichtung machte. Ihre Zeit war vorbei, und sie starben. Und die deutschen Jungens spielten Indianer, was keinem anderen Jungen[S. 19] irgendeines anderen Volkes eingefallen wäre. Sie stellten in ihren Spielen, in denen die Indianer selbstverständlich Sieger blieben, das Gleichgewicht verletzter Rechte wieder her. Und von diesen Jungensspielen ein kindischer und herber Hauch war dem Manne geblieben.

Sie hatten beide, als sie das Land der Untergehenden verließen, das Gefühl, daß zwischen den Weißen und den Rothäutigen die gleiche Kluft sich breitete wie zwischen Menschen am Ufer und denen auf davonfahrendem Schiff. Sie waren zurückgeblieben, die Roten, seit reichlichen Jahrhunderten. Sie zählten nicht mehr mit — waren Steine in einer Sammlung; Schaustücke. Altertümer.

Und nun die Gelben ...

So oft Beate über die gelben Menschen nachdachte, kam sie nach längerer oder kürzerer Zeit ganz gewiß an eine Mauer, die sich rechts und links unabsehbar dehnte und anscheinend kein Tor besaß.

Zur Zeit der Pflaumenblüte waren sie herübergekommen und hatten über der Bucht von Kioto den Berg gesehen, der jener Göttin heilig ist, die die Bäume blühen macht. In einem fremden und kühlen Blau hatte er sich aufgereckt, wolkenlos, ohne Nebel, mit dem Strahlenkranze aus Schnee — ein günstiges Zeichen für die Ankommenden. Denn es gilt als eine üble[S. 20] Vorbedeutung, wenn der Reisende, der Japan betritt, den Fujiyama verschleiert sieht.

Und sie hatten das Märchen der Kirschblüte miterlebt und staunend vor dem inbrünstigen Entzücken eines ganzen Volkes gestanden, dem sich in einem rosenrot blühenden Zweige alle Mysterien der Schönheit zu offenbaren scheinen.

Die Päonien hatten geblüht und die Schwertlilien und die Lotos ...

Und sie standen noch immer an einer Mauer ohne Tor.

Woran lag das?

Beate hatte das Buch in ihrem Schoße schon längst zugeklappt und blickte mit ihren trinkenden Augen auf alle Bilder am Wege.

Zu beiden Seiten der Straße graue, niedrige Häuser, unwahrscheinlich dünn und zerbrechlich, wie zur Schau für eine Stunde aufgebaut. Die Papierwände nach der Straße zu waren zurückgeschoben, denn der Tag war still und heiß. Alle Pulse des Lebens schienen bloßzuliegen, daß man den Schlag des Blutes beobachten konnte.

Altertumshändler hockten in ihren Läden, die Tonpfeife im Munde, das Kohlenbecken neben sich, rund umgeben von verwirrenden Köstlichkeiten und atemraubendem Schund, mit dem eine fruchtbare Industrie das junge Japan gesegnet hat.

[S. 21]

Beate überlegte, ob sie aussteigen sollte, um eine Stunde in solch einem Laden zu vertrödeln. Sie konnte es ohne Gefahr tun. Akira lief ihr nicht davon. Wenn es ihr beliebt hätte, bis zum Sonnenuntergang vor einem holdseligen Kakemono oder einem schwarzen Lackkästchen mit goldenen Fischen, die durch einen Wasserfall springen, in Andacht zu stehen, sich an der kühlen Schwere eines seidenen Kimonos zu entzücken, in dessen prunkendes Rot silberne Sperlinge gestickt waren, oder eines von jenen winzigen Spielzeugen zu versuchen, die so einfach und spitzfindig zugleich waren wie eine Scherzfrage — sie hätte gewiß sein dürfen, daß Akira nach Stunden geduldigen Wartens sie mit der gleichen begeisterten Verbeugung und dem gleichen sanften Lächeln aufgefordert hätte, in seinem Jinrikisha wieder Platz zu nehmen, als wenn sie nur zehn Minuten auf sich hätte warten lassen.

Und wenn sie nach Stunden des eifrigsten Herumkramens in allen Winkeln eines Ladens dennoch nichts gefunden hätte, das sie zu erwerben wünschte, so würde sie der Besitzer all der verschmähten Herrlichkeiten ebenso höflich und wortlos lächelnd haben hinausgehen lassen, wie er sie eintreten ließ, ohne den geringsten Versuch zu machen, ihr etwas aufzuschwatzen, oder sie zum Wiederkommen aufzufordern.

[S. 22]

Aber sie ließ den Plan fallen, weil es ihr Mühe gemacht hätte, sich von ihren grübelnden Gedanken loszureißen, die sich mit forschendem Eifer und ein wenig beschämter Traurigkeit der rätselhaften Fremdheit dieses Volkes nähertasten wollten.

Da draußen jagte die Eisenbahn durch die Reisfelder, in deren unbedingt bejahendem Grün Männer und Weiber arbeiteten, in den weiten, von Kanälen durchzogenen Feldern der Ebene wie in den schachbrettgroßen Fleckchen, die sich die kargeren Hügel erobert hatten.

Über den flachen Dächern der grauen, demütigen Häuser reckten sich die Telegraphenstangen und waren von einer sinnverwirrenden Fülle, ohne daß sie eigentlich gestört hätten.

Das war Amerika und Europa, die sich in Japan kühl-höflich eine Verbeugung machten, ganz ohne jenes verbindliche Lächeln, das ein Teil von der Seele dieses merkwürdigen Landes zu sein schien.

Aber Amerika und Europa sollten sich nicht einbilden, daß sie jemals dieses Land für sich erobern könnten — o nein!

Es schien, daß man Eisenbahnen und Telegraphenstangen brauchte, um Schritt zu halten. Also baute man Eisenbahnen und pflanzte über den wimmelnden Gassen der Städte Telegraphenstangen auf. Im übrigen blieb man[S. 23] Japan ... Die Missionare sämtlicher christlichen Kirchen bekamen die Gelbsucht und wurden schwermütig angesichts der sanftlächelnden Unbeirrbarkeit eines Glaubens, dem nicht beizukommen war.

Die Löwen des Shinto hielten gute Wacht vor tausendjährigen Tempeln.

Diese Tempel liebte Beate vor allen Dingen in Japan am meisten. Und zu ihrem Lieblingstempel war sie jetzt auf dem Weg.

Er war nicht eben einfach. Akira mußte seine ganze Geschicklichkeit aufwenden, um nicht in einem Gewühl fliegender Händler mit den wippenden Bambusstangen auf der Schulter steckenzubleiben, nicht mit einem Rudel seiner Kastengenossen Skandal zu bekommen — einen höflich lächelnden Skandal, selbstverständlich, aber nichtsdestoweniger einen ausdrücklichen —, weil er ihr kleines Zelt an der Straßenecke um ein Haar überrannt hätte.

Dieses kleine, braungelbe Volk schien ewig in Eile zu sein. Es sauste auf seinen Stelzenschuhen in heiterster Geschäftigkeit durch die Straßen, lächelte, verbeugte sich, bahnte sich mit einer wunderlichen schiffenden Bewegung der vorgehaltenen Hand Wege durch die Menge, mit denen eine Katze nicht zufrieden gewesen wäre. Jeder schien den anderen um Entschuldigung zu bitten, daß sein Geschäft ihn[S. 24] nötigte, etwas Platz für sich zu beanspruchen.

Beate dachte, wie wohl »Himmelkreuzdonnerwetter!« auf japanisch heißen würde. Aber sie vermutete, daß es dafür keine Bezeichnung gab. Überhaupt keine in dieser Richtung. Eigentlich war das ein Mangel ...

Hai —! Nun hatten sie die kribbelnden Straßen hinter sich. Die fremdartige, aber nicht unschöne Melodie der tausend klappernden Holzsandalen wurde leiser und leiser, verstummte endlich ganz. Akira keuchte; es ging hügelan. Aber Beate hatte es schon lange aufgegeben, dem Kuli zuzureden, daß er Schritt fahren möge. Auch ein Jinrikishakuli hat seine Gesetze. Deren oberstes ist, daß er Trab läuft, bis er am Ziele ist oder bis ihn der Schlag trifft und ihn von jeder Verantwortlichkeit entbindet.

Vor einem uralten wunderschönen Torii machte er halt und forderte die Verehrungswürdige mit einem milden Lächeln auf dem schweißtriefenden Gesicht auf, sich zu erheben. Beate verließ den Jinrikisha; Akira verfügte sich in den Schatten und hockte sich auf die Steine neben dem Torii. Er würde hier einige Dutzend Pfeifen rauchen und warten ...

Beate durchwanderte den kleinen Vorhof, in dem nur ein paar steinerne Votivlaternen standen und eine ganz verwitterte steinerne[S. 25] Göttin, nicht größer als ein Kind. Sie drückte die eine Hand mit einer ekstatischen Gebärde an ihre linke Brust und hielt die andere schmal und offen aufgerichtet den Betenden entgegen. Ihr Gesicht war von unendlicher Ruhe erfüllt und lächelte aus halbgeschlossenen Lidern.

Beate nickte ihr zu; sie kannten sich schon und hatten Zuneigung füreinander.

Als sie den kleinen Vorhof verließ und im Begriff stand, die schmale Steintreppe hinaufzusteigen, die zum Gipfel des Hügels führte, begegnete ihr ein Mann; ein Japaner. Er war kein Priester und schien auch nicht der dienenden Klasse anzugehören. Er grüßte die weiße Frau ehrerbietig; um den farblosen Mund und in den glänzenden Jetaugen stand das sanfteste Lächeln Nippons, als er ihr Platz machte und mit seiner Verbeugung um Verzeihung zu bitten schien, daß seine Gegenwart die Schritte der Fremden belästigte.

Unwillkürlich sah Beate sich um, als sie ein paar Stufen erstiegen hatte. Sie begegnete dem aufmerksamen Blick des Japaners, der ihr nachschaute. Vielleicht hatte sie sich auch getäuscht. Er rief etwas in seiner gutturalen Sprache, das ihr nicht galt, denn eine Stimme antwortete von oben. Dann ging er und verschwand im Hofe.

Was ging es sie an —?

[S. 26]

Ein kleiner Hain von düsteren, wunderlich zerfetzt aussehenden Fichtenbäumen nahm sie auf. Er schloß sich wie ein schwerer Mantel um die Spitze des Hügels und um den Tempel, den er hütete.

In diesem Tempel wohnte sie — Kwan-on, die milde Göttin, die große Barmherzigkeit, die auf den ewig seligen Frieden ihrer Göttlichkeit verzichtete, um den Menschen zu helfen.

Hier wohnte sie, zu der die Betenden flehen und gewiß sind, Erhörung zu finden. Der volle Mond ist die Aureole ihres unendlich gütigen Hauptes. In der erhabenen Ruhe ihres Lächelns thront sie über den Weihrauchwolken — sie, deren Lobpreisung sich nicht genugtun kann in köstlichen Worten: »O du Strahlengleiche, die du das Licht über die Erde ausgießest! O du fleckenlos Reine! O du mit deinen schönen Augen! ...«

Aber es war nicht um der Göttin willen, daß Beate zu diesem Tempel kam. Sie wollte das Meer sehen. Das Meer von Japan, in dem die kleinen Inseln liegen, wie Schmuckstücke, von Kindern verstreut.

Sie setzte sich unter einen Fichtenbaum, der, von den Genossen abgesondert, einsam und spröde zuhöchst auf dem Hügel stand und so wirkte, als könne er nirgends sonst in der Welt stehen — faltete die Hände über dem Knie und träumte.

[S. 27]

Gerade unter ihr, von der Flut umspült, lag ihre Insel, der schöne »Garten des Freundes«. Zur Zeit der Ebbe konnte sie zu Fuß über den schmeichlerischen Sand gelangen. Jetzt schossen die flinken winzigen Ruderboote über die glatte See; die wunderlichen Segler, die wie schwimmende Drachen aussahen, warfen sich in die Brust.

Sehr weit draußen, dem bloßen Auge gerade noch erkenntlich, lag ein Dampfer scheinbar ruhend auf dem Meer.

Er schien es nicht eilig zu haben.

Von irgendwo her erklang das leise rufende Händeklatschen betender Priester. Die Gottheiten hatten viele Wohnungen in Nippon. Und wenn Gebete und Anrufungen sich in goldene Fäden verwandeln würden, müßte über den Inseln des Ostens ein Netz aus Gold schweben, das den erhabenen Buddha preist: »Namu Amida Butsu ...«

Beate rieb sich die Stirn; sie mühte sich, ein kleines japanisches Kinderlied, das sie gestern gelernt, in ihr Gedächtnis zurückzurufen. Aber es entschlüpfte ihr immer wieder. Und als sie ihr Buch zu Rate ziehen wollte, hörte sie Schritte hinter sich und wußte sofort, wem sie gehörten.

Sie war auf einen stürmischen Überfall gefaßt und bereitete sich vor, ihm würdig zu begegnen; er blieb aber aus.

[S. 28]

Sie drehte sich um und sah ihrem Manne ins Gesicht. Das zeigte eine wunderliche Mischung von Grimm und Belustigtsein.

Vor den Augen seiner Frau schwand der Grimm, und sie begrüßten sich, wie es ihre Gewohnheit war, solange der Himmel blau schien.

»Tag, Löwin!«

»Tag, Bär!«

Dann rieben sie ernsthaft die Nasen aneinander — nach Gerhards Behauptung eine durchaus asiatische Sitte, die nicht ohne Reiz war —, gaben sich einen europäischen Kuß und nickten sich befriedigt zu.

Beate sagte nichts. Sie wußte ganz genau, daß jetzt eine Explosion irgendwelcher Art erfolgen würde.

Gerhard warf sich neben ihr auf den Rücken, kreuzte die Arme unter dem Nacken und fragte: »Weißt du, was das Neueste ist?«

»Nein.«

»Wir stehen unter polizeilicher Bewachung!«

»Ach nee!« sagte Beate sehr begeistert. »Wie kommst du darauf?«

»Soll ein Nilpferd nicht darauf kommen, wenn ihm vom ersten bis zum letzten Schritt in diesem gesegneten Lande ein Kerl auf den Fersen klebt, der gar nichts da verloren hat! In den ersten Tagen habe ich überhaupt nichts gemerkt. Dann glaubte ich, ich hätte mich getäuscht.[S. 29] Schließlich wurde ich aufmerksam und knöpfte Augen und Ohren gehörig in Sperrweite ... Bei Gott, Beate, man lauert uns auf!«

»Aber weshalb um alles in der Welt?«

»Weiß der Teufel! Tatsache ist, daß ich keinen Fuß rühren kann, ohne daß ich an irgendeiner Ecke einen finde, der auf mich aufpaßt, als wäre ich der japanische Staatsschatz auf Urlaub. Und ich sollte mich sehr wundern, wenn nicht auch deine Schritte sehr genau bewacht würden.«

»Na wenn schon!« meinte Beate in vollkommener Heiterkeit. »Laß ihnen doch das Vergnügen ... Wir sehen beide etwas zu wenig japanisch aus, um in Gefahr zu geraten, für eingeborene Verbrecher gehalten zu werden, die man möglicherweise inbrünstig sucht, um sie dem Gott der Unterwelt in den Rachen zu werfen.«

»Im Gegenteil,« sagte Gerhard. »Wir sehen drei Meilen gegen den Wind so aus, daß die höfliche Bande da unten uns zu Ehren die ›Wacht am Rhein‹ singen würde, wenn sie dazu imstande wäre. Und vielleicht sind wir ihnen gerade deshalb noch viel interessanter, als wenn wir eingeborene mehrfache Raubmörder wären.«

»Bär,« sagte die Frau und fuhr ihm in die Haare, »du hast Halluzinationen!«

[S. 30]

»Wenn du Mut hast, dann behauptest du jetzt noch, daß ich für gewöhnlich darunter leide!«

»Nein, den Mut hab' ich nicht ...«

»Das ist auch dein Glück, Löwin.«

»Aber sonst«, fuhr Beate fort, »wird es mir daran nicht fehlen, und darauf möchte ich dich noch einmal ausdrücklich aufmerksam gemacht haben, Bär — falls du glaubst, mir etwas Wichtiges grammweise beibringen zu müssen. Kannst es mir alles auf einmal versetzen. Ich vertrag' schon einen Puff ...«

»Das weiß ich. Ich hab' auch gar nicht die Absicht, homöopathisch vorzugehen ... Die ganze Geschichte beruht darauf, daß die Bande irgendwie erfahren haben muß, daß ich deutscher Offizier gewesen bin — zuerst im Heer, dann in der Schutztruppe. Und daß sie jetzt etwas sehr Geheimnisvolles hinter der Tatsache vermuten, daß ich mir erlaube, ganz einfach als Gerhard Hoyermann mit Frau aus Berlin an der Spree hier in Japan spazierenzugehen.«

»Herrje!« sagte Beate. »Vermuten sie vielleicht in Tokio, daß du ein Spion in kaiserlich deutschen Diensten seist?«

»Du hast die Tokioter Vermutungen jedenfalls auf die einfachste Formel gebracht, Löwin,« sagte Gerhard Hoyermann.

Beate sah ihn ungläubig an. Aber er scherzte nicht. Wirklich nicht.

[S. 31]

»Das ist ja phänomenal albern!« sagte sie.

»Nicht so sehr, wie du denkst,« meinte Gerhard Hoyermann nachdenklich und sah in den Himmel hinauf. »Bekanntlich sind diejenigen, die selbst hinterm Ofen zu sitzen pflegen, sehr rasch zu der Annahme bereit, auch andere könnten eine Vorliebe für diesen Platz entwickeln.«

»Nun —?«

»Nun — es war einmal eine Festung, die hieß, wenn ich mich nicht irre, Port Arthur ... in der gab es keine Scheuerfrau, keinen Briefträger und kein Waschweib, die nicht im Hauptberuf japanische Offiziere gewesen wären ...«

»Im Kriege —!«

»Im Frieden.«

Beate dachte nach. Sie hatte das Kinn in die Hände und die Ellbogen auf die Knie gestemmt und sah mit verschnürten Brauen aufs Meer hinaus.

»Und wenn du Recht hast — was dann?« fragte sie nach einer Weile.

»Dann — dürfte es immerhin von Vorteil sein, sich nicht allzu fest auf das verbindliche Lächeln der gelben Bande zu verlassen,« meinte Gerhard Hoyermann. »Schließlich sind wir nicht in dieses allerliebste Ländchen gekommen, um den Rest unseres Urlaubs in getrennten Zellen irgendeines Untersuchungsgefängnisses zu beschließen.«

[S. 32]

»Ohne jeden Grund —?!«

»O, wenn man uns erst mal hat, wird man den Grund schon dazu finden,« sagte Gerhard Hoyermann phlegmatisch. »Auch bin ich fest davon überzeugt, daß die Sicherheitsorgane, die uns unter ihre Obhut nehmen würden, es mit dem zuvorkommendsten Lächeln von der Welt täten und daß man sich, wenn unsere gänzliche Harmlosigkeit erwiesen wäre, in Entschuldigungen und Sympathiekundgebungen ergehen würde, die ein Pferd nur mühsam aushalten könnte, die einen Menschen aber vollkommen blödsinnig machen würden. Dann, bitte, beschwere dich! — Der Kerl, der dich verhaftet hat, wird außer sich sein, daß er dich belästigen mußte — er wird den Tag seiner Geburt verfluchen, weil er gezwungen war, dir Ungelegenheiten zu bereiten. Er wird lächeln und sich verneigen, wenn du ihm so klar als möglich zu machen suchst, daß diese Wirtschaft in seinem gottverlassenen Nippon eine riesengroße Schweinerei sei und daß deinetwegen das ganze Inselreich in den Mond gesprengt werden könnte ... Aber deine Wochen Haft hast du weg. Und wenn du aus dem Hafen von Kobe abfährst, wirst du die Entdeckung machen, daß sich mit dem letzten Boot, das dein Schiff verläßt, ein Schatten von deinen Füßen gelöst hat, der eine verdammte Ähnlichkeit mit einem Geheimpolizisten besitzt. Und höchstwahrscheinlich[S. 33] wird er dich noch vom Boote aus verbindlich lächelnd grüßen ...«

»Ich hoffe, daß du eines schönen Tages Ursache haben wirst, unseren augenblicklichen Gastgebern deine düsteren Vermutungen abzubitten,« sagte Beate nicht sehr zuversichtlich.

»Das hoffe ich auch,« antwortete Gerhard Hoyermann. »Zur Sicherheit möchte ich dich aber trotzdem bitten, geliebte Frau, nicht mehr allein in dieser reizvollen Landschaft herumzufahren. Denn wenn dir irgend etwas geschähe, so würde ich, beim Barte des Propheten! nicht schüchtern sein in der Wahl meiner Mittel, um mir Genugtuung zu verschaffen, und wenn ich den Minister des Äußeren eigenhändig verprügeln müßte. Immerhin ist es besser, wenn das nicht notwendig wird.«

»Vielleicht schonst du dein Organ ein bißchen,« meinte Beate. »Es könnte ja möglicherweise geschehen, daß irgendwo und irgendwann eine Prügelei zwischen Gott weiß wem ausbricht; nachher bist du's gewesen. Außerdem fahre ich nicht mehr allein. Ich bin gar nicht versessen darauf, eine politisch verdächtige Persönlichkeit zu werden. Der Ruhm, deine Frau zu sein, genügt meinem Ehrgeiz durchaus.«

»Gott segne diesen Standpunkt!« sagte Gerhard Hoyermann. »Er gibt mir meine gute Laune wieder. Und wenn du nichts dagegen[S. 34] hast, lassen wir Akira und Mosaku ein Wettrennen veranstalten, wer uns am schnellsten nach dem nächsten Theater fährt! Ich habe Sehnsucht danach, drachenmäulige Teufel, verhexte Katzen und waffenklirrende Samurais zu sehen. Vorwärts, Frau Beate!«

Als sie am Tempel der Göttin »mit den schönen Augen« vorübergingen, sahen sie einen Betenden vor dem goldschimmernden Standbild der milden Göttin Kwan-on.

Er lag auf den Knien und hatte das Gesicht zwischen die flachen Hände auf den Sockel der Statue gelegt.

Das Antlitz der Göttin hing über ihm, von der Gloriole des runden Mondes umgeben. Der feierliche Frieden derer, die nichts wünschen, leuchtete auf ihrer Stirn.

»War der Mensch schon hier, als du kamst?« fragte Gerhard unterdrückten Tones, während sie durch den Fichtenhain nach der Steintreppe gingen.

»Nein. Wenigstens habe ich ihn nicht bemerkt.«

»Eine verwünscht günstige Stellung, um sein Gesicht nicht sehen zu lassen,« murmelte Gerhard Hoyermann, indem er rückwärts schaute.

»Hältst du den Mann für den Minister des Äußeren?« fragte Beate und zog ihn hinter sich drein.

[S. 35]

»Man kann nie wissen, was ein Japaner im Nebenberuf ist,« antwortete ihr Mann. »Und du wirst mir schon erlauben müssen, meine hochgemute Löwin, daß ich meine Augen schön fleißig spazierenführe.«

Beate blieb stehen, am Fuß der Treppe, die auf den Vorhof mündete.

»Bis jetzt haben wir gescherzt —« meinte sie.

»Ich nicht, Beate ...«

»Du glaubst, daß man uns aus ernsthaften Beweggründen — beobachtet —?«

»Ich bin überzeugt davon.«

Beate zog die Lippen zwischen die Zähne.

»Und was gedenkst du zu tun?« fragte sie dann und sah zu ihrem Manne auf.

Gerhard Hoyermann lächelte und zog den Arm seiner Frau an sich.

»Zunächst fahren wir ins Theater, liebste Frau, und freuen uns an dem Japan, das nicht mehr ist. Und dann — vielleicht — werden wir im ›Garten des Freundes‹ Kriegsrat halten ... mit Tystendal, wenn ich ihn auftreiben kann. Das ist, außer uns beiden, der vernünftigste Mensch, den ich kenne, und seine hellen Schwedenaugen können uns von großem Nutzen sein.«

Beate fragte nicht weiter. Sie nahmen in ihren Jinrikishas Platz und hatten es nicht nötig, die Kulis zur Eile anzutreiben. Akira und Mosaku liefen wie die Irrsinnigen, versuchten[S. 36] beständig sich zu überholen und knirschten einander mit freundlich grinsenden Zähnen an, wenn sie Seite an Seite trabten.

Trotz ihrer Eile erreichten sie die Stadt nicht vor der Dämmerung.

Beate sah zum Himmel empor, dessen merkwürdige Beleuchtung ihr auffiel. Er war nicht blau, sondern gelb. Sie hatte Färbungen der Luft wie diese nur noch in der ägyptischen Wüste gesehen, ehe der Khamsin ausbrach. Die Sonne, die hinter den Inseln ins Meer sank, schien durch den rötlichgelben Dunst einem grausigen Schicksal entgegenzuwirbeln. Als sie verschwunden war, wurde der Himmel braun.

Vielleicht, daß ein Gewitter kommt, dachte Beate. Und sie erinnerte sich der afrikanischen Gewitter, die keinen Donner und keine Blitze kannten, sondern ein vom Himmel niederstürzendes Wassermeer waren, das in Flammen stand und brüllte.

Sie kannte die Tage und Nächte Japans nur, wenn sie lächelten, und freute sich auf ihren Groll.

In den Straßen brannten die Laternen und hingen in der dunstigen Luft, als schwebten sie frei darin — ein lose gereihtes, tausendfaches Geschmeide der Dunkelheit. Über das weiße Papier krochen die tausendjährigen chinesischen Schriftzeichen, samtschwarz und verwirrend.

[S. 37]

Vor den Theatern, die eine ganze Straße für sich in Anspruch nahmen, glühten die Laternen rot.

Beate und Gerhard verzichteten darauf, sich Shakespeares »Sommernachtstraum« oder Goethes »Faust« in japanischer Ausgabe anzusehen. Sie suchten das alte Japan mit seinen starrenden Ritterrüstungen, seinen Fratzen und seinen Wundern.

Im Vorraum des Theaters, vor dem Akira und Mosaku einmütig innehielten, standen Hunderte von kleinen und großen Holzsandalen. Die Fremden zogen ihre Schuhe aus und fühlten die weichen Matten glatt und reinlich unter ihren Sohlen. Ein uralter Japaner führte sie die Treppe hinauf und schob die Rückwand eines kleinen Käfigs beiseite, mit einer tiefen Verbeugung die verehrten Besucher einladend, darin Platz zu nehmen.

Gerhard und Beate kamen der Aufforderung nach mit dem Gefühl, in eine Welt zu treten, die weiter von ihren Seelen entfernt lag, als Ostasien von Westeuropa liegt. Aber sie kamen ohne Maßstab und wollten genießen. Es schadete nichts, daß ihnen die rauhen und dumpfen Kehllaute der japanischen Schauspieler unverständlich blieben. Was sie sahen, war fremd; aber es wurde auch von dem schwarzen und goldenen Gürtel umspannt, der[S. 38] alles, was Menschenblut in den Adern hat, umrundet.

Rechts und links der Bühne, in kleinen, versteckenden Bambushainen, saßen die Musikanten, die einen Lärm vollführten, als wollten sie das Jüngste Gericht herbeirufen. Ein Verbrechen war geschehen. Auf der Bühne lag eine Frau in ihrem Blut, das träge aus ihrer durchschnittenen Kehle sickerte. Und ihr Mörder entkam mit dem Schmuck der schönen Tänzerin. Über den »Blumenweg« schlich er davon, der von der Bühne aus über die Köpfe der Zuschauer hinweg ins Unbekannte führte.

Die Zuschauer murrten; sie waren unzufrieden damit, daß der Schuldige entkam. Die Samisenen zirpten und schrillten wie hunderttausend Zikaden. Die kleinen Trommeln bebten vor Entrüstung.

Beate, von der Unmittelbarkeit und Kraft dieser Darstellung und ihres Eindrucks gleichermaßen gefangengenommen, suchte mit ihrer Linken die Hand ihres Mannes. Sie spürte seinen Gegendruck und wollte sich mit einer Frage an ihn wenden, als die Rückwand ihres kleinen Käfigs abermals beiseitegeschoben wurde und ein Mann eintrat. Ein Europäer.

Es war der Schwede Tystendal.

»Guten Abend!« grüßte er gedämpft, beugte[S. 39] sich über Beates Hand und drückte Gerhards Rechte.

Hoyermann betrachtete das Gesicht seines Freundes aufmerksam.

»Freut mich, daß wir uns hier treffen,« meinte er. »Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen und hatte die Absicht, Sie heute noch aufzusuchen.«

»Es ist kein Zufall, daß ich Sie hier finde,« antwortete Tystendal, ohne Platz zu nehmen. »Ich war bei Ihnen auf der Insel und hörte, daß Sie in die Stadt gefahren seien, entdeckte Ihre beiden famosen Kampfhähne vor dieser Türe und kam herauf.«

»Wollten Sie uns nur einen freundnachbarlichen Besuch machen — oder kamen Sie aus besonderem Anlaß?« fragte Hoyermann.

»Aus einem erschütternden und schwerwiegenden Anlaß,« sagte der Schwede. »Sie wissen noch nichts davon, sonst wären Sie wohl nicht hier ... Der österreichische Thronfolger und seine Gemahlin sind in Bosnien von serbischen Anarchisten ermordet worden ...«

»Herrgott —!« sagte Gerhard Hoyermann fast laut. Beate brachte keinen Ton über die Lippen. Sie war so weiß im Gesicht, daß es aussah, als müsse sie ohnmächtig werden. Eine Minute lang machte keiner der drei Menschen eine Bewegung.

[S. 40]

Dann stand Gerhard Hoyermann auf und packte Beate bei der Hand.

»Komm!« sagte er und ging hinter Tystendal aus der Loge.

Auf dem Wege nach der Insel konnten sie nicht miteinander sprechen. Aber ihre Gedanken gingen die gleichen Wege.

Beate fühlte, ohne sich Rechenschaft über die Ursache geben zu können, daß hinter dieser Botschaft und der Art, wie Tystendal sie ihnen überbracht, mehr verborgen lag als die einfach menschliche Teilnahme an einem Unglück, das zwei Menschen und deren Angehörige getroffen, mehr als der natürliche Abscheu gegen ein Verbrechen, dessen Beweggrund in Fanatismus wurzelte.

Zum ersten Male, seit sie Europa verlassen, spürte sie die ungeheure räumliche Entfernung von der Heimat als etwas Beklemmendes.

»Wir wollen nach Hause,« dachte sie. Und sie sprach es auch aus, als sie neben ihrem Manne im Boot saß und zur Insel hinüberfuhr.

»Es ist sehr möglich, daß Sie die Heimreise beschleunigen müssen,« sagte Tystendal.

Beate sah den beiden Männern ins Gesicht. Sie waren sehr ernst, und um Gerhard Hoyermanns Mund lag jener Zug der Entschlossenheit, um dessentwillen der Gouverneur von Ostafrika große Pläne mit ihm hatte.

[S. 41]

»Glauben Sie,« fragte Beate, während sie nach dem Hause schritten, »daß dieser gräßliche Mord — weittragende Folgen haben kann —?«

»Wenn er aus dem Fanatismus anarchistischer Mordbuben entsprang — nein,« antwortete der Schwede. »Wenn er erkauft wurde — dann ja ...«

»Ich bin überzeugt davon, daß er gekauft und sehr gut bezahlt worden ist,« meinte Gerhard Hoyermann.

»Ich auch,« sagte Tystendal.

»Gekauft — von wem?« fragte Beate mit einem plötzlichen Kältegefühl im Rücken.

Gerhard Hoyermann zuckte die Achseln.

»Suche, wem das Verbrechen nützt — ist ein alter juristischer Weisheitsspruch,« sagte er.

Beate fragte nicht weiter.

Sie betrat ihr Haus, an dessen japanischer Einfachheit und schöner Echtheit sie sonst so herzliche Freude gehabt, plötzlich nur mit dem Eindruck, in einem fremden Lande zu sein — in einem Lande, das seine Häuser aus Papier baute, das fremde Götter hatte und eine ihr unverständliche Sprache mit noch unverständlicheren Schriftzeichen. Sie fühlte, daß sie ungerecht war, aber sie konnte es nicht ändern, daß sie das zarte Lächeln der Dienerin Umè, die sich zum Gruß vor ihr auf den Boden warf und ihn dreimal mit ihrer Stirn berührte,[S. 42] mit einem Gefühl des Widerwillens empfand.

Sie entsann sich, daß dieses Mädchen vor kurzer Zeit seine Mutter verloren hatte und die Meldung vom Tode dieser Mutter mit demselben zarten Lächeln zu der Herrin brachte, mit der sie ihr den Tee zu bringen pflegte.

Das war vielleicht heroisch. Es entsprang vielleicht sogar einer Erziehung zur inneren Größe, erlittenen Verlust, noch schmerzenden Kummer unter einem Lächeln zu verbergen, um niemand damit zur Last zu fallen. Aber Beate dachte, daß der Aufschrei der ins Mark getroffenen Seele menschlicher und darum wertvoller sei.

Als sie zu den beiden Herren zurückkehrte, fand sie ihren Mann in seinem Zimmer auf und ab gehend, während Tystendal auf der Lehne des Schaukelstuhles saß und rauchte. Sie waren in lebhaftestem Gespräch. Beate winkte ihnen zu, sich nicht stören zu lassen, und setzte sich in ihre Lieblingsecke, die ein wundervoller alter Kakemono schmückte.

»Was ich sagte, sind alles nur Vermutungen,« meinte Tystendal. »Sie sind so lange von Europa fortgewesen, daß Sie fast die Fühlung mit diesem nervösen Erdteil verloren haben. Es mag auch sein, daß man in den Steppen und im Urwald den Sinn für Kleinarbeit verliert.[S. 43] Uns wird er anerzogen, selbst gegen unseren Willen. Und ich bin zu sehr Schwede, um nicht bei jedem Unrecht, das politisch geschieht, russische Hände im Spiel zu vermuten.«

»Russische Hände vielleicht, aber kein russisches Geld,« sagte Hoyermann.

»Es ist gleichgültig, wer das Geld gibt. Daß es gebraucht wurde — und wozu, scheint mir wichtiger zu sein.«

»Das ist es auch,« gab Hoyermann ohne weiteres zu. »Es liegt aber auf der Hand, daß keine Bank der Welt etwas um Rußlands schöner Augen willen tut. Und wenn wir glauben, daß Rußland den Mord am österreichischen Thronfolger mit geborgtem Gelde bezahlte, dann dürfte es eben sehr interessant sein, zu erfahren, welche Gegenleistung es als Zinseszinsen versprach.«

»Truppen,« sagte Tystendal lakonisch.

»Wahrscheinlich ...«

Beate machte eine Bewegung. Christian Tystendal sah zu ihr hinüber und schüttelte den Kopf mit seinem herzlichen blonden Lächeln.

»Seien Sie unbesorgt, gnädige Frau — wenigstens vorläufig!« sagte er. »Wenn Männer auf die Politik zu sprechen kommen, geraten sie meistens in die Superlative. Auch Truppen sind ein Superlativ ...«

»Denken Sie an die Möglichkeit eines Krieges[S. 44] — als Folge der Mordtat in Bosnien?« fragte die Frau mit trockenen Lippen.

»Ich hoffe, daß ich zu schwarz sehe,« antwortete der Schwede. »Die nächsten Tage werden es zeigen. Österreich wird selbstverständlich Genugtuung fordern. Wird ihm die gewährt, so sind wir im Irrtum. Wird sie verweigert, so wissen wir, woran wir sind.«

»Dann, meinen Sie, kommt es zum Kriege zwischen Österreich und Serbien.«

»Unweigerlich.«

»Das ist ja sinnlos,« sagte Beate. »Die serbische Regierung kann sich und ihr Land doch nicht zum Selbstmord verurteilen, indem sie den Krieg gegen ein Heer wie das österreichische wagt.«

»Seien Sie versichert, gnädige Frau, daß Serbien — wenn es diesen Krieg wagt — weitgehende Garantien fremder Unterstützung besitzen wird.«

»Und dann —?«

»Dann haben wir den europäischen Krieg.«

»Sie sind ein Pessimist, lieber Freund ...«

»Im allgemeinen ist das nicht mein Fehler.«

»Um so unheimlicher wirkt es jetzt ... Ich habe, offen gestanden, von solchen Gesprächen genug für heute, wenn Sie nichts dagegen haben ... Am Nachmittag erklärt mir mein Mann, daß er und ich unter polizeilicher Bewachung[S. 45] stünden und durchaus nicht sicher davor wären, aus heiterem Himmel in ein japanisches Untersuchungsgefängnis zu geraten ... Ein paar Stunden später kommen Sie und verheißen uns den europäischen Krieg. Das ist etwas viel auf einmal.«

»Vielleicht hängen diese beiden Umstände enger zusammen, als wir ahnen,« bemerkte Gerhard Hoyermann, ohne seinen Weg zu unterbrechen.

Beate öffnete den Mund zu einer Entgegnung, aber sie kam nicht dazu, auszusprechen, was sie auf der Zunge hatte.

»Was war das —?« fragte Tystendal und sprang auf.

Es war ein Ton über das Haus hingerollt, der einem Donner sehr ähnlich, aber selbst keiner war. Das leichte Gebäude zitterte wie ein Kartenhaus unter seinem Murren.

»Es klang fast — wie ein Schuß,« stammelte Beate. Sie griff mit beiden Händen nach der mildbrennenden Laterne, die neben ihr auf der Matte stand, ein schimmerndes Viereck, mit Ideogrammen betuscht; sie tanzte wie behext auf ihren zierlichen schwarzen Lackbeinen.

Gerhard Hoyermann sagte nichts. Er sprang nach der Wand, die das Haus vom Garten abschloß, und schob sie zur Seite.

Drunten, an dem kleinen Teich, den ein[S. 46] künstlicher Wasserfall nährte, liefen die beiden Mädchen Beates und die männliche Dienerschaft kopflos durcheinander. Sie rannten nach dem Meere, wiesen zur Stadt hinüber ...

Über dem milden Hügel der Göttin mit den schönen Augen war der Himmel kein Himmel mehr. Er hing über ihm und der Stadt gleich dem aufgehobenen und weitgereckten, widerlich braunen Mantel der Hölle, die aufgebrochen war und die Erde heimsuchte.

Dieser Mantel war ehern und ein kunstreiches Versteck grausiger Waffen. Wenn seine Falten sich bewegten, klirrten sie, und die Erde zuckte vor Entsetzen.

Eine Hand hatte sich aus der Tiefe gereckt und rüttelte an den Grundfesten der Hügel, daß ihre Fichten durcheinandertaumelten wie Kinderspielzeuge. Aus dem Innern der Erde klang das rasende Gebrüll entfesselter Dämonen, die mit der Wucht ihrer anstürmenden Schultern und Fäuste aus ihrem Kerker brechen wollten und die Klammern der Erde lockerten. Und das entsetzte Meer wich von dem gerüttelten Eiland zurück und wurde ihm wieder zugejagt, schäumte und wehrte sich, bäumte sich auf und schrie ...

Herrgott — wie konnte das geängstigte Meer schreien ... aufgellend und röchelnd, im eigenen Geifer erstickt ...

[S. 47]

Stoß auf Stoß erschütterte das Land und rieselte verebbend über die Insel. Und die Menschen im »Garten des Freundes« sahen wie auf eine Bühne hinüber und sahen das irre Umhertaumeln der wild geschleuderten Laternen, die von der saugenden Dunkelheit verschlungen wurden und wie fallende Sterne erloschen, sahen den zuckenden Todestanz einer verdammten Stadt, deren Dächer, Hauswände und dünnes Gebälk um sich schlugen wie Ertrinkende in der Flut.

Jetzt warf sich die braune Dunkelheit der Nacht mit ganzem Leibe über die Verwüstung, um sie zu bedecken. Aber die Stunde wollte sehen, was sie vollbracht hatte, und sie zündete sich eine Fackel an.

Aus der braunen Finsternis schlug eine Flamme auf — stach spitz und nadelscharf hervor wie ein hochgeschnellter Pfeil.

Und nun war es, als sickere aus der geborstenen und zerrütteten Erde ein Bach aus Feuer, der sich ohne Eile, kurze Wellen als Kundschafter ausschickend, seinen Weg über das Eiland suchte. Und er wuchs und überschwemmte, was ihm im Lauf entgegenstand, mit einem ruhigen, breiten Lohen. Er leistete ganze Arbeit; er ließ nichts übrig. Die kleinen Kundschafterwellen kletterten vorsichtig über Bambus und Papier, hielten sich nicht auf, wußten, daß die[S. 48] breite Lohe, die hinter ihnen kam, wacker am Werke sein würde.

Es sah zierlich und unbegreiflich fürchterlich aus, wie das Feuer über die Stadt hinspülte, ohne Widerstand zu finden.

Im Geishaviertel war der Brand ausgebrochen. Er machte die Straßen nackt, hetzte die Menschen in durchsichtige Glut hinein, denn er hatte fast keinen Rauch, war so heiter wie eine festliche Beleuchtung.

Und der grausige Eindruck des Heiteren in der Verwüstung wurde noch erhöht durch das leisere Stoßen und Beben der Erde, das wirkte, als würde die Brust eines riesigen Meerteufels, der aus den Wellen aufgestiegen war und Narrheiten trieb, vom Lachen erschüttert.

Beate schrie laut auf und rannte ...

»Yuki —! Yuki —!!«

Lief schreiend über den schmalen Strand und ins Meer hinein, in das ihre Dienerin bis zur Brust hineingewatet war — packte das Mädchen an den Schultern und schleppte sie zurück, schüttelte sie in schluchzendem Zorn ...

»Hast du den Verstand verloren, Mädchen —?!«

Die kleine Yuki, die Schneeflocke vom Gipfel des Fujiyama, warf sich vor ihrer Herrin auf die Knie, berührte die zitternde Erde mit der Stirn, streckte die Hände aus, lächelte ... ja,[S. 49] bei allen Göttern! sie lächelte mit ihrem verstörten Blumengesicht ...

O, die vielverehrte Gebieterin möge ihr verzeihen ... Ihr Vater, ihre Mutter, ihre kleinen Schwestern und Brüder wohnten in der brennenden Stadt ... Sie glaubte, sie schreien zu hören ... Sie hatte zu ihnen laufen wollen, obgleich die Flut gekommen war und die Straße zu einem kochenden See machte — sie hatte ihnen helfen wollen ... Es war sinnlos, natürlich ... Die Herrin möge ihr verzeihen und sich nicht um den belanglosen Kummer einer kleinen Dienerin das Herz trüben lassen ...

Beate verstand nicht, was das Mädchen stammelte. Sie sah nur das zarte, vom Grausen geschüttelte Weibgeschöpf, hörte die flatternden Worte Vater und Mutter, erriet, was sie heißen sollten in dieser Stunde, und sah das Mädchen lächeln. Sie ertrug das Lächeln nicht. Sie warf sich auf dem weißen, vom Feuer rot übergossenen Sand in die Knie, wo das Mädchen lag, und nahm den Wahnwitz seines Lächelns in ihre Arme, um ihn zu ersticken.

Sie drückte Yukis Kopf an ihre Brust und hielt sie da fest — fühlte den Krampf der Angst, der den schmalen Kinderkörper stieß und lähmte, hob ihn hoch auf ihren Schoß und bedeckte die Augen, die der Brand gebeizt hatte, mit ihren Händen und ihrem Schluchzen ...

[S. 50]

»Lächle nicht, Kind ... um Gottes — um alles in der Welt — um der Barmherzigkeit willen ... lächle nicht —! Schreie —! Schlag um dich —! Heule wie ein Tier — aber lächle nicht, Yuki —! Nicht lächeln —!«

Yuki wollte gehorchen; sie mühte sich, die Sprache und die Wünsche der fremden Frau zu begreifen und ihnen untertan zu sein. O, ihre Verehrung für die Herrin war sehr groß ...

Aber sie war von Kindheit an gelehrt worden, daß es eine schlechte Sitte und grobe Unhöflichkeit sei, Fremden ein anderes als ein heiteres Gesicht zu zeigen und sie mit dem zu belästigen, was jedes Menschen eigenstes Eigentum ist — mit Kummer und letzter Not ...

Die Herrin war sehr gütig ... Yuki wollte ihr danken ... Sie hob den Kopf — lächelte ...

Die verzweifelten Tränen der fremden Frau fielen auf ihr Gesicht.

Gerhard Hoyermann und der Schwede mühten sich, die Boote ins Wasser zu bringen. Das Meer tanzte wie verrückt zwischen den beiden Ufern. Gerhard brüllte nach dem Diener.

Der Mensch kam, starrte seinem Herrn mit offenem Munde ins Gesicht.

Fahren — hinüberfahren —? Wozu?

»Frag nicht, Mensch —! Greif zu —!« Gerhard zerbiß den kräftigsten deutschen Fluch zwischen den Zähnen. Tystendal warf seine[S. 51] breiten Schultern gegen das Boot. An seinen Schläfen sprangen die Adern wie junge Nattern auf.

Der Diener gehorchte nicht. Er wies mit ausgereckter Hand vor sich hin.

Nun, was er zeigen wollte, war an sich schon beredt genug.

Von drüben, von dem Ufer der Verdammten, stießen Boote ab — drei, fünf, acht, ein Dutzend und mehr. Ihre flammenspitzen Segelzacken wölbten sich, durchglüht von einem brausenden Rot, über den plumpen und mürrischen Bootsleibern.

Das Meer machte sich einen Spaß mit ihnen.

Warum sollte das Meer feiern, wenn die Erde vom Lachen der Unterirdischen bebte und Flammen spuckte vor Vergnügen ...

Der Wind, glutheiß vom Spiel des großen Brandes, tollte blind in die Segel hinein.

Er pfiff, zum Teufel, daß es die Ohren zerschnitt ...

O — warum verloren die Menschen den Kopf, wenn sie ihn am nötigsten brauchten? Krachend schleuderten die ersten beiden Boote sich gegeneinander, wirbelten wie betrunken um sich selbst — da, das eine hatte zu tiefen Schluck genommen ... Das breite Segel klatschte aufs Wasser, versetzte dem Meer eine fürchterliche Ohrfeige[S. 52] ... O, ich will dich wohl unterkriegen — eine Welle, die sich rasend reckte — hach —!

So, nun war es verschwunden ... Menschenköpfe trieben auf der langanrollenden Flut. Hände griffen ins Leere ...

Und die Flut, so weit das Auge sehen konnte, war bedeckt mit wahnsinnig tanzenden, hüpfenden, sich fortschnellenden Rotlichtern — bis auf den Grund erleuchtet und durchzuckt.

»Herrgott, wir müssen doch helfen —!« schrie Gerhard Hoyermann in Wut und Ratlosigkeit.

Tystendal zuckte die Achseln. Er schüttelte den Kopf und schlug mit der Faust gegen das Boot, das träge im Sande lag.

»Es nützt nichts,« sagte er. »Wir können nicht helfen ... Es ist das Land und sein Schicksal. Erdbeben und Feuer und der Sturm ... Jedes Jahr fressen sie ganze Städte hinunter — Städte aus Brettchen und Papier ... Aber sie bauen sie immer wieder — aus Brettchen und Papier ... Man muß sie lassen ...«

Hoyermann entgegnete nichts. Er stand, ohne sich zu rühren, und starrte nach dem Brande hinüber. Beate hatte die Hände um Yukis Kopf gefaltet und flüsterte törichte, kleine Wortfetzen auf das Mädchen hinunter, während sie das grausige Schauspiel vor sich mehr fühlte als sah.

Durch den dünnen Vorhang des Feuers konnte sie die Menschen erkennen, die sich aus[S. 53] der Brandhöhle hinaufretteten zum Hügel über der Stadt. Da oben stand das wundervolle Bild der Göttin Kwan-on — der ewigen Barmherzigkeit. Es stand feierlich und tief gelassen in Stein und Gold, mit dem ruhigen Monde um das freundliche Haupt ...

Warum hilfst du ihnen nicht? dachte Beate stumpf.

Die Fichten des Hügels waren durcheinandergetaumelt beim ersten Stoß. Und immer noch bebte die Erde. Vielleicht war das Bild der Göttin niedergestürzt und lag ohnmächtig zerschellt in seinem zerrütteten Tempel ...

Nach hundert Tagen würden die Menschen ihr ein neues Standbild aufgerichtet haben. Denn sie liebten sie, die Göttin mit den schönen Augen.

Was konnte sie dafür, daß die Dämonen der Unterwelt Herren der Stunde gewesen waren ... Sie hatte gewiß getan, was sie konnte, Kwan-on, die Liebliche ...

Auch wenn zu ihren Füßen, unter die sich die Drachen schmiegten, eine Stadt in Flammen aufging ...

Das Feuer war satt geworden. Es hatte seinen Fraß gierig hinuntergeschluckt und leckte nur noch mit langer Zunge da und dort um eine halbverzehrte Beute. Die Glut wurde dunkler und dunkler, zu bläulichem Rot. Funken[S. 54] stoben, wo ein Pfahl zerbarst. Der Himmel, der nichts mehr zum Gaffen hatte, zog sich hoch über die Hügel zurück, wurde kühl und gleichgültig blau — kümmerte sich um sich selbst und prunkte in Sternen. Der Himmel und die Sterne schienen unendlich weit weg zu sein.

Mit ganz erstarrten Gliedern raffte Beate sich auf und taumelte. Yuki lag ihr zu Füßen, die Stirn am Boden. Sie wollte sich bücken, um sie aufzuheben; aber in einer plötzlichen Trägheit des Entschlusses wie ihrer Glieder blieb sie mit hängenden Armen stehen. Der Nacken schmerzte sie. Sie war müde zum Umfallen. Mit einem dumpfen Blick sah sie zu ihrem Manne auf. Ihr Kinn zitterte.

»Komm, Kind,« sagte er.

Sie gingen ins Haus. Tystendal folgte ihnen. Wie ein Schatten glitt die kleine Dienerin an ihnen vorbei. Auf ihrem hilflosen, matten Gesicht lag die Beschämung darüber, daß sie vergessen hatte, nach dem Essen zu sehen. Sie war sehr nachlässig gewesen — die Herrin möge verzeihen ...

Beate schüttelte geistesabwesend den Kopf ... ja, ja — natürlich ...

Sie ging selbst nach der Küche; sie hatte einen Gast.

Ihre japanische Jungfer — das Mädchen, dessen Lächeln sie heute so peinigend empfunden[S. 55] hatte — stand plötzlich neben ihr und glitt auf den Boden ...

Die Herrin hatte vergessen, die Schuhe auszuziehen.

»Wie du willst, Umè ...«

Umè lag noch auf den Knien, als Gerhard Hoyermann in die kleine Küche trat.

»Was ist —?« fragte Beate, aufgeschreckt durch den Ausdruck seines Gesichts.

»Nichts weiter,« antwortete ihr Mann. »Es hat jemand meinen Koffer erbrochen und meine sämtlichen Papiere durchstöbert. Gestohlen wurde nichts ... immerhin — das Leben in Japan und auf unserer Insel fängt an, interessant zu werden ...«


[S. 56]

2

Es regnete.

Aus tiefhängenden und zerfetzten Wolken, die so ermattet aussahen, als kämen sie von sehr weit her, fiel der Regen — unzählig dünnen, schrägen Strichen gleichend — über das Land und die zerbrannte Stadt und über das Meer, von dessen Glätte die Tropfen abprallten wie von einem gläsernen Spiegel, aufhüpften und zergingen.

Der »Garten des Freundes« duckte sich gleichsam im Regen zusammen und verschwand zwischen Wasser und Wasser, die dritte und dunkelste Tönung von Grau zwischen Meer und Himmel bildend.

Seit der Nacht des Erdbebens und des Brandes waren drei Wochen vergangen; seit acht Tagen wartete Gerhard Hoyermann auf das Schiff, das ihn und seine Frau zum Hafen mitnehmen sollte, in dem der Europadampfer einlief.

Der Dampfer kam nicht.

Gerhard Hoyermann hatte sich zur Bucht[S. 57] hinüberrudern lassen, in der das Schiff anzulegen pflegte. Er hatte jeden Menschen, dessen er habhaft werden konnte, beim Kragen genommen und eine Auskunft von ihm gefordert, wann, zum Kreuzmillionendonnerwetter! der Dampfer kommen würde.

Sein Fluchen wurde nicht begriffen; und der Dampfer würde morgen kommen — o ganz bestimmt, morgen!

Dieses Morgen war unsterblich und unerreichbar — wurde nie zum Heute.

Und sie wollten fort — so rasch als irgend möglich. Sie hatten genug von Ostasien, bei Gott! Drüben im alten Europa umgraute sich der Himmel, wie es schien. Es knurrte in den Wolken, noch nicht eben laut, aber doch vernehmbar. Wenn das Donnerwetter hereinbrach, mußten sie dabei sein, das war ausgemacht.

Und nun waren sie festgelegt, weil sie auf einen Dampfer angewiesen waren, der immer erst morgen kommen würde ...

Gerhard Hoyermann fluchte gottslästerlich. Und es war mehr als Ungeduld in seinem Fluchen. Es stak ein ganz seiner selbst bewußter Ernst dahinter. Wenn er auch Beate nichts davon merken ließ.

Tystendal war kein Schwätzer. Auch kein Schwarzseher — nein. Es war immer ratsam, seine Worte, wenn sie ernsthaft klangen, auch[S. 58] so zu nehmen. Hoyermann war sehr geneigt, das zu tun und sich danach zu richten. Auch Tystendal wollte nach Schweden zurückkehren.

»Ich glaube,« hatte er gemeint, »daß unser kleines Europa in der nächsten Zeit bedeutend interessanter sein wird als alle buddhistischen Tempel, Teehäuser und Schwerttänzer — interessanter als ganz Asien zusammengenommen.«

Hoyermann hatte ihm nicht widersprochen.

Aber es war, wie es schien, nicht ganz einfach, von Asien loszukommen.

Mißmutig ließ Gerhard Hoyermann die Bucht, in der er sich nach der Ankunft des Dampfers erkundigt hatte, im Rücken. Das »Morgen, Herr!« des Narren, der ihn täglich mit einem strahlenderen Gesicht empfing, um von morgen zu schwatzen, war ihm ein Klotz im Wege. Er mußte über ihn weg, es half nichts.

Als er nach der Straße einbog, die durch das abgebrannte Häusergewirr sich gleichsam krummgezogen von der Hitze mit neuen und sinnlosen Ecken wand, schritt ein Mann neben ihm her, doch immer so, daß drei Schritte Wegs zwischen ihnen blieben. Der Mann trug einen Strohmantel, wie ihn die Japaner zum Schutz gegen den Regen tragen, hatte den flachen Hut sehr tief gezogen und stelzte auf unsagbar schmutzigen Beinen und klappernden Holzsandalen[S. 59] halb trabend durch den Schlamm der Straße.

Gerhard Hoyermann achtete nicht auf den Menschen, bis dieser, die Straße kreuzend, an ihm vorüberglitt und in gutem, sehr verständlichem Deutsch vor sich hinsprach: »Bitte, beachten Sie mich scheinbar nicht. Geben Sie mir keine Antwort und machen Sie keine Bewegung, die verraten könnte, daß ich zu Ihnen rede ...«

Die Jagd auf Leoparden und Elefanten hatte Gerhard Hoyermann gegen Überraschungen abgehärtet; er rührte keine Muskel im Gesicht, ging gleichgültig weiter.

Der Fremde, der mit tiefgeneigtem Kopf gegen den schrägen Regen anlief, blieb immer in der gleichen Entfernung von ihm, sprang auf seinen fausthohen Stelzen unter den schmutzverkrusteten Beinen über Lachen, verkohltes Bambusgestänge und gestürzte Telegraphenstangen. Das asiatische Feuer hatte vor Europa und Amerika nicht haltgemacht. Verwirrt und geängstigt krochen die zerglühten Drähte übereinander.

»Ich bitte Sie,« fuhr der Fremde fort, »mich in zwei Stunden bei Ihnen zu erwarten. Ich werde pünktlich sein. Es handelt sich um Dinge von höchster Wichtigkeit ... Guten Abend ...«

[S. 60]

Gerhard Hoyermann sah aus verschleierten Augenwinkeln, wie der Strohmantel neben ihm abermals die Straße kreuzte und dann mit einem wunderlich hüpfenden Gang, wie Stelzvögel mit gestutzten Flügeln ihn haben, in der nächsten Gasse verschwand. Er hütete sich, den Kopf zu wenden, um ihm nachzusehen. Er hatte bereits genug in diesem Lande erlebt, um neugierig auf das Weitere zu sein; das wollte er sich nicht durch vorzeitige Forschungen verscherzen.

»Dieser Strohigel«, dachte er, während er sich zur Insel hinüberrudern ließ, »sprach ein wunderbar farbechtes Brandenburger Deutsch. Er hat in mir den Landsmann erkannt und spielt ein wenig den Geheimnisvollen, um mich mit desto mehr Aussicht auf Erfolg anzupumpen. Wenn der Bursche gut spielt, werde ich ihm alles japanische Kleingeld, das ich noch besitze, mit Genugtuung überlassen. Ich will froh sein, wenn ich's nicht mehr nötig habe. Sela!«

»Löwin,« sagte er zu seiner Frau, nachdem er, wie gewöhnlich, im Bestreben, das Zimmer auf europäische Art zu öffnen, das ganze Haus an den Rand des Verderbens gebracht hatte, »was hältst du von Japanern, die Deutsch sprechen — das Deutsch der Gegend, in der der liebe Gott den Streusand aufbewahrt, — dich beschwören, so zu tun, als wüßtest du von[S. 61] nichts etwas, und sich im übrigen für zwei Stunden später bei dir anmelden?«

Beate, die ihren Mann vom Garten aus hatte heimfahren sehen und schon aus seinem grimmigen Gesicht erriet, daß der Dampfer wieder einmal für morgen verkündigt worden war, packte zum achten Male seit einer Woche ihren Handkoffer aus und sah, auf den Knien liegend, zu Gerhard auf. Ein Blick des Hausherrn fegte Yuki und Umè aus dem Zimmer. Auf weißen Socken trippelnd glitten sie hinaus; doch versäumten sie nicht, sich auf der Schwelle zu Boden zu werfen und mit der Stirn die Matte zu berühren. Wenn der Gebieter unhöflich und barbarisch war, so konnte sie das noch längst nicht veranlassen, es auch zu sein.

»Soll deine Frage ein Preisrätsel darstellen?« fragte Beate dagegen.

»Das kommt darauf an. Vielleicht ist es wirklich ganz lohnend, ihrer Lösung nachzuspüren. Jedenfalls möchte ich dich bitten, deine hübschen Lauscher etwas hochzustellen, wenn der Kerl tatsächlich kommen sollte. Und ich wüßte wahrhaftig nicht, warum er sonst so geheimnisvoll getan hat.«

Beate sah vor sich hin.

»Willst du nicht Tystendal benachrichtigen?« fragte sie.

»Warum?«

[S. 62]

»Falls der Mensch unheimlich wird ...«

»I Gott bewahre! Ein Mensch ohne übertriebenes Reinlichkeitsbedürfnis; das dürfte aber auch das einzige sein, worin er unangenehm werden könnte. Möglich, daß er die Gewohnheit hat, ins Zimmer zu spucken. Im übrigen hat er's wahrscheinlich nur auf meinen Geldbeutel abgesehen. Sollte aber mehr hinter der Geschichte stecken, dann sind wir beide Manns genug, mit ihr fertig zu werden — was, Beate?«

»Gott sei Dank!« sagte Frau Beate.

»Übrigens kannst du deine Koffer gleich wieder packen, Löwin. Wir reisen morgen auf jeden Fall. Wenn der verfluchte Dampfer wieder ausbleibt — worauf ich völlig vorbereitet bin —, dann pfeifen wir auf ihn und rudern oder segeln mit unserem Drachen los. Das Wetter klärt sich auf. Ich habe die Warterei satt. Teils zu Wasser, teils zu Lande werden wir schon dahin kommen, wohin wir wollen; jedenfalls brauchen wir kaum mehr Zeit dazu, als wenn wir hier noch vierzehn Tage auf den Dampfer warten, der nie kommt. Einverstanden?«

»Vollkommen.«

»Schön. Dann überlasse ich dich jetzt deinem Schicksal und deinen beiden pechäugigen Schneegänsen. Du hörst es ja, wenn jemand kommt,[S. 63] und kannst dich danach richten. Bin neugierig, ob der Strohigel pünktlich ist!« —

Der Strohigel war pünktlich. Ein paar Minuten vor der angegebenen Zeit trat Takejiro, Hoyermanns persönlicher Diener, in das Zimmer seines Herrn und meldete mit einer Stimme, die von Feierlichkeit überströmte, daß ein fremder Mann den Hochgeehrten zu sprechen wünsche.

»Hat er seinen Namen genannt?«

Nein, das hatte der Fremde nicht getan. Er hatte gesagt, der Hochgeehrte wisse Bescheid ...

»Führe den Mann herein, Takejiro!«

Der Diener nahm diesen Auftrag entgegen, als wäre ihm befohlen worden, den Einzug einer Gottheit auf passende Art zu regeln. Er zog sich zurück, und eine Minute später glitten die Wände des Zimmers vor dem Fremden auseinander.

Die beiden Männer standen sich gegenüber.

Gerhard Hoyermann betrachtete seinen Gast etwas unsicher. Der Strohigel hatte sich verwandelt. Der japanische Mummenschanz war von ihm abgefallen; nach seinem sonstigen Äußeren zu schließen, hatte er ein Vollbad genommen und stellte sich in einer fast etwas zu tadellosen europäischen Ausgabe als ein kleiner, schlanker und sehniger Mensch vor, mit sehr schwarzem, unnötig langem Haar, sorgfältig rasiert und mit einem ausgezeichneten Gebiß.[S. 64] Seine Hände waren Bastlerhände, unschön, aber willenskräftig. Sie hatten die Angewohnheit, auf Gegenständen, die sie berührten, sehr lange liegenzubleiben. Sie sogen sie gleichsam in sich auf, als hätten sie die Absicht, das Gefühlte nötigenfalls auch im Dunkeln wiederzuerkennen.

Der Fremde verneigte sich; er lächelte nicht. Seine dunklen, zufassenden Augen glitten durch das Zimmer.

»Mit wem habe ich das Vergnügen?« fragte Gerhard Hoyermann mit einer gewissen Unbeirrtheit.

Der Fremde sah ihn an.

»Ich habe mich auf eine sehr ungewöhnliche Weise bei Ihnen eingeführt,« meinte er, ernst wie zuvor. »Sie würden mir einen besonderen Gefallen erweisen, wenn Sie mir erlaubten, bei der Methode zu beharren. Ich bin leider — gewissermaßen — gezwungen dazu. Wenn ich Ihnen sagte, daß ich Schmidt oder Lehmann hieße, so würden Sie mir wahrscheinlich nicht glauben und darum geneigt sein, auch meine übrigen Behauptungen in Zweifel zu ziehen. Es liegt mir aber sehr viel daran, bei Ihnen Glauben zu finden. Also lassen wir den Namen beiseite. Das hat für Sie wie für mich den Vorteil, daß Sie gegebenenfalls, wenn Sie nach mir gefragt werden, seelenruhig einen Eid darauf[S. 65] ablegen können, mit einem Menschen meines Namens niemals gesprochen zu haben.«

»Könnte ein Gespräch mit Ihnen unter Umständen belastend werden?« fragte Gerhard Hoyermann und stand noch immer.

»Allerdings,« antwortete der Fremde.

Gerhard Hoyermann schmunzelte.

»Bitte, nehmen Sie doch Platz!« sagte er und wies auf einen der amerikanischen Schaukelstühle, die zwar die Echtheit der japanischen Zimmer mordeten, aber für die europäische Art des Sitzens unerläßlich waren.

Der Fremde setzte sich.

»Ihre Frau Gemahlin befindet sich im Nebenzimmer,« stellte er in verbindlichem Tone fest.

»Stört Sie das?« fragte Gerhard Hoyermann gelassen.

»Durchaus nicht — im Gegenteil. Da Sie Ihrer Frau Gemahlin den Inhalt unseres Gesprächs doch mitteilen würden ...«

»Unbedingt.«

»... so ist es sicherlich einfacher für Sie, wenn sie ihn unmittelbar aus erster Hand erfährt.«

»Falls sich das Zuhören lohnt?«

»Jetzt sage ich: Unbedingt!«

»Sie haben uns also interessante Mitteilungen zu machen?«

[S. 66]

»Sehr interessante ...«

»Bitte,« sagte Gerhard Hoyermann mit einer Handbewegung. Er hatte die Backenmuskeln ein wenig gesenkt und die Oberlippe zwischen die Zähne gezogen. Seine vollkommen ruhigen blauen Augen schlossen den Fremden ein, der sich ihnen nicht entzog.

»Ich nehme an, daß Sie mich für eine Art von Hochstapler halten,« begann der Fremde.

»Nein,« entgegnete Hoyermann. »Vor zwei Stunden glaubte ich allerdings, daß es sich — um eine Geldangelegenheit handeln würde. Das scheint aber nicht der Fall zu sein ...«

»Keineswegs. Ich werde von meinen Auftraggebern zu meiner vollen Zufriedenheit bezahlt und bin außerdem nicht davon abhängig — mehr Liebhaber in meinem Beruf. Die Bitte, mit der ich zu Ihnen komme — denn es handelt sich in der Tat um eine Bitte —, bezieht sich auf Ihren Aufenthalt in Japan ...«

»Der sich nur noch auf Tage erstrecken wird; wir stehen im Begriff, abzureisen.«

»Ich weiß, daß Sie die Absicht haben,« meinte der Fremde mit einem leisen Zucken seiner Augendeckel. »Sie erkundigen sich seit acht Tagen regelmäßig nach der Ankunft des Dampfers, mit dem Sie reisen wollen. Seien Sie versichert, daß dieser Dampfer innerhalb der nächsten vierzehn Tage nicht kommen wird[S. 67] — nicht bis zur völligen Klärung der europäischen Lage.«

»Das wird mich sehr kühl lassen,« sagte Gerhard Hoyermann. »Meine Frau hat bereits die Koffer gepackt, die wir morgen im Segelboot verstauen werden. Wir fahren nicht um die Inseln herum, sondern wir überqueren sie. Die Eisenbahnen und Jinrikishas werden wohl noch in Tätigkeit sein, wo wir zu fahren wünschen. Einsperren wird man uns ja wohl nicht so ohne weiteres, solange es ein deutsches Konsulat in Tokio gibt — wie?«

»Nein, einsperren würde man Sie nicht,« sagte der Fremde etwas zögernd. »Im Gegenteil — man würde Sie ein wenig spazierenfahren. Japan ist nicht allzu groß, aber immerhin geräumig genug, daß man einen Landfremden durch sämtliche Provinzen reisen lassen könnte — jeden Tag in einer anderen —, bis der Dampfer, mit dem er nach Europa fahren wollte, hundert Meilen vom Hafen ist.«

»Man wünscht also, deutsch gesagt, meine Rückkehr nach Europa zu hintertreiben?«

»Ja.«

»Wer ist dieses ›Man‹?«

»Als höchste Instanz — die japanische Regierung.«

Gerhard Hoyermann stand auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen. Der Fremde[S. 68] saß still, in seinen Stuhl zurückgelehnt; er betrachtete seine Fingerspitzen.

»Ich will Ihnen etwas sagen,« begann Hoyermann nach einer Weile und blieb stehen. »Vor vierzehn Tagen hätte ich wahrscheinlich geglaubt, Sie seien ganz einfach ein Gespensterseher oder ein Betrüger, der den Versuch machte, für eine Warnung vor nicht bestehenden Gefahren eine Belohnung zu erpressen ... Aber ich habe in der Zwischenzeit allerhand erlebt, was mir Ihre Reden sehr glaubhaft erscheinen läßt ...«

»Ich weiß,« warf der Fremde ein. »Man hat in der Brandnacht Ihre Koffer erbrochen und Ihre Papiere untersucht ...«

»Woher wissen Sie das — Herr?«

»Sie sprechen manchmal etwas zu laut — für japanische Verhältnisse,« sagte der Fremde freundlich. »Und Sie haben aus Ihrer Entrüstung über den Vorfall durchaus kein Hehl gemacht, als Sie sich mit Ihrem Freunde Tystendal in dessen Wohnung darüber unterhielten. Übrigens hatte ich etwas Ähnliches erwartet, denn ich wußte, daß Sie keinen Brief erhalten, der nicht zuvor von der japanischen Geheimpolizei unbemerkt geöffnet wurde ... Das war auch der Grund, warum ich Ihnen nicht schreiben durfte, sondern gezwungen war, mich Ihnen auf der Straße zu nähern ...«

Gerhard Hoyermann stand vor dem kleinen[S. 69] Fremden und blickte auf ihn hinunter. Sein Gesicht verlor allmählich das, was Beate den Ferienfahrplan nannte: die unbekümmerten und fröhlichen Züge, die ins Grünblaue der Welt gehen. Es sammelte sich und verschloß sich mit plötzlich harten Lippen, und seine Pupillen zogen sich zusammen, als fiele ein jähes Licht in sie hinein.

»Ich weiß, was Sie denken,« meinte der Fremde. »Sie sind ebenso verwundert wie empört ... Wenn Sie länger in Japan lebten — jahrelang, wie nun ich —, dann würden Sie weder das eine noch das andere mehr sein. Die japanische Polizei ist in der Hand eines geschickten Mannes das wunderbarste Instrument, das man sich denken kann. Es hat immer den rechten Ton, versagt niemals und hat das vollkommene Taktgefühl einer gutgeschmierten Maschine. Ich bin fest davon überzeugt, daß Sie vom ersten Tage Ihres japanischen Aufenthalts an keinen einzigen unbewachten Schritt getan haben.«

»Zu diesem Zweck —« begann Hoyermann, unterbrach sich aber sofort mit der Frage: »Glauben Sie, daß meine Dienerschaft bei der Durchsuchung meiner Koffer beteiligt war?«

»Sehr wahrscheinlich.«

»Ich werde die Kerle heute noch hinauswerfen ...« murmelte Hoyermann.

[S. 70]

Der Fremde schüttelte den Kopf.

»Tun Sie das nicht. Sie wechseln nur die Namen — weiter nichts. Wenn Sie sich zwanzig Diener vorstellen ließen und alle wieder wegschickten, um den einundzwanzigsten zu nehmen, so würde eben dieser Einundzwanzigste derjenige sein, der im voraus für Sie bestimmt war. Es ist eine bewunderungswürdige Organisation.«

»Sie werden entschuldigen,« sagte Hoyermann, »wenn ich augenblicklich zu sehr Partei bin, um für diese bewunderungswürdige Organisation die nötige Objektivität zu besitzen. Ich bin der harmloseste Mitteleuropäer, den sich die japanische Regierung wünschen kann, und will meinerseits in Ruhe gelassen werden.«

»Ihre Harmlosigkeit ist es eben, die man bezweifelt.«

»Und warum, zum Teufel hinein —?!«

»Sie waren deutscher Offizier ...«

»Ich war in der Schutztruppe.«

»Zuletzt — ja. Vor sechs Jahren waren Sie noch Oberleutnant im preußischen Heer, traten dann zur Schutztruppe über und sind schließlich auch aus dieser ausgetreten ...«

»Allerdings. Ist das in japanischen Augen ein Verbrechen?«

»An sich — nein. Aber wenn ein ehemaliger Oberleutnant Seiner Majestät des Deutschen Kaisers plötzlich als Privatmann in Japan auftaucht,[S. 71] dann erinnert man sich hier an die Gepflogenheit, daß Offiziere, die in irgendeinem fremden Lande besondere Studien treiben wollen, aus dem Heere ausscheiden, um — wenn ihre Studien allzu eingehend befunden und unter richterliche Beleuchtung gezogen werden — ihre Regierung nicht zu kompromittieren ...«

»Ah —!« machte Gerhard Hoyermann. »Man glaubt, ich sei ein Spion ...«

»Ja.«

»Zu solchen — Ausflügen pflegt man im allgemeinen seine Frau nicht mitzunehmen ...«

»Warum nicht? Um so harmloser wirken sie.«

»Pfui Deibel!« sagte Gerhard Hoyermann.

Der Fremde hob die Schultern.

»Sie kennen dieses Volk nicht,« meinte er. »Man wollte neulich Ihre Papiere durchsuchen und machte sich den großen Brand zunutze. Wäre der Brand nicht infolge des Erdbebens ausgebrochen, so würde man ihn vielleicht angelegt haben, unbekümmert darum, daß eine Stadt dabei zugrunde ging. Eine Stadt ist etwas sehr Geringfügiges, wenn es um die Sicherheit Nippons geht, nicht wahr? Und es gäbe unter denen, die im Feuer Hab und Gut verloren, kaum einen Menschen — nein, ich glaube wirklich, keinen einzigen —, der es nicht selbstverständlich fände, alles zu verlieren für das große Nippon. Begreifen Sie das?«

[S. 72]

»O ja,« sagte Gerhard Hoyermann mit großem Nachdruck. »Das begreife ich sehr gut ...«

»Es ist eine Art von Religion — das Hohelied des Vaterlandsdienstes in die Lehre des Shinto hineingegossen. Diese Menschen haben nichts, was sie nicht opfern würden, wenn es um die Größe und Ehre Nippons geht. Sie besitzen tatsächlich alles nur gewissermaßen auf Widerruf: Leben, Vermögen, Freiheit, Glück ... Sie haben in Wahrheit nichts zu verlieren, weil sie nichts in Wahrheit ihr eigen nennen, — und es ist ein sehr weises Wort Goethes, der sagt: ›Fürchterlich ist einer, der nichts zu verlieren hat‹ ... In der Tat — fürchterlich gefährlich ...«

Gerhard Hoyermann erwiderte nichts. Er ging im Zimmer auf und ab und hatte den Kopf gesenkt.

»Im übrigen«, fuhr der Fremde fort, »bin ich nicht zu Ihnen gekommen, um über die Psyche des Japaners mit Ihnen zu philosophieren ...«

»Es ist ein sehr reizvolles Thema,« murmelte Hoyermann.

»Aber ein unerschöpfliches. Während der fünf Jahre, die ich in Japan bin, war es mein Steckenpferd, die japanische Seele zu analysieren. Es ist mir nicht gelungen. Das einzige Ergebnis meiner Schürfungen liegt in der Erkenntnis dessen, was den Ostasiaten vom Westeuropäer[S. 73] trennt — und es kann sein, daß auch das ein Trugschluß ist —: die Verschiedenheit der Ehrbegriffe ...«

»Ist die so schwerwiegend?« fragte Gerhard Hoyermann mit einem flüchtigen Lächeln.

»Urteilen Sie selbst. Ich will Ihnen zwei winzige Geschichten erzählen, die den Japaner vollkommen widerspiegeln ... Ein Europäer hilft einem Japaner aus großer Verlegenheit, indem er ihm eine ziemlich beträchtliche Summe leiht. Der Japaner gibt die geliehene Summe nach geraumer Zeit zurück mit der Versicherung, daß er seinem Helfer aus der Not bis an sein Lebensende die unverbrüchlichste Dankbarkeit bewahren werde. Bei irgend einer späteren Gelegenheit geraten die beiden Männer in einen heftigen Zwist, und der Europäer läßt sich im Laufe der Auseinandersetzung dazu hinreißen, den Japaner zu ohrfeigen. Der Japaner will sich auf ihn stürzen, bezwingt sich aber, verneigt sich lächelnd und geht. Zu Hause angelangt, schreibt er dem Europäer einen Brief, in dem er ihm mitteilt, daß er von ihm aufs tödlichste beleidigt worden sei, daß ihm die Dankbarkeit gegen seinen einstigen Wohltäter jedoch verbiete, sich an ihm zu rächen. Er wähle darum den einzigen Weg, der ihm übrigbleibe, um die Schmach von sich abzuwaschen. Nachdem er den Brief sorgfältig gesiegelt und fortgeschickt, begeht[S. 74] er Harakiri, indem er sich den Bauch aufschlitzt ...«

»Und die andere Geschichte?« fragte Gerhard Hoyermann, seinem Gaste den Rücken zugewendet.

Der Fremde lächelte.

»Die zweite Geschichte ist noch bedeutend kürzer, aber nicht minder lehrreich,« sagte er. »Ein Japaner bittet die Götter um Erfüllung seiner heißesten Wünsche — er hat sie ihnen, glaube ich, aufgeschrieben — und legt ein Gelübde ab, ihnen dafür einen Torii aus edelstem Metall zu erbauen. Seine Wünsche werden erfüllt, und er baut den Göttern einen Torii aus drei winzigen Stahlnadeln ...«

»Und die Summe von beidem: — eine erhabene Schweinebande,« sagte Gerhard Hoyermann, ohne sich umzuwenden.

»Mag sein. Auf jeden Fall ein Menschenschlag, der eine andere Ehre hat als wir. Sie haben ein anderes Gut und Böse als wir — als die ganze übrige Welt, mit der wir rechnen müssen. Es wird gut sein, wenn wir das beizeiten erfassen und uns danach richten.«

»Wer — wir?«

»Wir — von der anderen Seite der Erde ...«

»Falls es der Zweck Ihres Herkommens war,« sagte Gerhard Hoyermann, »mir diese Warnung zu übermitteln und mich — trotz aller Schwierigkeiten,[S. 75] die ihr entgegenstehen — zur beschleunigten Abreise aus Japan zu veranlassen, so begegnen sich unsere Wünsche. Ich reise so bald als möglich, und wenn ich persönlich die japanische Regierung von der Grundlosigkeit ihres Verdachts gegen mich überzeugen müßte, um loszukommen.«

Der Fremde stand auf.

»Im Gegenteil,« sagte er langsam. »Der Zweck meines Herkommens war, Sie zu bitten, nicht nur Ihre Reise nach Europa bis zu einem bestimmten Zeitpunkt aufzuschieben, sondern auch keinerlei Schritte zu unternehmen, den Verdacht der japanischen Regierung gegen Sie zu entkräften ... Es ist von alleräußerster Wichtigkeit, daß dieser Verdacht gegen Sie bestehen bleibt, bis —«

»Bis —?«

»Bis die Person, gegen die er sich eigentlich richten müßte, Zeit gefunden hat, ihre Aufgabe zu erfüllen ...«

»Diese Person sind Sie?« fragte Gerhard Hoyermann mit einem ruhigen Blick.

»Ja.«

»Sie sind also —«

»Was ich bin,« fiel ihm der Fremde sehr rasch in die Rede, »darauf kommt es jetzt nicht an. Man pflegt im allgemeinen unserem Beruf einen etwas anrüchigen Namen zu geben; auch darauf kommt es nicht an. Nichts ist jetzt wichtig[S. 76] als die Tatsache, daß ich in diesem Beruf eine Aufgabe zu erfüllen habe, die ich keinem sonst anvertrauen kann. Denn niemand — außer mir — der Nichtjapaner ist, geht unbeargwöhnt durch dieses Land. Mich haben die Jahre sanktioniert, in denen ich, mich von Reis und Tee nährend, auf mein einstiges Vaterland, meine frühere Religion und alle Gewohnheiten von ehemals spuckte. Ich gelte als Überläufer, werde als solcher verachtet und nicht bewacht. Glauben Sie mir, Herr Hoyermann, man muß sein Vaterland sehr lieben, um so leben zu können ... Nun, verzeihen Sie, ich wollte nicht von mir persönlich reden ... es ist eine fast dienstliche Angelegenheit, in der ich zu Ihnen gekommen bin ...«

»Ich habe Sie sehr gut verstanden,« sagte Gerhard Hoyermann. Nach einer Pause fuhr er fort: »Sie sprachen von einem bestimmten Zeitpunkt, bis zu welchem ich meine Heimreise verschieben sollte. Welcher ist das?«

»Die russische Kriegserklärung an Österreich.«

»Sie rechnen mit aller Bestimmtheit auf sie?«

»Ich habe Nachrichten aus zuverlässigster Quelle, daß Rußland bereits in aller Stille mobilisiert.«

»Gegen Österreich —?«

»Und gegen Deutschland — natürlich ...«

»Das wissen Sie?« fragte Gerhard Hoyermann[S. 77] und schlug mit der Faust auf die Lehne des Stuhles — »und dabei verlangen Sie von mir, Mensch, daß ich noch einen Tag länger in diesem gottverfluchten Nest sitzenbleiben soll, während es zu Hause um Kopf und Kragen geht —?!« Er stieß beide Hände vor sich hin, als schöbe er etwas weit von seiner Brust ab. »Nee, mein Bester! Zu dem Handel suchen Sie sich gefälligst einen anderen! Mich kriegen Sie nicht dazu!«

»Ein anderer steht mir leider nicht zur Verfügung,« sagte der Fremde mit völlig unbewegtem Gesicht. »Ich würde Sie sonst ganz gewiß nicht belästigt haben. Es bleibt mir aber keine Wahl. Obgleich ich fest davon überzeugt bin, daß das Deutschtum in Ostasien augenblicklich auf einem verlorenen Posten kämpft und sehr bald gänzlich außer Gefecht gesetzt sein wird, halte ich es doch für meine Pflicht, bis zum letzten Moment auf meinem Posten auszuhalten. Zu diesem Zweck ist es sehr notwendig, daß ich eine Nachricht, die mir persönlich überbracht werden soll, hier in Ruhe erwarten und dann meinerseits persönlich weiterbringen kann, da sowohl Briefe als Depeschen — Chiffredepeschen nicht ausgeschlossen, denn sie würden einfach nicht befördert werden — für mich nicht in Betracht kommen. Man war mir auf der Spur ... Seit Beginn der europäischen Krise[S. 78] ist man in Ostasien sehr nervös geworden ... Es blieb mir nichts anderes übrig — ich brachte die Spürhunde Haganés, der selbst der schlauste seiner Hunde ist, auf Ihre Fährte ...«

»Sie waren allerdings nicht heikel in der Wahl Ihrer Mittel,« meinte Hoyermann mit einem kurzen Lachen.

»Was wollen Sie ... es werden weit schmutzigere Mittel für weit wertlosere Ziele tagtäglich in der Politik angewandt, und die meisten werden durch den Erfolg gerechtfertigt und durch den Mißerfolg gerichtet.«

»Ihre Philosophie, Herr, ist mir jetzt völlig egal, — mich kümmert nur das eine, daß Sie mich veranlassen wollen, hier hockenzubleiben, während bei uns in Deutschland womöglich schon die scharfen Patronen im Lauf sind!« sagte Hoyermann und schlug mit der Faust in die Luft. »Wäre ich doch bloß meinem ersten Trieb gefolgt und wäre abgereist, als ich vom Mord in Serajewo hörte!«

»Sie würden vermutlich auch nicht weiter als bis zum Suezkanal gekommen sein,« meinte der Fremde. »Wofür glauben Sie, daß England seine Flotte gebaut hat?«

»England —?«

»Wir sprachen vom europäischen Konflikt ... Rechnen Sie England nicht mit zu Europa?«

»Unsere eigenen Vettern ...?«

[S. 79]

»Hm ...« machte der Fremde. Er räusperte sich. »Was das betrifft, so kommen in den besten Familien Streitigkeiten vor, sobald es sich um Geldangelegenheiten handelt. Die Gründe, um derentwillen es zum europäischen Kriege kommt, mögen sein, was sie wollen, — in jedem Falle wird es ein Wirtschaftskrieg; und was ist der anderes als eine Geldangelegenheit ... wenigstens für den, der ihn anzettelt ...«

»Sie sehen die Dinge von einem übelkeiterregenden Standpunkt, Herr ...«

»Ich sehe sie vom Standpunkt des Kaufmanns aus London City und der Bank von England. Wenn Sie mir heute nicht glauben, werden Sie es in vier Wochen tun. Vielleicht auch schon eher. Es kommt auf die Geduld des Deutschen Reiches an, wie viele Armeekorps Rußland gegen seine Westgrenzen marschieren lassen kann, ehe ihm von deutscher Seite aus der Krieg erklärt wird. Von diesem Augenblick an, dürfen Sie überzeugt sein, ist die Hauptsprache des Krieges die englische. Ganz besonders in Amerika und Japan ...«

»Ich glaube Ihnen heute schon,« sagte Gerhard Hoyermann und bog den Kopf in den Nacken. »Pfui Deibel!«

»Wir werden in der nächsten Zeit noch öfters Gelegenheit haben, ›Pfui Deibel!‹ zu sagen,« meinte der Fremde. »Das schadet nichts; es[S. 80] stärkt das Rückgrat und das Bewußtsein der Berechtigung, gegen allerhand Gesindel loszugehen, ohne Samthandschuhe.«

»Und ausgerechnet dabei soll ich nicht mit zupacken!« Gerhard Hoyermann lachte grimmig. »Nee, mein Bester! Sie können sagen, was Sie wollen! Ich habe auch eine Pflicht zu erfüllen — da drüben, wo Deutschland liegt! Hier mit meinen zwei gesunden Fäusten! Ich will zu meinem Regiment. Da können sie jetzt bestimmt jeden brauchen, der ein Gewehr anzupacken weiß. Und wenn ich weiter nichts tun könnte, als Rekruten drillen für den Felddienst — das wäre mir wurscht. Aber dabei sein will ich ... Ich reise ...«

»Ich weiß nicht,« begann der Fremde und räusperte sich, »ob ich mich so außerordentlich unklar ausdrücke ... Wenn ich mich nicht irre, Herr Hoyermann, erlaubte ich mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Ihre Abreise — selbst wenn sie Ihnen gelänge ...«

»Darauf können Sie sich verlassen ...«

»Gut. Nehmen wir das vorläufig an ... — doch zu keinem anderen Ziele führen würde, als daß Sie bestenfalls irgendwo in ein Konzentrationslager kämen. Glauben Sie wirklich, daß die Gegner Deutschlands die Rückkehr seiner wehrfähigen Männer aus dem Ausland zulassen würden?«

[S. 81]

»Wir würden es tun ...«

»Ja ... Wir sind bei allen solchen Dingen von einer bedauerlichen Anständigkeit, die kein anderes Ergebnis hat, als daß sie mißverstanden und als Schwäche gedeutet wird. Ich glaube aber, daß es weder sehr angenehm ist, interniert zu werden, noch daß es für das Land, dem Sie doch helfen wollen, den geringsten Zweck hat. Die einzige Art, auf die Sie Ihrem Vaterlande einen Dienst erweisen können, ist, daß Sie mir helfen, meine Botschaft unbehelligt an ihren Bestimmungsort zu bringen. Bitte, geben Sie mir jetzt eine klare Antwort — ja oder nein. Meine Zeit ist leider nicht unbemessen, und ich stehe beständig in Gefahr, den rechten Augenblick zu versäumen.«

Gerhard Hoyermann sagte weder ja noch nein. Er ging im Zimmer auf und ab und rannte mit dem Kopf gegen unsichtbare Hindernisse.

Der Fremde war aufgestanden und wartete, den Hut in der Hand. Sein Gesicht war weder ungeduldig noch besorgt. Er schien seiner Sache gewiß zu sein.

»Sie sagten,« fing Hoyermann endlich an, »daß ich bis zum Ausbruch des drohenden europäischen Krieges hierbleiben sollte ... Dann bin ich meiner Verpflichtung ledig?«

»Ja.«

[S. 82]

»Das ist eine Verspätung von mindestens acht Wochen ...« murmelte Hoyermann.

»Ich fürchte, Sie kommen auch dann noch reichlich zur Zeit, wenn es Ihnen gelingen sollte, durchzubrechen,« meinte der Fremde. »Dieser Krieg wird, wenn er in der Tat ausbrechen sollte, nicht in acht Wochen beendet sein. Denn es geht um die Erbfolge in der Welt, das können Sie mir glauben. Und jeder wird sich um sein Letztes wehren müssen ...«

Gerhard Hoyermann blieb stehen und dachte nach. Und dann schob er mit einem Ruck, der das Kartenhaus ins Wanken brachte, die Zimmerwand beiseite, die ihn von seiner Frau trennte.

»Komm herein, Kamerad,« sagte er. »Du sollst mir helfen ...«

Der Fremde grüßte die junge Frau mit einer Höflichkeit, die seinen fünfjährigen Aufenthalt in Japan bestätigte. Beate sah ihn ernst und schweigsam an. Sie war sehr blaß.

»Nun, Beate —? Du weißt, worum es sich handelt?«

»Ja.«

»Und was sagst du?«

»Ich glaube,« antwortete Beate mit trockenen Lippen, »daß du tun mußt, was er von dir verlangt.«

»Ich danke Ihnen, gnädige Frau,« sagte der Fremde.

[S. 83]

Beate erwiderte nichts. Sie sah ihren Mann an. Ihre Augenlider zitterten.

Gerhard Hoyermann wandte sich um.

»Es ist gut,« sagte er. »Ich bleibe. Acht Wochen früher oder später — es macht so viel nicht aus. Aber ich stelle eine Bedingung.«

»Bitte ...«

»Ich kenne Sie nicht. Ich habe keinerlei Bürgschaft dafür, daß Sie nicht im Auftrage unserer Gegner handeln, wie Sie handeln. Diese Bürgschaft will ich haben. Am liebsten eine schriftliche. Welcher Art — das überlasse ich Ihnen ...«

»Ihr Verlangen ist sehr gerechtfertigt,« meinte der Fremde. »Ich hätte daran denken sollen. Aber ich hole es nach. Hierher will ich nicht zum zweiten Male kommen. Ich kann nicht vorsichtig genug sein ... Bestimmen Sie, wo Sie mich in einer Stunde — oder wann es Ihnen beliebt — treffen wollen ...«

Gerhard Hoyermann überlegte.

»Wenn ich nicht komme, so wagen Sie nichts dabei,« meinte der Fremde, der sein Zögern mißverstand. »Es steht dann Ihrer Abreise nichts im Wege.«

»In einer Stunde am Tempel der Kwan-on,« sagte Gerhard Hoyermann.

»Ich werde pünktlich dort sein.«

Der Fremde verneigte sich und ging.

[S. 84]

Gerhard und Beate sahen sich an. Minuten vergingen. Dann sagte der Mann, während er sich mit der Hand über die Stirn fuhr: »Nun mußt du deine Koffer wieder auspacken, arme Beate ...«

»Ich habe es schon getan,« antwortete die Frau mit ihrem stillen Gesicht. Dann, als hätte sie einen Stoß von innen her erhalten, warf sie ihrem Manne die Arme um den Hals und fragte, Herz an Herz gedrängt: »Wir werden uns nie trennen, Gerd, nicht wahr —? Was auch geschehen mag — was du auch tun willst, Gerd — wir werden uns nie trennen, nicht wahr —?«

»Ich weiß es nicht, mein Liebling,« sagte Gerhard Hoyermann. Und als der halb unbewußte Blick seiner Augen den Jammer der ihren ergriffen, fuhr er fort: »Wir werden tun, was wir müssen, geliebte Frau ... und was gut ist — ja, das werden wir tun ...«

»Woher willst du wissen, was das Gute ist?« murmelte sie, die Hände auf seinen Schultern.

»Man weiß es immer,« sagte Gerhard Hoyermann nachdenklich. »Man tut es nur nicht immer ...« Er nahm das Gesicht seiner Frau in beide Hände und sah sie an, ein wenig mitleidig und ein wenig froh. »Wir beide, Beate — wir werden es wissen und tun ... Das ist gewiß.«

Sie entgegnete nichts mehr. —

[S. 85]

Eine halbe Stunde später machte sich Gerhard Hoyermann auf den Weg zum Tempel der Kwan-on.

Mosaku, im Strohmantel, triefend vor Nässe, trabte mit offenem Munde. Sein bellendes »Hai!« fuhr in die Menschen hinein, die mit Papierschirmen, auf die der Regen trommelte, über die Lachen und Löcher der Straße stelzten. Gerhard Hoyermann sah heute gleichsam durch die Menschen hindurch. Er bemerkte keine Gesichter. Seine zusammengelegten Hände öffneten und schlossen sich gedankenlos. Der Regen schlug auf ihn nieder. Er war lichter als vor ein paar Stunden; morgen gab es vielleicht einen schönen Tag.

Und Gerhard Hoyermann dachte, wie wohl zu Hause der Himmel aussehen mochte.

Nichts auf der Welt schien ihm jetzt wichtiger zu sein, als zu wissen, ob es daheim regnete oder ob die Sonne schien ...

Am Vorhof des Tempels angelangt, stieg er aus und stieg die glitschigen Stufen zum Gipfel des Hügels hinauf. Es war kein Mensch weit und breit zu sehen. Auch nicht der Fußtritt eines Menschen. Die Fichten um den Tempel der Göttin mit den schönen Augen standen zum Teil entwurzelt, und der Regen wusch die letzte Erde von den zersprengten lebendigen Seilen, mit denen sie in der Erde verankert gewesen.

[S. 86]

Der Fremde war nicht gekommen.

Gerhard Hoyermann sah auf die Uhr.

Er trat in den Tempel; kein Priester, kein Betender war zu erblicken.

Als Gerhard Hoyermann zum zweiten Male nach der Zeit sah, waren zwanzig Minuten über die bestimmte Zeit verstrichen.

»Um so besser,« sagte Hoyermann halblaut. »Dann reisen wir also morgen ...«

Nach weiteren zehn Minuten beschloß er, noch einmal rund um den Tempel zu gehen, um ja sicher zu sein, daß er den Fremden nicht an falscher Stelle gesucht.

Als er die Rückwand des Tempels erreicht hatte, fand er ihn.

Es war schon sehr dämmerig, und der Regen trübte den Tag noch mehr. Aber Gerhard Hoyermann erkannte den Mann sofort.

Er lag neben einer umgestürzten Fichte auf dem Rücken; sein langes Haar fiel ihm in die Augen, die nach oben starrten und einen merkwürdigen fischigen Glanz hatten. Der Mund stand offen und war so sehr verzerrt, daß es schien, als grinse er in einem ungeheuren, lautlosen Gelächter. Die starken weißen Zähne bleckten ganz entblößt.

Der Mann war tot.

Er war erwürgt worden; mit einem guten Griff.

[S. 87]

Dschiu Dschitsu, dachte Hoyermann mechanisch. Er schüttelte sich, in einem plötzlichen Zittern wütendster Wut. Dann packte er den Toten, dessen Last er nicht fühlte, und schleppte ihn in den Tempel der Kwan-on.

»Mag sie samt denen, die zu ihr beten, zusehen, wie sie mit ihm fertigwerden,« dachte er...

Als er heimkam, trat ihm Beate mit der Frage entgegen, ob er Takejiro entlassen habe.

»Nein.«

»Er ist aber fort, samt seinen Sachen.«

»Laß ihn laufen,« sagte Gerhard Hoyermann schwerfällig. Er setzte sich und legte den Kopf in die Hände.

»Was hast du?« fragte seine Frau und griff nach seiner Schulter.

Da erzählte er ihr.

Beate wurde grau im Gesicht.

»Glaubst du,« sagte sie und würgte an den Worten, »daß Takejiro ... euch belauscht hat und dann ...«

»Sehr möglich ...«

»Und du willst ihn laufen lassen —?!«

Gerhard Hoyermann zuckte die Achseln.

»Was willst du? Wenn er den Mord im Auftrag der Polizei beging, was mich gar nicht wundern würde und sehr wahrscheinlich ist, denn der Tote war entschlossen und tüchtig in[S. 88] seinem Fach —, dann wird die Polizei ihn schützen. Und wenn wir oder irgend jemand sonst bei der deutschen Gesandtschaft vorstellig würden und diese die Bestrafung des Mörders forderte, dann sei versichert, daß sich irgendeiner finden würde, der den Mord auf sich nähme und sich hängen ließe für den wirklichen Mörder, der vielleicht seinem Lande noch nützlich sein kann ...«

Er stand auf und reckte die Schultern.

»Wir leben nicht unter Menschen — wir leben unter Begriffen, Beate ... Und die haben in einem Lande, wie dieses ist, das ewige Leben ...«

Er hatte das Wort noch im Munde, als Tystendal hereintrat. Er hatte ein Zeitungsblatt in der Hand ...

»Das Ultimatum Österreichs an Serbien,« sagte er.

»Gut!« sagte Gerhard Hoyermann nachdrücklich.


[S. 89]

3

Beate lag in ihrem Zimmer, dessen papierene Wände in der Nacht wie Milchglas matt schimmerten, und wartete auf ihren Mann.

Umè hatte der Herrin das Lager aus vielen kostbar seidenen und wattierten Futons übereinander geschichtet und auch das hölzerne Bänkchen bereitgestellt, auf das die Japanerinnen ihre kunstvoll frisierten Köpfe legen und das, nach unerforschtem Brauch, so heilig ist, daß niemand es versehentlich stößt, ohne es um Verzeihung zu bitten. Die Herrin hatte zwar erklärt, seiner nicht zu bedürfen, aber Umè hielt es immerhin für besser, wenn es an seinem Platze stand.

Draußen schritt eine wunderschöne Sommernacht über Land und See. Die Frösche quakten, aber ganz fern; manchmal rief ein Vogel einen einzigen, schwermütigen Laut in die milde Tiefe der Dunkelheit. Unten am Teich schwatzte der kleine Wasserfall.

Beate lag auf dem Rücken und hatte den Kopf ganz in den Nacken gebeugt. Sie hatte[S. 90] ein Gefühl, als träte jede einzelne Minute auf ihren Leib, und sie könnte sich nicht wehren. Ihre weit offenen Augen sahen gegen die Decke des niedrigen Zimmers; aber sie waren wie blind.

Sie lauschte.

Es war schon sehr spät — weit nach Mitternacht. Gerhard hatte sich in der Stadt mit Tystendal verabredet. Sie waren jetzt oft zusammen, die Freunde; öfter noch als sonst. Und wenn er dann nach Hause kam, blieben doch seine Augen wie weit fort, und seine Liebkosungen waren ein wenig traurig.

Jedesmal, wenn er sie dann küßte, beugte sich Beate in seinen Armen zurück und hielt mit ihren Händen seinen Nacken und sah ihn verzweifelt an. Sie wollte ihn fragen: »Was hast du? — Was verschweigst du mir?« Aber sie fragte nicht. Sie hatte Angst vor seiner Antwort.

Aber nun ertrug sie es nicht mehr.

Vom ersten Tage ihrer Ehe an war sie gewöhnt gewesen, daß sie beide alles, was sie zwischen zwei Dämmerungen erlebt hatten, zusammenpackten und zueinander brachten, um es auszutauschen. Sie pflegten sich gegenseitig bei den Ohren zu nehmen und dem anderen vorzuwerfen, daß er verschwenderisch und aus der Maßen leichtsinnig sei, um sich am Ende dieser[S. 91] Auseinandersetzungen mit blanken Augen anzulachen — Gerhard mit seinem urwalderschütternden Gedröhn und sie mit ihrem leichtfüßigen Jauchzen darüberkletternd: »Hohoho, meine Löwin —!« ... »Bär! Bär, du hast eine schwarze Nasenspitze — hahei!«

Nein, sie waren ganz taumelig — total verrückt — und glücklich, glücklich — glücklich — ach! Die ganze Welt tanzte in der Hand ihres vergnügten Schöpfers ...

Nun, seit Tagen, schwiegen sie voreinander.

Aber sie wollte nicht mehr schweigen. Sie wollte nicht mehr, weil sie nicht mehr konnte. Sie würde ihn fragen, beide Hände auf seine Brust gelegt, als wollte sie an seinem Herzen anpochen ... Gerd —?

Dann mußte er Antwort geben.

Und darum wartete sie auf ihn mit offenen Augen, während sie in ihrem Zimmer mit den milchigen Wänden lag und die Dunkelheit um das Haus herfloß wie ruhig ziehendes, tiefes Wasser um einen gläsernen Schrein.

Die kleineren Sterne waren schon unsichtbar geworden, als Gerhard Hoyermann nach Hause kam. Beates Ohren, durch das schweigsame Lauschen in die Stille hinein geschärft, hörten das Knirschen des feinen Sandes, in dem das Boot auflief, und dann die Schritte ihres Mannes, die sich dem Hause näherten.

[S. 92]

Aber er kam nicht herein.

Sie hörte, wie er stehenblieb und dann zögernd wieder ging; doch nicht zu ihr. Er ging durch den Garten. Nun entfernten sich seine Schritte; nun kamen sie wieder näher; sie wanderten um das stille, wartende Haus, ruhelos und müde; so wie Verbannte um die Grenzen ihrer Heimat schleichen, dachte Beate. Sie lag noch immer, als könnte sie sich nicht rühren, mit offenen Augen und Lippen, die eine uneingestandene Bitterkeit ein wenig herbe machte.

Doch als die Schritte draußen den Weg zu ihr nicht finden konnten, obgleich es schien, als sehnten sie sich sehr, hereingerufen zu werden, stand sie auf und tastete sich, unsicheren Ganges, nach der Tür, die auf die Veranda führte. Sie schob sie auf und beugte sich, vortretend, über das schmale Geländer.

Die Nacht war nicht dunkel. Sie konnte den Mann gut sehen, der mit gesenktem Kopf unter den Pflaumenbäumen hinging. Er trug den Hut in der Hand.

»Gerd —!« rief sie halblaut.

Er fuhr zusammen und kam auf sie zu — so eilig, als wollte er einer Frage zuvorkommen.

»Mein Liebling ...«

»Ich hörte dich durch den Garten gehen ... Warum kommst du nicht herein?«

»... Ich wollte dich nicht wecken.«

[S. 93]

»Ich schlief nicht ...«

Er entgegnete nichts, sondern kam herauf und in das Zimmer, in das Beate zurückgetreten war. Sie wartete, ob er etwas sagen würde. Er schwieg aber, strich nur, als er an ihr vorüberging, mit seiner Hand über ihre Schulter. Ein sinnloses Schluchzen stieg der Frau in die Kehle. Aber es wurde nicht laut.

Sie legte sich nieder und wartete. Plötzlich, als fühlte er die Stille des Zimmers körperlich und peinigend, sagte er laut: »Tystendal läßt sich dir empfehlen ...«

»Danke schön ... Warst du mit ihm allein?«

»... Entschuldige ... was fragtest du?«

Beate schluckte. »Laß nur, es war nichts Wichtiges ...«

»Ob ich mit ihm allein war ... ja, natürlich ... Habe ich dir seine Grüße ausgerichtet?«

Beate gab keine Antwort. Er schien auch keine erwartet zu haben, denn er fragte nicht zum zweiten Male. Er legte sich nieder, atmete tief und lag still.

»Gute Nacht, mein Liebling,« sagte er halblaut mit jener schweren und traurigen Zärtlichkeit, die sie ganz verstörte. »Schlaf gut ...«

Sie gab ihm den Wunsch nicht zurück.

Sie wartete eine Weile und horchte auf seine Atemzüge. Sie fühlte, daß er nicht einschlafen konnte. Sie richtete sich behutsam auf[S. 94] und beugte sich über ihn. Seine Augen standen weit offen.

Da legte sie ihre Hände auf seine Brust, so wie sie es hatte tun wollen und sich gesehnt zu tun, und fragte: »Gerd ...?«

»Ja, Beate?«

»Gerd, warum verschweigst du mir auf einmal so vieles?«

Er sagte nichts. Sie fühlte sein Herz unter ihrer Hand.

»Früher«, fuhr sie fort — und ihre Stimme war wie die des kleinen Vogels, der in der Nacht nach seinem Freunde rief — »sprachen wir zueinander von jeder Stunde des Tages, von den fröhlichen und den traurigen. Ich weiß nichts, was ich dir jemals nicht gesagt hätte, und glaube nicht, daß du mir etwas verschwiegst ... Ich kam immer zu dir gelaufen und mußte alles erzählen, und so tatest du auch, und wir teilten uns hinein — ... War das schön?«

»Ja, Beate ...«

»Und wenn wir Sorgen hatten oder Kummer — und wenn wir einmal nicht wußten, wo ein noch aus ... Gerd, wir haben uns so fest bei der Hand gehalten und sind uns so nahe gewesen in schweren und schwersten Stunden, daß es war, als läge alle Last auf einer Schulter, und doch war's deine und meine ... Aber wir spürten die Last kaum, weil wir zusammen gingen ...[S. 95] Ich glaubte, ich sei dir ein guter Kamerad gewesen ...«

»Das warst du, Beate — weiß Gott!«

»Warum schiebst du mich dann jetzt beiseite, Gerd?«

»Das tu' ich nicht — nein ... Ich wollte nur noch ein wenig warten, Beate ... Wir werden leicht feige, wenn wir wehtun müssen, nicht wahr?«

»Mußt du mir weh tun, Gerd?«

»Ja, mein Liebling ...«

»Ich will dir schon stillhalten.«

Gerhard Hoyermann hob die Hand und legte sie um den Nacken seiner Frau.

»Ich möchte jetzt wohl dein Lächeln sehen,« sagte er nachdenklich. »Ich weiß noch, wie du damals lächeltest, als ich nach Hause kam und sagte: ›Ich habe das Fieber‹ ... ›Das wollen wir schon unterkriegen‹ sagtest du und lächeltest und warst so weiß wie dein Kleid ... Damals warst du ergreifend schön; ich hab's nie vergessen können ...«

»Sprich nicht von damals,« sagte Beate und netzte ihre spröden Lippen. »Sprich von heut.«

»Ja. Das muß ich auch ... Nun, der Krieg ist erklärt ...«

»Zwischen Österreich und Serbien?«

»Ja.«

Beate sagte nichts. Erst nach einer Weile fragte sie: »Und Rußland?«

[S. 96]

»Rußland mobilisiert ...«

»Aber ... der Zar — hast du die Depeschen nicht gelesen, die zwischen dem Zaren und dem Kaiser gewechselt worden sind? Der Zar hat sein Ehrenwort gegeben.«

»›Ehrenwort‹ klingt anders in russischer Sprache als in deutscher,« sagte Gerhard Hoyermann mit einiger Bitterkeit.

»Du glaubst also — daß der europäische Krieg unvermeidlich sein wird?«

»Ich hoff's, Beate — ich hoff's —!« rief der Mann und hob die Arme über den Kopf. »Herrgott, wenn wir nur jetzt nicht wieder zurückzucken! Wenn wir nur jetzt fest bleiben! Wenn es nur um Gottes willen nicht wieder wie damals wird bei der Marokkogeschichte! Wir gehen vor die Hunde, wenn der Krieg nicht kommt! Rußland, England, Frankreich treten uns mit den Stiefelabsätzen im Gesicht herum — und wenn wir jetzt unsere Stellung in der Welt nicht wahren, fressen sie uns auf wie die Geier ein Aas —! Ach wir — wir mit unserer blonden, satten, himmelstürmenden Gutgläubigkeit —! Wir Narren, wir Hanswurste der Weltgeschichte! — Wir haben die Kraft und die Begabung, um dem ganzen Erdball unseren Stempel aufzuprägen — und wir bücken uns und heben den Abfall auf, den die Herren an der Tafel uns übriglassen ...! Sag mir nichts, Beate — es[S. 97] muß einmal herunter! Es würgt mich lange genug ...«

»Ich sage nichts, Gerd ...«

»Sieh dir unsere Kolonien an — was sind sie? Ein Flicken auf der Landkarte! Wir plagen uns nach dem Worte der Bibel mit Dornen und Disteln um den Acker herum ... und bei den anderen trägt er, kaum daß sie säen, zweimal Frucht. Warum? — weil wir zu spät kamen! Sieh dir unsere Flotte an! Ja! — ja! Sie entwickelt sich und wächst, und es stehen Kerle an ihrer Spitze, bei denen einem das Herz im Leibe lacht ... Und laß den Krieg kommen — was dann? Dann fegen die englischen Kreuzer das Weltmeer rein, und wir müssen hinunter, und sie bleiben obenauf! Warum? — weil wir zu spät kamen! Glaube mir, Beate: es wird Zeit, daß wir hochgerüttelt werden! Uns muß man schon hart packen, wenn wir's glauben sollen, daß es ernst gemeint ist! Uns muß man schon mit Kolbenstößen auf den Platz befördern, auf den wir von Rechts wegen gehören — und auch dann bitten wir noch vielmals um Entschuldigung, daß wir uns erlauben, das tüchtigste Volk zwischen beiden Polen zu sein ...«

»Du mußt nicht hart sprechen von Deutschland,« sagte Beate; »nicht hier ...«

»Warum tu' ich's denn?« fragte der Mann und richtete sich auf. »Weil ich das Land liebe[S. 98] — liebe mit einem solchen Zorn und einer solchen Inbrunst, daß ich daran innerlich zugrunde gehen könnte ... Und darum wünsche ich ihm den Krieg — ja, das tue ich!«

Es war eine Weile still zwischen den zwei Menschen. Beate sah vor sich hin.

»All das«, meinte sie dann, »war es nicht, was du mir sagen mußtest, Gerd. Ich warte noch darauf ... Du sagtest, du müßtest mir weh tun ... Tu's! ... Ich kann's schon ertragen, wenn es von dir kommt ...«

Gerhard Hoyermann lag ganz still. Beate konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber sie fühlte, daß er sie nicht ansah.

»Beate,« fing er an und hob die Hand zu ihrem Arm, »wenn wir in Deutschland wären und es gäbe Krieg ...«

Er hielt inne. Beate sagte nichts. Sie saß aufrecht in den seidenen Decken und hatte die Finger ineinandergeschlungen. Sie wußte, was nun kommen würde. Sie wußte auch, daß er hoffte, sie würde ihm das bittere Wort aus dem Munde nehmen. Aber sie tat es nicht. Sie spürte das aufdämmernde Wissen von dem, was er sagen wollte, wie einen galligen Geschmack im Munde und dachte, ungerecht vor Jammer: Mag er es auskosten, das Bittere, das er mir zu trinken gibt ...

»Ich glaube, du würdest wohl weinen, Beate,[S. 99] wenn ich in den Krieg ginge,« fuhr Gerhard Hoyermann fort, und seine Stimme klang merkwürdig still. »Aber du würdest mich nicht zurückzuhalten suchen, wenn ich mich freiwillig stellte bei meinem alten Regiment — nicht wahr?«

Beate schwieg. Alle ihre Muskeln spannten sich unbewußt, wie bei einem Menschen, der einen schweren Stoß erwartet; sie hielt den Atem zurück.

»Warum antwortest du mir nicht, Beate?«

»Sprich weiter,« murmelte sie zwischen den Zähnen.

»Es ist nicht viel zu sagen, liebste Frau ... Du bist immer tapfer gewesen, warst ein guter Kamerad und hast den Kopf nicht verloren, wenn du auch wußtest — damals in Afrika —, daß ich nicht von jedem Ausmarsch wiederzukommen brauchte. Du ließest mich immer ohne Klage gehen, denn ich hatte meine Pflicht zu tun. Und wenn du sie auch nicht immer liebtest, so hast du sie doch geachtet ... Mehr will ich schließlich auch heute nicht von dir ... Du sollst mich gehen lassen und tapfer sein ...«

»Gehen ... wohin?«

»Nach Hause, Beate ...«

»Das können wir ja nicht — wir kommen ja nicht mehr durch ... sagte der fremde Mensch neulich — und Tystendal meinte es auch ...«

»Es handelt sich nicht um uns, Beate — es[S. 100] handelt sich nur um mich,« sagte Gerhard Hoyermann.

»— Was sagst du —?«

»Ich würde versuchen, allein durchzukommen ... Ein Mann kann hundert Wege gehen, die einer Frau versperrt sind; wir müßten uns trennen, Beate — ja!«

Beate holte tief Atem. Und dann hob sie die Hand und strich damit durch die Luft, als schnitte sie etwas mitten entzwei.

»Niemals!« sagte sie. Sie sagte es ohne jede Leidenschaft, mit einem tief schwingenden Ton. Aber das Wort stand wie ein Baum.

»Doch, Beate — doch!«

»Niemals! Und wenn du hunderttausendmal dein ›Doch!‹ sagst, — ich antworte dir hunderttausendmal ›Niemals!‹ Du hast mich eine tapfere Frau genannt. Gut. Das will ich sein. Es war noch kein Weg in unserem Leben, den wir nicht zusammen gegangen sind, und wenn ihn nie zuvor eine Frau gegangen war. Ich trenne mich nicht von dir, Gerd — mag kommen, was will! Es kann dein Ernst nicht sein, das von mir zu verlangen ...«

Er wollte reden, aber sie verschloß ihm den Mund mit der Hand, und ihre fiebernden Worte überstürzten sich und bebten jetzt vor Angst wie frierende Vögel, weil sie fürchteten, doch — doch vielleicht vergeblich zu sein.

[S. 101]

»Du mußt mich nicht mißverstehen, Gerd ... es ist nicht, daß du in den Krieg willst ... Gott im Himmel, das weiß ich, daß ich dich da nicht festhalten dürfte — und wenn ich weinte ... ich bin eine Frau, Gerd ... und Bäume, in die man mit der Axt hineinschlägt, die weinen auch ... Nein, nein, ich ließe dich gehen! Ich würde vielleicht auch fröhlich tun und sagen, daß ich ganz voller Zuversicht sei und wüßte, du kämst mir wieder ... Das ist es nicht, Gerd — das nicht! Aber daß du fortgehen willst von hier — und mich zurücklassen — und ich weiß nicht, ob dir deine Flucht gelingt, ob du — Gott weiß, auf welchen Wegen — nach Deutschland gelangst ... Soll ich hier sitzen, Tage um Tage und Wochen um Wochen, und nicht wissen, wo du bist — ob daheim oder in Gefangenschaft oder irgendwo im Kriege — soll hier in den Nächten liegen und die Stunden über mich hingehen fühlen und Narrenspiele treiben mit sinnlosen Orakeln: Lebst du? Bist du tot —? Soll keinen Brief von dir erwarten dürfen — nichts dir selber geben ... soll meine Angst und meine Hoffnung, die beide keinen Bürgen haben, auf die weißen Blätter schreiben und denken: Vielleicht wirst du sie niemals lesen ...! Das kannst du nicht von mir verlangen, Gerd —? Das kannst du nicht von mir verlangen —!«

[S. 102]

Sie schluchzte auf und erstickte den jämmerlichen Laut mit beiden hochgerissenen Händen, die sie an den Mund preßte. Sie wollte nicht weinen, nein; das war nicht die Stunde zum Weinen; sie mußte die Gedanken klar behalten, um den großen Kampf gut führen zu können. Weinen ist ein Entspannen aller Kraft — und sie brauchte ihre straffen Kräfte.

Sie war nicht erfahren in Weibesmitteln, hatte niemals solche Waffen geübt noch gebraucht; doch mit dem Tastsinn ihrer verzweifelten Angst griff sie unbewußt nach der stärksten. Sie gab sich ganz auf und hin, warf sich gleichsam muskellos, den Jammer ihrer Seele ganz entblößend und aussagend, in die Hände des Mannes und rief seine Großmut an ...

»Du sagst, ich sei tapfer, Gerd ... ich bin's auch — aber nicht ohne dich! Ich bin feige und elend ohne dich ... Wenn du mir heute sagst: Ich will im Ruderboot mit dir über den Atlantischen Ozean — da besinn' ich mich nicht einen Augenblick, ich fahre mit dir ... Und wenn du quer durch Sibirien laufen willst oder durch Tibet — sag mir nur, wann du aufbrechen willst; ich gehe mit ... Ich will mich verkleiden — als Mann, als was du willst. Du wirst mich nie müde finden, nie ängstlich oder verdrossen ... Ich will wie dein junger Bruder sein, Gerd — ganz unerschrocken, ganz unermüdlich ... Aber[S. 103] laß mich nicht allein —! Laß mich um Gottes, um Himmels willen nicht allein, Gerd —!«

Sie spürte sein tiefes Atemholen und schob sich näher zu ihm hin, kauerte sich ganz zusammengeduckt neben seine Brust und schob ihre flatternden Hände, die wie geblendete Vögel umherirrten, nach seinem Munde.

»Sprich nicht,« bettelte sie; »sprich noch nicht ... Ich habe dir ja noch nichts gesagt — noch nichts von allem, was wichtig ist ... Ich weiß auch nicht, wie ich es sagen soll ... Der Kopf tut mir weh ... Ich bin auch nicht beredt — hab' dich noch nie um etwas so bitten müssen ... Hab Mitleid mit mir, Gerd ... ich geh' daran zugrunde ... Was soll ich zu dir reden, Gerd ...? Welche Worte muß ich finden, damit du mich hörst —? Du hörst mich nicht ... du siehst mich nicht an ... Ich liege hier und bettle um mein Leben, und du siehst mich nicht an ... Hast du alles vergessen, Gerd, was wir uns gewesen sind? Soll das alles vorbei sein? — Ich liebe dich ... ich liebe dich ... Ich kann dir nichts anderes sagen als dies: Laß mich nicht so bettelarm fortgehen, Gerd ...«

Ihr blutendes Stammeln erlosch; sie beugte den Kopf auf ihre Hände und weinte.

Gerhard Hoyermann streichelte ihr Haar. Er zog sie zu sich nieder und hielt sie an seinem Herzen fest. Und als ihr Weinen leiser geworden[S. 104] war und der Krampf ihres Körpers nachließ, begann er zu sprechen. Er sprach sehr leise, und sie spürte die Schläge seines Herzens hart und stark.

»Meine arme kleine Beate ... nun hast du mir dein ganzes Herz gezeigt; das war schön, Beate — wunderschön ... Und ich will dir auch das meine zeigen, damit du nicht dastehen und glauben könntest, du habest dich vor einem enthüllt, der nicht wüßte, was du damit getan ... Es ist nicht wahr, daß du unberedt seist, geliebte Frau ... Du hast mir alles gesagt, was ein Mensch dem anderen sagen kann, um ihn zu sich hinüberzurufen — auf die andere Seite ... Ich will nichts anderes tun. Ich will dir alles sagen. Und ich lege die Entscheidung in deine Hände ... Ja, das tue ich ...«

Beate hielt den Atem an. Sie lag wie eine Tote. Noch ehe er zu sprechen anfing, wußte sie, was das Ende sein würde. Er kannte sie und wußte, was er tat, wenn er die Entscheidung in ihre Hände legte.

»Daß wir gemeinsam versuchen könnten, nach Deutschland zu gelangen, Beate — daran ist nicht zu denken ... Am allerwenigsten von hier aus ... Bis zum Suezkanal kämen wir — vielleicht. Dann würden sie uns wohl aufgreifen ... Wir müßten also hierbleiben. Oder nach Amerika gehen. Das bliebe sich gleich.[S. 105] Wo wir auch wären, wir wären nirgends auf deutschem Boden ... Vielleicht würde das Leben, das wir führten, sehr schön sein, sehr bequem und sorgenlos. Vielleicht wäre die Natur um uns her so ergreifend schön, daß wir sie schmerzlich lieben müßten. Vielleicht fänden wir auch Menschen, die uns wert würden — wer weiß es? Vielleicht kämen Stunden, in denen wir sehr glücklich wären und uns aneinanderklammerten und dächten: Gott sei Dank — Gott sei Dank, daß wir uns haben und fühlen mit unseren Händen und Lippen ...

»Aber dann, Beate, die anderen Stunden, die ganz gewiß kämen — und reichlicher mit jedem Tage ... in denen einer von uns das Wort Krieg ausspricht ... Im Anfang hätten wir wohl noch den Mut dazu. Dann hätten wir ihn nicht mehr. Denn wir lieben unsere Heimat, Beate, nicht wahr? ... Und wir würden denken: Da drüben auf der anderen Seite der Erdkugel, da ist Krieg. Da ereignet sich das Größte, was Menschen erleben können. Und wir sind nicht dabei. Deutschland schlägt seinen wildesten Krieg; aber wir wissen nicht — bis zum Ende nicht —, ob es siegt oder unterliegt ... Denn der arme Teufel, den sie neulich erdrosselt haben, weil er zu gute Ohren hatte, der sprach ganz gewiß eine bittere Wahrheit, als er sagte, daß die Hauptsprache dieses Krieges die englische sein[S. 106] wird — Zeitungsenglisch, Beate. Wenn wir siegen, werden sie stumm sein; wenn wir unterliegen, werden sie's verdreifachen — aber immer werden wir im ungewissen sein. Vielleicht lügen sie auch — es ist ihnen schon zuzutrauen — und dann quälen wir uns im Dunkeln und schlagen uns Kopf und Hände an türenlosen Mauern wund ...

»Und wenn wir erst einmal so weit sind — Beate, ich denke mir dann meine Tage und Nächte aus ... ja, ja, Geliebte, ganz eigensüchtig denke ich nur an mich dabei — den Mann.... Ich sitze hier, die Hände im Schoß, und genieße mein Dasein, nicht wahr? Ich freue mich am guten Wetter, gehe auf die Jagd, treibe Sport und lebe meiner Gesundheit, nicht wahr? Ich kaufe schöne, bunte Stoffe und fremden, verwirrenden Schmuck und putze meine Frau damit. Ich habe ein gutes Gewissen, denn ich bin ja verhindert worden, nach Hause zu fahren, um mich zu stellen. Ich hätte es gern getan, gewiß — aber man hat mir abgeraten ... Kannst du dir das ausdenken, Beate?«

Die Frau gab keine Antwort.

»Du sagtest,« fuhr Gerhard Hoyermann fort und zog sie fester an sich, »du habest mich lieb ... Ich liebe dich, weiß Gott, so sehr, mein Herz, daß ich keinen Maßstab dafür habe. Du weißt es auch. Wir haben am Alltag keine Worte[S. 107] dafür; aber tief in uns, wo die Feiertage unserer Seelen liegen, da sind wir uns dessen ganz bewußt, daß unsere Liebe etwas unbegreiflich Wundervolles ist. Das will ich uns erhalten. Ich will nicht, daß wir uns eines Tages mit heimlich feindseligen Blicken betrachten, wie die Menschen tun, die unglücklich und einsam sind und ohne Vertrauen zueinander, weil sie sich nicht mehr achten. Das ist es, Beate ... Wir würden anfangen, uns selbst zu hassen, weil wir um unserer Liebe willen feige waren. Und dann würden wir unsere Liebe hassen ... Vielleicht würde ein Tag kommen, wo mich der Ekel vor mir und meiner Tatenlosigkeit so würgen würde, daß ich nicht gut zu dir sein könnte, nur weil der Mann und Soldat in mir sich schämten. Und weil wir ungerecht werden, wenn wir unglücklich sind, darum ließe ich es dich vielleicht entgelten, und unsere Ehe würde in Scherben gehen. Kannst du dir die Zeit ausdenken, Beate, da wir es vermeiden würden, uns in die Augen zu sehen ...? Und die Zeit müßte kommen, weil wir sind, wie wir sind. Aber ich will sie nicht erleben ...«

»Ich auch nicht,« flüsterte Beate mit einem Schauder, der ihr die Hände krampfte.

»Nicht wahr, mein Liebling ... Und das kannst du nicht wollen, du, die mich liebhat, daß ich hier liegen soll wie ein Tier im Käfig,[S. 108] wie ein — wie ein leckes Schiff ... es gibt ja keinen Vergleich für einen Menschen wie mich, mit gesunden Knochen und als tüchtiger Soldat erprobt, der irgendwo in der Welt dem Herrgott die Tage stiehlt, während in der Heimat die Erde brennt — das kannst du nicht wollen, Beate — nicht wahr, nein?«

Beate gab auch jetzt keine Antwort. Sie wußte, daß ihr Schicksal besiegelt war, aber sie begriff es noch nicht. Sie betrog sich noch selbst.

Natürlich ist das alles Unsinn ... dachte sie. Entweder ich träume — dann wird es süß sein, aufzuwachen und Gerhard neben sich zu fühlen — und dann am Morgen ihm den Traum zu erzählen und sich von ihm auslachen zu lassen ... Oder er spricht wirklich zu mir — dann scherzt er nur; er will sehen, was ich ihm antworte ... ich muß ein wenig auf der Hut sein mit meiner Antwort ... sonst neckt er mich bis ans Ende meiner Tage damit, daß ich mich — damals — ins Bockshorn jagen ließ ...

Und über diesen Gedanken, die sich duckten und krümmten, lag die Erkenntnis dessen, was wirklich war, richtete sich auf und reckte sich und griff mit hartem Griff nach allen anderen, verlogenen Gedanken.

»Mein Gott, mein Gott —!« murmelte sie und hob ihre beiden Hände mit einer ganz verstörten Gebärde zu den Schläfen. Sie preßte[S. 109] die Zähne in die Lippen, daß sie stöhnen mußte. Ich will mich zusammennehmen, dachte sie. Sonst verliere ich den Verstand ... und den darf ich nicht verlieren ...

»Es gibt keinen anderen Weg,« sagte sie vor sich hin; es war aber keine Frage.

»Wenn's einen gäbe, Beate — ich hätt' ihn gefunden ... Aber es gibt keinen. Ich allein schlage mich vielleicht durch. Wenn es mißlingt, dann hab' ich wenigstens das Bewußtsein, das Menschenmögliche versucht zu haben. Doch ich hoffe, es gelingt mir. Tystendal wird mir helfen. Aber ich habe die Entscheidung in deine Hände gelegt, geliebte Frau. Ich hab' nichts mehr zu sagen ...«

»Es ist auch nichts mehr zu sagen,« antwortete Beate halb gedankenlos. »Du wirst fortgehen, und ich werde hierbleiben. Es ist eigentlich ganz einfach. Es ist gar nicht so schwer zu verstehen ... Ich kann mir nur vorläufig noch nichts darunter denken ... sei nicht böse ...«

»Sei still —!« sagte der Mann, fast rufend.

Und so wie sie lagen, Brust an Brust, spürte eins das Beben des anderen, den würgenden Jammer vor dem, was kommen würde; und sie küßten sich, um nicht zu stöhnen.

»Wann willst du fort?« fragte Beate und reckte sich unwillkürlich auf, als wollte sie den Schlag des Wortes gewappneter empfangen.

[S. 110]

»Heute noch, mein Liebling,« sagte Gerhard Hoyermann.

»Heu—te ...?!!« Sie riß sich auf die Knie hoch und beugte sich zurück, daß sie die Hände gegen die Wand stemmen mußte, um nicht zu fallen. »Heute — hast du gesagt —?!«

»Beate, Beate —!« Er sprang auf und griff nach ihren Händen, um sie aufzuheben, aber sie wehrte sich, schüttelte den Kopf, umschlang seine Knie und preßte ihre Stirn dagegen.

Sie war nicht mehr tapfer, nein — sie konnte nicht mehr. Sie wollte auch nicht mehr. Was lag daran, ob sie kraftlos wurde im Weinen, ob sie vollkommen ihrem Jammer unterlag. Sie schrie die bittere Not ihres Herzens aus, und das hilflose Schluchzen rüttelte sie: »Heute, Gerd — heute —?!«

»Ja ... Es ist gleich, Beate, ob heute oder morgen ... es wäre nur ein längeres Abschiednehmen ... Liebes Kind — Beate, als ich vorhin durch den Garten lief und mich nicht zu dir hineingetraute, da war ich so feige, daß ich den Gedanken erwog, heimlich, in aller Stille fortzugehen und dir nur zu schreiben ... Aber ich sehnte mich danach, den Abschied mit dir zu teilen und deinen Kummer und deine Tränen wie ein Geschenk zu empfangen und mit mir zu nehmen ... So eigensüchtig war ich, Beate. Gönn es mir. Es[S. 111] wird für lange Zeit das Letzte sein, was ich von dir empfange.«

Beate verstand nichts von dem, was er sagte. Der grauende Tag, der die Dunkelheit auch von ihrem Gesicht wischte, ließ ihre Züge erkennen. Und Gerhard Hoyermann bückte sich, um diese Züge, die er nicht ertragen konnte, mit seinen Händen zuzudecken.

Unter seinen Fingern wiederholte sie, wie eine Blöde, ausdruckslos: »Heute?« Und immer wieder: »Heute —?«

Gerhard Hoyermann sagte nichts. Es war eine Weile völlig still in dem dämmerigen Zimmer. Dann stand Beate auf; er half ihr, aber sie sah ihn nicht an.

»Ich muß dann wohl packen — für dich,« murmelte sie.

»Nein, Beate ... Ich darf nichts mitnehmen. Ich muß fortgehen wie zu einem Ausflug. Tystendal wird mich abholen, als wollten wir nach Enoshima — für ein, zwei Tage ... Du weißt, wie wir beobachtet werden ... Alles hängt davon ab, daß ich unbemerkt von hier fortkomme. Das Spätere muß sich aus den Umständen ergeben. Ich kann keinerlei Pläne machen, kann dir auch nichts mitteilen — entsinne dich, was der Mann, den sie ermordet haben, von unseren Briefen sagte ... Vielleicht ist es mir möglich, dir durch Tystendal Nachricht zu schicken ...«

[S. 112]

»Er wird dich abholen,« wiederholte sie stumpf.

»Ja.«

Sie nickte vor sich hin. »Das wird wohl das beste sein,« meinte sie und rieb sich die Stirn, wie ein Mensch, der sich auf sich selbst besinnen möchte. »Wann wird er kommen?«

»Gegen acht Uhr ...«

»So bald,« sagte sie vor sich hin. Und als er sprechen wollte, schüttelte sie den Kopf. »Laß nur,« sagte sie. »Es tut nichts. Jede Stunde ist die gleiche, wenn sie die letzte sein soll. Dann besser bald. Dann besser gleich. Wir wollen uns nicht aneinander quälen. Du bist sehr gefaßt. Ich will es auch sein. Du sollst dich nicht in mir getäuscht haben ...«

Gerhard Hoyermann sah seine Frau an und schüttelte den Kopf.

»Jetzt bist du ein wenig ungerecht gegen mich, Beate,« sagte er still.

Sie stand mit hängenden Armen.

»Es mag sein,« antwortete sie und sah vor sich hin. »Aber du mußt mich jetzt schon lassen, wie ich bin. Sonst ... stehe ich nicht sehr fest auf den Füßen. Und das muß ich doch ... Vielleicht ist es notwendig, daß eine Frau ganz ausgelöscht wird, wenn der Mann für einen ganz nur männlichen Gedanken brennt. Ich glaub' es fast und sehe es auch ein. Aber es wird dadurch[S. 113] nicht leichter ... Morgen schon ... und später jeden Tag und jede Nacht, Gerd, will ich dir alles abbitten, was jetzt in mir an Bitterkeit ist; heute laß mich nur ... Es tut zuweilen ganz gut, ungerecht zu sein, und es hilft einem weiter als alle gute Erkenntnis ...«

Sie tat ein paar Schritte und blieb verwirrt stehen, als er ihr in den Weg trat.

»Wo willst du hin, Beate?«

»Ich weiß es nicht,« sagte sie. Und sie sagte die Wahrheit.

Da nahm er sie in seine Arme ...

Es war der kleinen pechäugigen Umè durchaus nicht abzugewöhnen gewesen, daß sie einfach in das Schlafzimmer ihrer Gebieterin und deren verehrungswürdigen Gemahls trat, wenn sie es für angemessen hielt. Der Verehrungswürdige hatte sich das schon zu verschiedensten Malen verbeten, ohne die Kraft seiner Stimme im geringsten zu schonen, und hatte sich etliche Gelegenheiten, seine Wurfsicherheit zu erproben, nicht entgehen lassen. Aber Umè wußte, was sich für eine japanische Dienerin schickte. Sie sammelte die Gegenstände, die ihr an den Kopf geflogen waren, sorgfältig auf und stellte sie dem Gebieter mit einer untertänigen Verbeugung für späteren Gebrauch wieder zur Verfügung. Und blieb ... Lag an der Türe auf den Knien und blieb. Daß ein Mensch sich[S. 114] wusch, war ja nichts, dessen er sich zu schämen gehabt hätte. Höchstens, wenn er sich nicht wusch.

An diesem Morgen erwachte Umè eher als sonst. Sie erwachte von einem Ruf oder einem Schrei, von dem die Luft noch zu beben schien, und sie wußte doch nicht, ob er wirklich war oder ob sie ihn nur geträumt. Aber vielleicht hatte die Herrin nach ihr gerufen. Umè stand auf und schlüpfte, ohne sich anzumelden, wie es ihre bescheidene Erziehung forderte, durch die auseinandergeschobenen Wände ins Zimmer ihrer Herrin.

Nein, die Herrin schlief nicht mehr. Sie stand aufrecht mitten in dem zarten, weiten Gemach, dessen Gartenwand von der aufgehenden Sonne in einen einzigen roten Schimmer verwandelt schien, und sie löste sich aus den Armen ihres lieben Herrn, als sie Umè eintreten hörte, wandte sich um und sah das Mädchen an.

Und obgleich sie lächelte und ganz gewiß nicht zürnte, fiel Umè beim Anblick dieses Lächelns lautlos auf die Knie, neigte die Stirn zu Boden und stand auf und ging hinaus.

Beate rief sie zurück.

»Willst du dem Herrn das Bad zurechtmachen, Umè?«

Gewiß, wenn die Herrin befahl ... Umè[S. 115] war in großer Verwirrung. Sie mußte doch wohl geträumt haben, als sie den Schrei hörte. Und dann hatte die Sonne sie geblendet, als sie vor dem Antlitz ihrer Herrin erschrak. Sie schämte sich sehr.

Das ganze Haus wurde lebendig. Es nahm ein Bad in der sprühenden Sonne, die über das Meer und den feuchten Sand tanzte. Die Schwertlilien, die um den kleinen Teich her standen, taten sich weit auf und schienen vor Entzücken zu beben. Turmhoch über der Insel, in einer Luft, die vor Licht und Frische glitzerte, stand eine Gabelweihe und fiel und schwang sich wieder auf, die Morgenbeute in den Fängen.

Umè haßte die Gabelweihen und die Krähen gleichermaßen und wußte viele Spottlieder auf sie ...

Aber jetzt war keine Zeit zum Singen. Der verehrungswürdige Gebieter wünschte zu frühstücken. »Sofort!« hatte er gesagt.

Wenn der Verehrte mit der Stimme Emm-As, des Gottes der Unterwelt, seine Wünsche durch das Haus donnerte, glaubte Yuki keine Veranlassung zu haben, sich besonders zu beeilen. Sie lächelte dann ermutigend und versprach, daß der Verehrte in kürzester Zeit zufriedengestellt sein würde — ein Versprechen, das sie niemals hielt.

Aber wenn er sehr ruhig sprach, Yuki ansah[S. 116] und »Sofort!« sagte, dann bebte die kleine Kochfrau. Und dann verdarb sie regelmäßig den Tee.

Heute half ihr die Herrin bei dem wichtigen Amte der Teebereitung. Und obgleich Yuki in der Tiefe ihres japanischen Herzens feststellte, was sie längst wußte — daß die hochverehrten Menschen mit der weißen Haut nicht die geringste Ahnung von der Feierlichkeit besaßen, mit der echter Tee bereitet sein wollte, noch von den dabei zu wahrenden Regeln der Höflichkeit und der Schönheit —, so lag doch etwas in den Bewegungen, mit denen die fremde, weiße Frau ihrem lieben Herrn das Frühstück bereitete, das die kleine Yuki nachdenklich stimmte.

Drüben am Strand, den die Ebbe freilegte, hockten Akira und Mosaku bei ihrem Kohlenfeuer, klopften die Pfeifen aus und stopften sie und grinsten sich feindselig an. Sie erhofften viel vom heutigen Tage, denn das Wetter war schön wie eine junge Frau am Morgen der Hochzeit.

Die Wildtauben schwatzten im Gehölz ...

Gerhard und Beate gingen zusammen durch den Garten. Sie gingen Arm in Arm geschlungen und hielten sich an den Händen. Eine Stunde hatten sie noch Zeit. Und der Mann sah sich nicht um in dem Lande, das er verlassen wollte. Aber die Frau ließ ihre Augen über[S. 117] den Garten hingehen, über die Bäume, den Teich und die Blumen, über die mildfarbigen Steine und künstlichen Grotten, über den kleinen Wasserfall, die Goldfische und den klaren Sand der Wege — über all die in sich selbst entzückte Schönheit eines Gartens, den die Pflege von Jahrzehnten zum Meisterwerk geschaffen hatte — als ob sie es sei, die Abschied nehmen mußte — nicht der Mann.

Und ganz gewiß würde sie seine Schönheit von nun an nicht mehr sehen ...

Plötzlich sagte sie: »Ich werde es wissen, wenn du tot bist ...«

Er drückte ihre Hand.

»Wenn du es kannst, denke fröhlich an mich. Ich habe es immer gefühlt, wenn du mit deiner großen Zuversicht bei mir warst ...«

»Ja,« antwortete sie. »Ich werde es wissen, wenn du tot bist.«

Sie sprach diese Worte, als hätte sie mit ihnen eine tiefe Kraft aus sich geschöpft. Sie holte ruhiger Atem, nachdem sie sie gesprochen.

Gerhard sagte: »Du kannst dich auf Tystendal verlassen wie auf mich selbst. Wir haben alles Notwendige verabredet. Laß die Zeit sich klären. Wenn es ohne Gefahr geschehen kann, wird er dich zu seiner Mutter bringen. Von Schweden aus gelangst du ohne Schwierigkeiten nach Deutschland.«

[S. 118]

»Du mußt nicht an mich denken,« sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln.

Als sie an das Ende des Gartens gekommen waren, blieb Beate stehen. Sie blickte auf die Uhr an ihrem Handgelenk.

»Tystendal wird gleich kommen,« sagte sie und schluckte. Sie hob den Kopf.

»Laß dich noch einmal recht ansehen,« murmelte sie. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern, und während sie mit ganz geweiteten Augen in sein Gesicht sah, ließ sie ihre Finger niedergleiten über seine Arme und Hände, legte sie auf seine Brust und tastete nach seinem Herzen, als fürchtete sie, blind zu werden und ihn nie wiederzusehen. Sie lächelte dabei und sah ihn immer an. Ihre Lippen standen ein wenig offen, als suchten sie irgendein Wort, das sie nicht finden konnten.

»Mein geliebter Mann,« sagte sie. Es klang fast einfältig.

Und ehe der Mann ihr antworten konnte, kam der Diener und meldete, das Boot des erwarteten Freundes seines verehrten Herrn sei soeben an Land gestoßen.

»Es ist gut,« sagte Gerhard Hoyermann.

Beate senkte den Kopf. Sie wandten sich und gingen nach dem Hause.

Der Schwede kam ihnen nicht entgegen. Er erwartete sie im Empfangszimmer, wo Yuki[S. 119] bereits auf den Knien lag, um für den verehrten Gast den Tee zu bereiten.

Beate streckte dem Freunde ihres Mannes die Hand entgegen. Er sah sie an und wollte reden, aber er tat es nicht. Er küßte ihr die Hand. Dann schüttelte er Hoyermann die Rechte. Die Diener warteten. Drunten am Strande schwatzten die Bootsleute.

»Hoffentlich sind Sie mir nicht böse, gnädige Frau,« begann der Schwede, »daß ich Ihnen Ihren Herrn Gemahl für ein paar Tage entführe. Aber wenn man Sie ansieht, glaubt man's Ihnen, daß Sie zu angegriffen sind, um mit von der Partie zu sein ...«

»Es tut mir selbst sehr leid,« antwortete Beate. »Enoshima soll sehr schön liegen und viel Interessantes bieten ... Stammen die reizenden japanischen Perlmutterarbeiten nicht aus Enoshima?«

»Ich werde dafür sorgen,« sagte Tystendal, »daß Ihr Gatte Ihnen das Hübscheste mitbringt, was wir gemeinsam bei sämtlichen Künstlern auftreiben können.«

»Danke!« sagte Beate mit erlöschendem Laut.

Die beiden Männer sahen sich an.

»Fertig?«

»Ja.«

»Dann können wir also aufbrechen ...«

»Ich bin bereit ...«

[S. 120]

»Auf Wiedersehen, gnädige Frau!« sagte der Schwede und beugte sich zum zweiten Male über Beates Hand.

Unwillkürlich deckte er diese Hand auch mit seiner anderen, als wollte er sie wärmen. Dann ließ er sie los, verbeugte sich und ging aus dem Zimmer.

»Auf Wiedersehen, Beate!« sagte auch Gerhard Hoyermann.

»Auf Wie—«

Sie fuhr sich mit der Linken nach dem Halse — nach der Stirn, lächelte und hob ihr weißes Gesicht den Lippen ihres Mannes entgegen. Sie schloß die Augen, und für die Dauer eines Kusses, den drei sanfte, staunende und unbewußt etwas verächtliche Pechaugenpaare beobachteten, krampften sich ihre Finger in den Stoff seines Rockes. Dann lösten sie sich.

»Auf Wiedersehen, Gerd!« sagte die Frau.

»Beate ... Beate, wir sehen uns wieder ...«

»Ja, ganz gewiß ...«

»Leb wohl ... sag mir noch irgendein Wort ...«

»Ich weiß nichts, Gerd ... Ich liebe dich — ist es das?«

»Ja, Beate.«

»Ich liebe dich,« wiederholte sie. Sie hatte das Lächeln jener Frauen, die für ihren Glauben starben. Und sie schien dem Tode nicht fern zu sein.

[S. 121]

»Nun mußt du gehen,« sagte sie. »Leb wohl ...«

Er ließ ihre Hände los. Sie fielen an ihr nieder, als wären sie leblos, aus Holz.

Er ging.

Beate trat auf die Veranda, um ihm nachzusehen. Sie beugte sich über das Geländer. Vor weniger als zwölf Stunden hatte sie auch hier gestanden und ihn zu sich gerufen. Wenn sie ihn jetzt noch rief — vielleicht kehrte er um ... Aber sie rief ihn nicht ...

Sie sah ihn unter den Bäumen, die am Ufer standen, verschwinden, ging die Stufe zum Garten hinunter und nach dem Strande. Als sie ihn erreichte, war das Boot schon abgefahren, und die weichen Morgenwellen glitten unter ihm geschmeidig fort. Der Wind lag im Segel, das sich in die Brust warf wie ein Schwan.

Beate ließ ihr Taschentuch wehen. Sie sah nichts. Von den Männern einer sprang auf und winkte mit dem Arm — schrie ihr etwas zu — aber sie hörte nichts. Vielleicht sollte sie heimgehen. Vielleicht war es nicht gut, daß sie hier stand und ihnen nachsah. Sie neigte den Kopf und ging zum Hause zurück, ohne sich noch einmal umzusehen.

Sie ging in ihr Schlafzimmer, das Umè schon längst in Ordnung gebracht hatte; denn sie war eine gewissenhafte kleine Dienerin und[S. 122] ängstlich bemüht, ihre Herrin immer zufriedenzustellen.

Fest davon überzeugt, daß die Herrin wieder vergessen hatte, beim Eintritt ins Haus die Sandalen abzustreifen, ging sie ihr nach, um den Fehler gebührend wieder gutzumachen. Aber als sie einen Blick in das Gemach der Herrin getan, kehrte sie um und schlüpfte in die Küche, wo Yuki Kuchenteig bereitete und sang.

Sie sang ein kleines Lied, wie es einsame Wanderer singen, die in der Fremde sein müssen und an die Heimat denken:

»Wenn ich auch verarmt und glückberaubt
Fern von dir ein totes Leben führe —
Lasse du im Frühling, neubelaubt,
Tausend Blüten duften um dein Haupt,
Süßer Pflaumenbaum vor meiner Türe ...«

»Sei still, Yuki,« sagte Umè. »Die Herrin schläft.«

Sie irrte sich; ihre Herrin schlief nicht. Und sie wäre von dem Dröhnen der mächtigsten Tempelglocken Buddhas, des Erhabenen, ebenso wenig aufgeweckt worden wie von dem Singen Yukis.

Aber die kleine Dienerin hatte noch nie einen ohnmächtigen Menschen am Boden liegen sehen, und darum war ihr Irrtum verzeihlich. Denn für eine japanische Frau wäre es keinesfalls schicklich gewesen, die Besinnung zu verlieren.


[S. 123]

4

Wie auch die übrige Welt sich zum Ausbruch des europäischen Krieges stellen mochte, — die japanischen Zeitungsjungen jedenfalls riefen den Segen der Gottheit auf ihn herab, denn er hob ihre Kaste zu den Höhen eines Triumphes, wie sie ihn seit den Tagen von Port Arthur nicht wieder erlebt.

Das Klappern ihrer dienstfertigen Holzsandalen wuchs zum Getöse an, und ihre Stimmen gellten übereinander weg:

»Die Kriegserklärung Deutschlands an Rußland —!«

»Die Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich —!«

»Die Deutschen haben Luxemburg besetzt —!«

»Einmarsch der Deutschen in Belgien —!«

»Die Kriegserklärung Englands an Deutschland —!«

»Der Beginn der Feindseligkeiten —!«

O, es war herzerhebend, wie der Nachrichtendienst arbeitete. Es war ein Vermögen zu verdienen durch Zeitungsüberschriften. Man berauschte[S. 124] sich an Druckerschwärze. Der hypnotische Wahnsinn des allgemeinen Schreiens benebelte die Gehirne; der Veitstanz der großen Worte brach aus und griff um sich wie Flugfeuer.

»Schwere Niederlage der Deutschen bei Metz —!«

»Die Russen auf dem Vormarsch gegen Wien und Berlin —!«

»Selbstmord des deutschen Kronprinzen —!«

Die englischen Redaktionen zermarterten sich die Hirnkästen, um ihre Kunden zufriedenzustellen. Man zog den europäischen Krieg auf Flaschen und schenkte ihn möglichst vorteilhaft aus. Wo die Tatsachen mangelten, behalf man sich mit Erfindungen — alles nur den Kunden zuliebe ... Man war es ihnen schuldig; sie mußten auf ihre Kosten kommen.

Nichts Neues? — O doch, bitte: Die deutsche Flotte bei Wilhelmshaven vernichtet —! Falls sie genaue Zahlen wünschten, — es sollte auf ein paar Kreuzer oder Linienschiffe nicht ankommen, nein ...

Beate kaufte keine Zeitungen mehr. Mochten die Jungen neben ihrem Jinrikisha herlaufen, ihr das letzte gellende Ereignis in die Ohren trompetend, — sie wandte nicht mehr den Kopf danach. Sie warfen ihr die druckfeuchten Blätter in den Schoß; sie strich mit der Hand darüber und ließ sie in den Schmutz der Straße fallen.

[S. 125]

Da gehörten sie hin ...

Sie hatte ein anderes Gesicht bekommen, die junge Beate Hoyermann. In wenigen Tagen waren ihre Lippen schmal und hart geworden, und ihre Mundwinkel hatten sich gesenkt. Der Kummer hatte das Werk angefangen, und der Ekel hatte es vollendet. Sie war mager geworden, denn sie aß seit Tagen fast nichts, weil alles in ihrem Munde zu Galle wurde.

Die Zeit war vorbei, da sie auf ihren Fahrten mit Akira oder Mosaku japanische Vokabeln und Sprichworte lernte. Sie fragte der fremden Seele nicht mehr nach. Die ganze Erdkarte schien für sie ausgelöscht zu sein bis auf den kleinen Fleck, der Deutschland hieß. Den aber liebte sie.

Und sie liebte ihn mit der zornigen Sehnsucht, aller Welt ins Gesicht zu schreien, wie sehr sie ihn liebte. Obgleich sie sehr wohl fühlte, daß dies weder der Ort noch die Stunde dafür sei.

Tystendal hatte ihr einen Boten geschickt. Seinen schwedischen Diener, der nichts als seine Muttersprache verstand. Tystendal hielt einen schweigsamen Diener für vorteilhafter als einen sprachgewandten. Er behielt ihn so lange, bis er ihn beim Versuch einer fremdsprachigen Unterhaltung ertappte; dann entließ er ihn. Da er seine Untergebenen ausgezeichnet bezahlte, zogen sie es vor, sich aufs Schwedische zu beschränken.

[S. 126]

Lars Larssen hatte der Herrin im »Garten des Freundes« einen Brief überbracht, ohne ein Wort zu verlieren. Der Brief enthielt drei Zeilen und eine Nachschrift.

»Da ich es in Ihrem Interesse nicht für ratsam halte, wenn ich ohne Gerhard von Enoshima zurückgekehrt bei Ihnen erscheine, bitte ich Sie, sich meinem Diener rückhaltlos anzuvertrauen.

Tystendal.

Verbrennen Sie diese Zeilen, noch ehe Sie fortgehen.«

Beate hatte nicht einen Augenblick gezögert, die Aufforderung Tystendals zu befolgen. Sie tat es vielmehr mit dem Nachdruck und der Entschiedenheit eines Menschen, der gewillt ist, alle Dinge auf ihre Brauchbarkeit für einen einzigen und sehr bestimmten Zweck zu prüfen und sie, falls sie tauglich befunden wurden, sich unbedingt dienstbar zu machen.

Lars Larssen war ihr vorangegangen, denn der Strand war trocken von Küste zu Küste, hatte sich in seinen Jinrikisha gesetzt und dem herbeistürzenden Akira einen Wink gegeben, ihm mit der weißen Frau zu folgen. Akira erkundigte sich bei seinem Kastengenossen nach dem Ziele der Fahrt und erhielt eine Auskunft, die ihn bleich machte. Er beschloß jedoch, ans Ziel zu kommen oder vor seinem Jinrikisha den Geist aufzugeben, und trabte herzhaft hinter seinem[S. 127] um vieles jüngeren und sehnigeren Führer drein.

Nach einer Fahrt von mehr als einer Stunde hielten sie an einem Tempelhof, den Beate nicht kannte. Aber das wollte wenig sagen in diesem Lande der Tempel. Sie stieg aus und folgte dem Schweden, der sie über Treppen und Höfe zu einem anderen Tor führte, vor dem er stehenblieb und zwei der herbeistürzenden Jinrikishabesitzer mit Beschlag belegte. Diesen sagte er ein einziges Wort und erntete dafür ziemliche Betroffenheit. Dann fuhren sie davon, und Beate erkannte bereits nach einigen Minuten, daß sie nach einem kleinen Umweg auf derselben Straße zurückfuhren, auf der sie gekommen waren.

Diese Vorsichtsmaßregel, die im natürlichen Zusammenhang mit ihrer Notwendigkeit wenig geeignet war, das Gefühl persönlicher Sicherheit zu verstärken, weckte in Beate das instinkthafte Aufhorchen, das die Tiere der Wildnis haben. Durch ihr Leben in dem ostafrikanischen Vulkangebiet war sie daran gewöhnt worden, jeden Aufenthalt in einem fremden Lande als Freundschaft mit einem zahmen Löwen zu betrachten. Wenn die prankenbewehrte Majestät im Vollbesitz ihres Gebisses und schlechter Laune ist, läßt sich schwer für sie einstehen. Ohne einen sehr dringenden Grund hetzte Christian Tystendal[S. 128] die Frau, die er gebeten, zu ihm zu kommen und den Brief, in dem er sie dazu aufforderte, zu verbrennen, nicht durch die halbe Provinz hin und her. Im Gegenteil. Und Beate Hoyermann war entschlossen, den Grund in seiner ganzen Tragweite kennenzulernen.

Ihre erste Frage, als sie Tystendal gegenüberstand, galt ihm.

Der Schwede war ihr bis an die Grenze seines japanischen Besitztums entgegengegangen, und das bedeutete von seinem Hause aus einen Weg von fünf Minuten, wenn man sich nicht sehr beeilte. Der Garten war gewiß der schönste, den liebevolle Künstlerhände nach einem japanischen Traum von Anmut und Zierlichkeit geschaffen; aber die beiden Menschen des Abendlandes, die ihn durchschritten, verstanden weder den Tiefsinn von kleinen bunten Steinen am Saum von schneeweißen Wegen, die nur zum Beschauen, nicht zum Betreten auf ihrer Inselwelt waren, noch hörten sie den Schwung und erstarrten Rhythmus jener hochgewölbten Brücken, die über einen Teich führen, als läge am anderen Ufer das Land der ewigen Glückseligkeit.

»Warum der Umweg?« hatte Beate gefragt.

»Trauen Sie Akira so unbedingt?« fragte der Schwede dagegen.

»Er sieht sehr harmlos aus,« meinte Beate nach einem kleinen Zögern.

[S. 129]

»Um so besser eignet er sich für gewisse Zwecke seiner Obrigkeit,« sagte Tystendal ernst. »Ich bin jedenfalls zu dem Entschluß gekommen, keinem Menschen zu trauen, bevor ich ihn geprüft habe. Auf diese Weise kann ich nur noch angenehm enttäuscht werden.«

»Sie sind Skeptiker, Herr Tystendal ...«

»Allerdings ... da ich die Menschen kenne.«

»Ist das die notwendige Folge davon?«

»Für mich war sie es, gnädige Frau ...«

Beate schwieg.

»Wir sind vollkommen ungestört,« fuhr Tystendal mit einem zugleich brüderlichen und ehrfürchtigen Lächeln fort und blickte auf die schmalen Hände der Frau, die sich gedankenlos öffneten und schlossen. »Fragen Sie mich alles, was Sie fragen wollen, gnädige Frau. Soweit es in meiner Macht liegt, will ich Ihnen Antwort geben.«

»Wo ist mein Mann?« fragte Beate.

»Soviel ich weiß, noch in Japan,« antwortete der Schwede. »Die Schiffe laufen nicht aus. Die Kriegserklärung zwischen England und Deutschland hat die Schiffe von der See in die Häfen gescheucht. Sie werden eine Weile brauchen, bis sie sich wieder hinaustrauen ...«

»Hat er mir ... noch etwas Besonderes sagen lassen?« fragte Beate weiter. Sie sah vor sich hin, in den Himmel hinauf.

[S. 130]

»Er hat mir einen Brief gegeben,« sagte der Mann. Und er dachte, während er neben ihr stehenblieb und auf sie niedersah: »Wunderlich sind sie, die Frauen ... Sie stehen da und lächeln, wenn sie Abschied nehmen. Und ein Glück wirft sie um.«

Es war ihm nicht wohl zumute.

Er gab ihr wortlos den Brief, den sie empfing, als sei er eine zerbrechliche Schale; und so auch hob sie ihn an die Lippen ... Wenn sie allein wäre, dachte der Mann, dann würde sie auf den Knien liegen und mit geschlossenen Augen weinen.

»Gnädige Frau!« sagte er bittend.

Erst nach einer Weile antwortete sie mit einem so sanften Ernst, daß er den Kopf senkte, als hätte sie ihm die Hand aufs Haar gelegt: »Wenn Sie einmal eine Frau haben werden, Herr Tystendal, dann wünsche ich ihr und Ihnen, daß Sie es nie nötig haben mögen, sich solch einen Brief zu schreiben ... Aber wenn Sie es tun müssen, dann wünsche ich Ihnen, daß Ihr Brief für die Frau, die Sie lieben, so viel vom Kostbarsten des Lebens bedeuten möge wie dieser Brief für mich. Denn dann müssen Sie sehr glücklich miteinander werden ...«

»Ich danke Ihnen für diesen guten Wunsch, gnädige Frau,« sagte der Schwede etwas schwermütig.

[S. 131]

Sie hatten das Haus erreicht und betreten. Der Diener schob die Wände des Empfangszimmers vor ihnen auseinander.

»Es ist eine nordische Sitte,« meinte Tystendal, »daß man seine Gäste an der Schwelle willkommen heißt. Ich habe sie fast vergessen; aber ich möchte Ihnen beim Kommen und Gehen sagen: Gott segne Sie, Beate Hoyermann, um Ihrer großen Liebe willen ...«

Er neigte sich vor ihr und ließ sie allein, um ihr Zeit zu lassen, den Brief ihres Mannes zu lesen. Aber sie las ihn nicht. Sie fühlte ihn nur mit gleitenden Fingern und sah sich verloren um. Sie würde noch viele, viele Tage Zeit haben, diesen Brief zu lesen. Und sie bedurfte jetzt aller ihrer Kräfte, die sie durch den Brief vielleicht verlor. Sie war nicht hierhergekommen, um sich auf den Boden fallen zu lassen und die Hände zu ringen. Sie war gekommen, um Auskunft und Rat und, wenn es möglich war, auch Hilfe zu holen, und darum sah sie sich das Zimmer, in dem sie stand, mit Augen an, die seinen Besitzer durch die Umgebung, in der er lebte, ganz ergründen wollten.

Die Wohnung Christian Tystendals war ein wunderliches Gemisch von Sybariten- und Spartanertum. Er schien die Liebhaberei zu haben, seine Mahlzeiten im Liegen einzunehmen, und hatte sich aus allen Zeiten und Weltteilen zusammengeschleppt,[S. 132] was die verschiedensten Begriffe menschlicher Bequemlichkeit hervorgebracht hatten. Seine Mahlzeiten selbst aber waren auf die Notwendigkeit, das Leben zu erhalten, beschränkt und dienten außerdem lediglich als Überleitung zu dem Genuß, unter vollkommenem Stillschweigen, höchstens in Gesellschaft eines naturwissenschaftlichen oder geschichtlichen Buches, eine Zigarre, einen Tschibuk oder eine Wasserpfeife zu rauchen.

Er betrachtete die Kunst in allen ihren Erscheinungen als persönliche Angelegenheit des Empfängers und hatte den Mut, Berühmtheiten des Tages schon am Morgen abzulehnen, ehe ihnen vom Abend das Todesurteil gesprochen wurde. Er war in allen Dingen, auf die es ankam, ganz gewiß ein Mensch, über den sich seine Nachbarn — sofern er welche besaß — in mehr als üblichem Maße ärgerten, weil er unabhängig und gleichgültig war. All dies zusammengenommen, glaubte Beate, daß er der Mann sei, an den sie sich wenden mußte, um ihr Ziel zu erreichen.

Dieser Gedanke machte sie sehr ruhig, und als Christian Tystendal wieder eintrat, ganz darauf vorbereitet, sie über dem Briefe ihres Mannes, im Jammer ihrer Tränen zu finden, saß sie mit einem stillen und willensstarken Gesicht, ein wenig gerader aufgerichtet als sonst,[S. 133] im Sessel neben seinem Schreibtisch, hatte die Hände im Schoß zusammengelegt und sah ihm mit Augen entgegen, die schon auf ihn gewartet hatten. Woraus Christian Tystendal die Schlußfolgerung zog, daß Frauen im allgemeinen immer das Gegenteil von dem tun, worauf der Mann vorbereitet war.

Während der Diener den Tee brachte und einschenkte, schwiegen sie beide; doch als sich die Türe hinter ihm zugeschoben hatte, begann die Frau, und ihre Worte sprangen wie ein Pfeil auf das Ziel: »Was haben Sie mir zu sagen?«

»Zunächst das eine, das mir das Wichtigste ist,« antwortete der Schwede sehr nachdrücklich. »Ihr Mann ist mein Freund; wir haben in letzter Zeit Stunden gemeinsam verlebt, die uns zusammengeschweißt haben. Daran bitte ich Sie zu denken und als Gerhard Hoyermanns Frau immer und bedingungslos über mich zu verfügen.«

»Danke,« sagte Beate einfach und sah ihn mit ruhigen Augen an. »Ich werde es tun.«

»Gut. Und nun zu Ihnen, gnädige Frau ... Ihre Lage ist nicht ganz einfach. Es kann den japanischen Behörden nicht verborgen bleiben, daß Ihr Mann verschwunden ist. Sie dürfen sogar fest davon überzeugt sein, daß sie recht bald darauf aufmerksam werden. Für diesen[S. 134] Fall halte ich es durchaus nicht für ausgeschlossen, daß der Verdacht, der durch den Tod jenes armen Narren eingeschläfert wurde, von neuem auflebt und sich auch gegen Sie richtet. Sie haben es nie versäumt, Ihr Deutschtum und Ihre Vaterlandsliebe in einer Weise zu betonen, die jedes Mißverständnis in dieser Richtung ausschließt. Und bei einiger Beobachtungsgabe, die ich der japanischen Geheimpolizei in hohem Maße zutraue, wird man zu dem Schluß kommen, daß Sie sehr wohl die Frau sind, von Gefühlen zur Tat überzugehen.«

»Und die Folgen davon?«

»Welche das auch sein mögen — auf keinen Fall dürfte es im Sinne Ihres Mannes sein, wenn Sie sich ihnen aussetzten,« sagte Tystendal.

»Weiter ...« sagte Beate und sah ihn aufmerksam an.

»Ich möchte Sie darum bitten, sich in den Schutz irgendeiner Persönlichkeit zu begeben, die nicht nur dadurch, daß sie Ihnen Gastfreundschaft gewährt, jeden Verdacht gegen Sie von vornherein entkräftet, sondern durch ihre Stellung auch in der Lage ist, Sie gegen jeden Übereifer zu schützen, von welcher Seite der auch kommen möge.«

»Und welche Persönlichkeit meinen Sie?«

»Den amerikanischen Konsul.«

»Danke,« sagte Beate. »Der Mann spricht[S. 135] Englisch. Wahrscheinlich denkt er auch in dieser Sprache. Wir würden uns schwerlich verstehen.«

»Er ist der Vertreter einer neutralen Macht, gnädige Frau.«

»Es gibt keine Neutralität der Gesinnung,« sagte Beate. »Jeder ergreift Partei, wenn auch nicht jeder die Konsequenzen zieht. Ich will es lieber nicht darauf ankommen lassen, die Probe auf die Gesinnung des Amerikaners zu machen. Ich wüßte nicht, was mich veranlassen könnte, die Farben des neutralen Sternenbanners für waschecht zu halten. Der Grundstock der amerikanischen Presse ist das englische Geld; das wollen wir nicht vergessen. Haben Sie die Zeitungen gelesen?«

»Ja.«

»Und glauben Sie, was Sie da gelesen haben?«

»Ich denke gar nicht daran,« antwortete der Schwede kopfschüttelnd.

»Ich danke Ihnen.«

»Es scheint eine Art von Delirium über die amerikanische Presse gekommen zu sein,« fuhr Tystendal fort. »Jede Zeitungsüberschrift eine Kinoreklame ... Dabei kann man ihnen allein nicht einmal die Verantwortung zuschieben. Sie drucken, was ihnen die englischen Kabel übermitteln. Denn es gibt keine deutschen Kabel mehr. Und wir können uns ziemlich fest darauf[S. 136] verlassen, daß den Herren der Vereinigten Königreiche, die Amerika mit Kriegsberichten versorgen, bei der Übersetzung Ihrer Generalstabsmeldungen — soweit sie sich auf deutsche Siege beziehen — plötzlich die Vokabeln ausgehen werden.«

Beates Lippen verzogen sich in schmerzlichem Hohn.

»Nun!« sagte sie und beugte sich im Sitzen vor. »Glauben Sie wirklich, lieber Freund, ich würde es gelassen mit ansehen, wenn der amerikanische Konsul mit seiner ehrenwerten Familie beim Frühstück die deutsche Flotte verspeist, beim Dinner den Kronprinzen mit englischer Soße und beim Abendessen drei bis vier deutsche Armeekorps à la Eiffelturm zubereitet —? Ich würde ihm, wenn er es wagte, zu behaupten, daß er den Wahnsinn seiner Zeitungen für wahr hielte, diese seine sämtlichen Zeitungen an den Kopf werfen, so wahr ich Beate Hoyermann heiße. Und hätte im gleichen Augenblick sein Haus verlassen. Und dann stünde ich auf demselben Fleck wie vorher.«

»Gut, gut,« sagte Tystendal mit einem flüchtigen Lächeln. »Ich ziehe meinen Antrag zurück. Und ich bitte Sie, mir Ihre Vorschläge zu machen. Denn ich müßte mich sehr in Ihnen täuschen, wenn Sie nicht bereits Ihre festen Pläne hätten, Frau Beate Hoyermann ...«

»Sie haben Recht,« antwortete Beate. »Und[S. 137] mein Plan ist sehr einfach ... Ich will nach Deutschland zurück.«

Christian Tystendal sah die Frau, die vor ihm saß, an und zog die Augenbrauen hoch.

»Wenn Sie das einen einfachen Plan nennen, so möchte ich wissen, was Sie unter einem verwickelten verstehen, gnädige Frau,« sagte er, ohne zu lächeln.

»Ich glaube, Sie mißverstehen mich,« antwortete Beate. »Ich bin mir der Schwierigkeiten durchaus bewußt. Aber ich habe mich entschlossen, es mit ihnen aufzunehmen ... Und ich wende mich nun an Sie, weil Sie der Freund meines Mannes sind. Sie haben mir gesagt, daß ich mich auf Sie verlassen kann; nun nehme ich Sie beim Wort.«

Christian Tystendal stand auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen. Die Augen Beates folgten ihm mit großer Aufmerksamkeit. Sie unterbrach sein Nachdenken mit keiner Bewegung.

»Würde es Sie sehr stören, gnädige Frau,« begann der Schwede nach einer Pause, »wenn ich mir eine Zigarre ansteckte?«

»Höchstens als Symptom,« meinte Beate. »Denn mein Mann pflegte zur Zigarre zu greifen, wenn die Sachlage kritisch wurde ...«

»Abermals eine Ähnlichkeit zwischen Ihrem Manne und mir,« sagte der Schwede trocken.

[S. 138]

Beate legte die Hände zusammen. »Sie müssen ganz offen sein,« meinte sie mit jener aufmerksamen und sanften Gelassenheit, um derentwillen Gerhard Hoyermann seine Frau »Kamerad« zu nennen liebte.

»Das muß ich wirklich, gnädige Frau,« antwortete Tystendal. Er setzte sich ihr gegenüber und betrachtete den Brand seiner Zigarre. »Wie haben Sie sich Ihren Weg nach Deutschland gedacht?«

»Über Kiautschou,« sagte Beate. »Das ist deutscher Boden. Und da finde ich deutsche Menschen. Von dort aus will ich mir schon weiterhelfen.«

Christian Tystendal zog die Oberlippe zwischen die Zähne. »Ich fürchte, gnädige Frau, wenn Sie nach Kiautschou gingen ... Sie würden dort nicht lange auf deutschem Boden stehen ...«

»Was heißt das ...?«

»Der Hafen von Tsingtau ist zu günstig für die englische Schiffahrt, als daß sie nicht wünschen sollte, ihn, wenn nicht selbst zu besetzen, so doch wenigstens den Deutschen zu entreißen. Und das wird sie sehr bestimmt und sehr bald tun ...«

»Nein —!«

»Ja, gnädige Frau.«

»Sie glauben ernsthaft, daß England seine[S. 139] Truppen herüberschicken wird, um Kiautschou zu erobern —?!«

»Das wird England nicht nötig haben,« meinte der Schwede. »Es wird an sein Ziel kommen und die eigenen Truppen sparen.«

»Glauben Sie,« fragte Beate mit einem bitteren Lächeln, »daß der Gouverneur von Kiautschou das Pachtgebiet gutwillig übergibt?«

»Ganz gewiß nicht. Aber wie stark die Truppen, über die er verfügt, auch sein mögen, — die Feinde werden, wenn sie es für nötig halten, in der zehnfachen Übermacht sein und vollkommen ausreichend, um das deutsche Gebiet von der Seeseite her wie vom Lande abzuschnüren.«

»Über chinesischen Boden hinweg?«

Tystendal zuckte die Achseln.

»China«, antwortete er, »ist weder ein militärischer noch ein politischer, sondern höchstens ein geographischer Begriff. Er wird die japanischen Truppen ganz gewiß nicht aufhalten.«

»Was für Truppen?« fragte Beate.

Der Mann blickte zu ihr hin und nickte. »Ja, ja, meine gnädige Frau — der arme, tote Narr, der, wie mir Ihr Mann erzählte, den Wesensunterschied zwischen der asiatischen und der europäischen Rasse in der Verschiedenheit der Ehrbegriffe suchte, war vielleicht ein größerer Weiser, als wir dachten ... Ich bin fest davon[S. 140] überzeugt, daß Japan sich die Ehre, seinen ehemaligen Lehrer und Meister abwürgen zu helfen, außerordentlich hoch bezahlen läßt. Aber es wird das Geld einstecken und sich feierlich auf den Bündnisvertrag mit England berufen, um vor der Welt im Recht zu sein ... Wenn der Deutsche die Leidenschaft des Lehrens hat, so hat der Japaner die des Lernens. Und wie der eine ein unübertrefflicher Lehrer ist, so ist der andere ein unübertrefflicher Schüler, aber im Grunde genommen ist es für jeden Schüler ein befriedigendes Gefühl, seinen Lehrer zu besiegen; er glaubt damit sein Meisterstück zu machen und sich die innerliche Unabhängigkeit von dem Besiegten zurückzukaufen. Es mag abscheulich sein, aber es ist menschlich. Und um so menschlicher, je abscheulicher es ist. Damit müssen wir rechnen, Frau Beate!«

»Sie müssen aber doch einen Grund für ihr Vorgehen angeben ...« meinte Beate.

»Mein Gott, der Grund ... Kain erschlug seinen Bruder Abel wegen eines Opferfeuers. Vielleicht wird dieser ›Grund‹ später einmal das Gelächter der Weltgeschichte; augenblicklich handelt es sich um ein Geschäft.«

Beate richtete sich auf und bog den Kopf in den Nacken.

»Sie rechnen also damit,« zog sie den Schluß, »daß Japan über kurz oder lang auf[S. 141] die Seite von Deutschlands Feinden treten wird?«

»Ja,« nickte der Schwede.

»Und trotzdem machten Sie mir vorhin das Anerbieten, in Japan zu bleiben?«

»Trotz aller Ihrer Einwände, gnädige Frau, halte ich meinen Vorschlag nach wie vor für den besten, den Ihnen ein Freund machen kann,« sagte Tystendal ernst.

»Das gibt mir leider den Beweis, daß Sie eine sehr falsche Meinung von mir haben,« antwortete Beate und stand auf.

Auch der Mann erhob sich. Sie standen sich gegenüber.

»Liebe gnädige Frau,« sagte der Schwede, ohne sich zu bewegen, »ich bitte Sie herzlich — im Namen Ihres Mannes, den Sie lieben —, keine Unbesonnenheit zu begehen!«

Beate fuhr sich mit beiden Händen nach den Schläfen. »Unbesonnenheit!« wiederholte sie, und ihre Augen wurden dunkel. »Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Tystendal! Wenn ich hier bliebe in diesem Lande, das demnächst mit uns im Kriege sein wird — unter diesem Volke, das die Ausbildung seines Heeres deutschen Offizieren verdankt, das an unseren Universitäten gelernt hat und bei unseren Ingenieuren in die Schule gegangen ist —, dann würde ich nicht nur vielleicht, sondern ganz[S. 142] gewiß eine Unbesonnenheit begehen! Denn ich könnte nicht schweigen! Ich müßte mir's von der Seele herunterreden — allen Groll und allen Schmerz und alle Verachtung — und alle meine himmelhohe Zuversicht für die deutsche Sache! Und wenn die Herren Japaner bis dahin keinen Grund gehabt hätten, mich mit mißtrauischen oder feindseligen Augen zu betrachten, — dann würden sie ihn bekommen!«

»Niemand würde Sie mit feindseligen Augen betrachten,« sagte der Schwede. »Im Gegenteil! Ich bin fest davon überzeugt, daß Japan alles tun wird, den drohenden wie den verwirklichten Kiautschoukonflikt als eine Episode hinzustellen, die auf seine sonstigen guten Beziehungen zum Deutschen Reich nicht den geringsten Einfluß hat, und wird diese Bemühung durch besondere Zuvorkommenheit gegen die Angehörigen der deutschen Nation unterstreichen ...«

»O, ganz gewiß!« sagte Beate. »Sie würden uns das Herz aus der Brust nehmen und lächelnd versichern, daß es nur ad majorem gloriam Nippons und ohne jede böse Absicht gegen uns geschehen sei. Aber ein höflicher Henker ist auch ein Henker, und ich für meine Person ziehe den Haß, der mir ins Gesicht springt, bei weitem der lächelnden Klugheit vor, die aus dem Kriege eine Geschäftsepisode macht und durch eine Verbeugung[S. 143] ihre Gemeinheit zu entschuldigen sucht. Und wenn mein Entschluß, dieses Land zu verlassen und nach Deutschland zurückzukehren, schon vorher sehr fest war, — jetzt ist er unerschütterlich geworden.«

»Und wie wollen Sie das anfangen?«

»Ich weiß es nicht. Ich hoffe, daß Sie mir helfen werden.«

»Nein, gnädige Frau,« sagte der Schwede.

»Sie verweigern mir Ihre Hilfe?«

»Ich weigere mich, bei einem Unternehmen mitzuwirken, das, wie ich bestimmt weiß, die Billigung Ihres Mannes nicht haben würde.«

Beate lächelte. Und dies Lächeln war so wenig die Antwort, die der Mann erwartet hatte, daß er glaubte, die Frau habe ihn mißverstanden.

»Sie sagen, Sie kennten meinen Mann gut,« meinte Beate. »Ich kenne ihn besser, und er kennt mich. Ich sage Ihnen heute — und hoffe, es wird ein Tag kommen, an dem Sie die Bestätigung meiner Worte erhalten: In dem Augenblick, wo mein Mann erfährt, daß zwischen Japan und Deutschland der Krieg ausgebrochen ist, weiß er, daß ich nicht mehr in Japan bin. Und wenn wir uns wiederfinden sollten — vielleicht erst sehr spät, vielleicht schon bald, wer kann das sagen? —, dann werde ich ihm nichts zu sagen und zu erklären brauchen; er wird alles[S. 144] im voraus begreifen und billigen. Denn er kennt mich und liebt mich, wie ich bin ... Ich weiß den Weg noch nicht, den ich gehen muß, aber ich werde ihn ganz gewiß finden. Und es wird kein anderer Unterschied sein als der: ob ich ihn mit Ihrer Hilfe finden werde oder ohne sie. Ich habe Ihnen meinen Entschluß mitgeteilt und werde Sie ganz gewiß nicht zu beeinflussen suchen. Aber je rascher Sie sich entscheiden, um so dankbarer werde ich Ihnen sein.«

Christian Tystendal antwortete nicht. Er sah vor sich nieder, und in seinem Gesicht spielten die Muskeln. Beate ließ ihm Zeit. Aber als die Minuten vertropften, ohne daß er sprach, nahm sie die Rede wieder auf, und ihre Stimme war die eines Menschen, der seiner selbst ganz gewiß ist und darum sanft und heiter sein kann.

»Als ich von Gerhard Abschied nahm, da haben Sie mich vielleicht für eine sehr tapfere Frau gehalten, Herr Tystendal. Aber Sie haben sich getäuscht. Ich war damals schon entschlossen, ihm nachzugehen — wenigstens so weit, daß ich — die deutschen Verlustlisten in die Hand bekam. Ich wollte seine Spur finden und wissen: er ist da oder dort. Dann wollte ich auf mich nehmen, was das Schicksal mit mir vorhat. Und arbeiten wollte ich. Es wird genug zu tun geben für eine Frau, die zugreifen kann und[S. 145] will. Und ich wollte an Gerhard schreiben: Ich bin hier; sorge dich nicht um mich — ich bin nun ganz ruhig; ich warte ... Dann hätte mein Leben doch einen Sinn ... Aber wenn ich hier bliebe oder irgendwo sonst, wo nicht Deutschland ist, dann würde ich nicht leben ...«

Tystendal räusperte sich, aber er sagte nichts. Beate senkte den Kopf.

»Sie kennen uns erst so kurze Zeit,« sagte sie, fast ohne die Lippen zu bewegen. »Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen werden, was wir in unserer Ehe einander geworden sind ... Ich glaube, Sie denken nicht sehr hoch von den Frauen ... Vielleicht gehören Sie zu jenen Menschen, deren Sehnsucht nach der Frau so grenzenlos ist, daß sie notwendig enttäuscht werden müssen ... Mein Mann und ich, wir sind zwei Bäume, die zusammenwuchsen ... Sind Sie einmal durch einen Wald gegangen und haben zwei Bäume klagen hören, an deren ganz verschlungenen Stämmen der Sturm riß? — Es klingt, als läge im Gebüsch ein Tier, das verendet ... Und wenn man sie trennt, dann bluten sie ... Niemand weiß um unsere Liebe ... Wenn wir vor den Menschen stehen, dann lachen wir uns an und sind Geschwister. Aber wenn wir allein sind und unser selbst bewußt werden, dann beben wir im Innersten vor großem Glück und Staunen und stehen manchmal, wie Menschen[S. 146] in einem allzu starken Licht, mit geblendeten, geschlossenen Augen und sind alle beide mit lachenden Lippen und tanzenden Herzen sehr zum Knien und Weinen geneigt ... Ich will, daß Sie mich verstehen, lieber Freund, und darum spreche ich Ihnen von unserer Liebe ... Wenn ich dahin gehen will, wo ich wenigstens Nachricht von meinem Manne erhalten kann, und wäre es die schlimmste — die Nachricht von seinem Tode —, dann ist das nicht, weil ich unbesonnen bin. Es ist auch nicht das Abenteuer einer unternehmungslustigen Frau. Es ist einfach eine Notwendigkeit für mich — ein Mut, der einer Feigheit sehr ähnlich sieht; denn ich weiß: ich würde das Leben nicht ertragen ... Da haben Sie die ganze Wahrheit. Und ich schwöre Ihnen, sie ist bitterlich wahr ...«

»Ich glaube Ihnen, Frau Beate,« sagte der Schwede mit einem trinkenden Atemzug. Er sah etwas verträumt aus. Dann gab er sich einen Ruck und fuhr fort: »Und ich werde Ihnen helfen ...«

»Danke,« antwortete Beate Hoyermann. Sie schien ihrer Sache ganz sicher gewesen zu sein. Sie sah den Mann mit ruhigen und freundlichen Augen wartend an, daß er lächeln mußte, als er ihrem Blick begegnete.

»Sie müssen mir etwas Zeit lassen,« meinte er. »Ich war, weiß Gott, so wenig auf Ihren[S. 147] Plan vorbereitet wie auf meinen Tod. Und wir müssen mit höchster Überlegung zu Werke gehen. Von der Verantwortung abgesehen, die ich auf mich nehme und der ich nichts als die Wahrung alleräußerster Vorsicht entgegenzusetzen habe, würden Sie, gnädige Frau, bei einem möglichen Scheitern Ihres Vorhabens in eine sehr viel unangenehmere Lage geraten, als Sie je erlebt haben. Deutsche oder österreichische Schiffe kommen für Sie nicht mehr in Betracht; es handelt sich nur um ein feindliches oder ein neutrales, was auf dasselbe herauskäme; denn Sie würden auch auf einem holländischen Dampfer der Durchsuchung des Schiffes durch englische Kreuzer nicht entgehen. Und es ist durchaus nicht sicher, ob man nicht vorziehen würde, Sie als deutsche Frau höflichst aufzufordern, mit nach England zu reisen. Möglich, daß man Ihnen nach einiger Zeit die Heimreise nach Deutschland gestattete. Aber es ist nicht sicher. Und Sie würden in England nicht weiter noch näher von Deutschland und der Wahrheit entfernt sein als in Japan oder Amerika. Das sehen Sie ein, nicht wahr?«

»Ohne weiteres.« Beate hatte sich wieder gesetzt und die Hände im Schoß zusammengelegt, wie es ihre Gewohnheit war, wenn sie sich vollkommen sammeln wollte.

»Also —«

[S. 148]

»Also werde ich nicht als Deutsche reisen,« sagte Beate.

»Mit falschem Paß ...«

»Mit einem englischen Paß.«

»Warum gerade mit einem englischen?«

»Ich spreche Englisch wie Deutsch, mit dem Londoner Akzent ...«

»Gut, sehr gut ...« Tystendal ging im Zimmer hin und her; er hatte eine gerötete Stirn. Beate rührte sich nicht. Der Diener trat ein und räumte die unberührten Tassen fort; er ging wieder hinaus und schob die Türe zu. Obgleich Tystendal ihn nicht bemerkt zu haben schien, hatte der Eintritt des fremden Menschen doch seine Gedanken unterbrochen und in eine neue Bahn gejagt. Er sah dem Diener nach und brummte. »Hm ...«

Endlich wandte er sich mit einer entschlossenen Bewegung zu der wartenden Frau und schlug die flache Hand auf den Schreibtisch.

»Lassen Sie mir ein paar Tage Zeit, gnädige Frau — ich muß eine Reise machen ... Seien Sie versichert, daß ich keine Stunde verlieren werde; aber zwei bis drei Tage brauche ich notwendig, um die Sache ins Geleise zu bringen ... Ich hoffe, ich werde zu Ihrer Zufriedenheit arbeiten. Vertrauen Sie sich mir an?«

»Ja.«

[S. 149]

»Und lassen Sie mir in allen Entschließungen freie Hand?«

»Vollkommen.«

»Danke, gnädige Frau! Mehr brauche ich nicht zu wissen.«

Beate erhob sich. Sie reichten sich die Hände.

»Auf Wiedersehen, mein Freund!«

»Auf Wiedersehen, Frau Beate ... Gott segne Sie ...«

»Ich werde Tag und Nacht auf Sie warten.«

»Ich komme, sobald ich Ihnen etwas Greifbares zu bringen habe. Aber seien Sie mit jeder Stunde auf Ihre Abreise vorbereitet ...«

»Gut,« sagte Beate ernst.

Sie fuhr auf demselben Wege zurück, auf dem sie gekommen war. Bevor sie die Insel erreichte, war es Nacht geworden. —

Als Umè vier Tage später ins Schlafgemach ihrer Herrin trat, um sie zu wecken, fand sie das Zimmer leer.

Sie dachte: Die verehrungswürdige weiße Frau wird zum Baden ans Meer gegangen sein, und hockte sich auf die Fußmatte, um geduldig zu warten.

Aber sie wartete umsonst. Ihre Herrin kam nicht wieder ...


[S. 150]

5

Die »Princeß of India« war eine schöne, starke und schnelle Riesin. Sie bebte vor verhaltener Kraft. Drei Tage länger, als sie zuerst gewollt, hatte sie im Hafen vor Anker liegen müssen. Der Gipfel des Fujiyama hatte sich ihr nicht entschleiert; der Regen, der schräge Regen eines wohlwollenden Gottes, hatte ihr die Flanken gewaschen. Nun war sie ihn leid. Sie wollte in die Sonne hinein und glänzend, rauschend und brausend, von Musik umspült wie von den langen Wogen des Ozeans und der Luft ihre neuen Ziele suchen.

Die »Princeß of India« war das erste Schiff, das nach Ausbruch des europäischen Krieges einen japanischen Hafen verließ. Um so mehr Fahrgäste hatten sich an Bord gedrängt. Es waren fast durchweg Angehörige der britischen Nation, die nach Southampton zurück wollten. Und die meisten hatten es sehr eilig. Sie wollten noch rechtzeitig in Europa ankommen, um den Einzug der siegreichen französischen und russischen Truppen in Berlin mitzuerleben und die[S. 151] Heimkehr der Lorbeergekrönten nach Paris. Die hübschen Töchter von Sir Hugh Trelawney fürchteten ernsthaft, daß der Krieg schon längst durch die Zerschmetterung Deutschlands beendet sein würde, wenn die »Princeß of India« in den Heimatshafen einlief.

Im übrigen war die Stimmung an Bord so heiter wie möglich. Niemand ließ es sich in den Sinn kommen, dem Kriege einen ernsthaften oder gar besorgten Gedanken zu widmen. Man befand sich auf dem Meere — das hieß, man befand sich auf englischem Grund und Boden. Und man fuhr mit einem englischen Schiffe — das hieß, man war so sicher wie beim lieben Gott.

Die Musik spielte »Rule, Britannia!« und »God save our gracious king!« und verzichtete auf Richard Wagner. Das war vielleicht das einzige Auffallende an dieser ganzen Fahrt.

Außer den englischen Reisenden — die »Princeß of India« hatte nahezu achthundert Gäste an Bord — fuhren nur wenige Ausländer mit. Ein lungenkranker Chilene, der nach Heluan wollte, aber alle Aussicht besaß, sich schon lange vor seiner Ankunft in Ägypten an Whisky und Sodaeiswasser zu Tode getrunken zu haben. Ein Schweizer Missionar mit seiner Frau und zwei Töchtern, den die Aussichtslosigkeit seiner Bestrebungen auf japanischem Boden an den[S. 152] Rand des Tiefsinns gebracht hatte; er hoffte, in der Umgebung von Benares davon geheilt zu werden, ohne für diese Annahme den leisesten Grund zu haben ... Und eine Russin, die bereits von Afrika aus mit der »Princeß of India« nach Japan gefahren war und nun wieder umkehrte, ohne japanischen Boden betreten zu haben.

Der Grund ihrer Reise war, daß sie das Grab ihres ältesten Sohnes hatte aufsuchen wollen. Dieses Grab war das Meer des Ostens. Jewgenij Iwanowitsch Petulikow war bei der großen Vernichtung der Zarenflotte im russisch-japanischen Kriege mit der »Ossljabja« untergegangen.

Als die »Princeß of India« bei der Hinfahrt, von Süden her, in die japanischen Gewässer kam, hatte sich Jelisaweta Petulikowa, die Witwe des Iwan Petulikow, zum ersten Male während der ganzen Reise aus ihrer Kabine aufgemacht, um den Kapitän zu suchen. Und dann fragte sie ihn, während auf ihrem erschöpften Gesicht, das sie seit dem Tode ihres Sohnes nicht mehr schminkte und dem der Puder den Ton von welkendem Flieder gab, ein unaussprechlicher Schrecken ausgeprägt war, wann die »Princeß of India« in die Seestraße von Korea komme.

»Überhaupt nicht,« hatte der Kapitän geantwortet.

[S. 153]

Er mußte es wissen. Lisa Petulikowa glaubte ihm und ergab sich.

Sie war von ihrem Gute aus, das in der Nähe von Moskau lag — kaum hundertzwanzig Kilometer westlich davon —, in Begleitung ihres jüngeren Sohnes nach Afrika gefahren, hatte sich dort nach dem ersten Dampfer erkundigt, der nach Japan wollte, und hatte auf der »Princeß of India« die Reise angetreten.

Jewgenij Iwanowitsch war ihr Gott gewesen. Die Liebe einer Mutter lag nicht in ihrem Wesen; Jewgenij Iwanowitsch war nicht ihr Sohn, er war ihr Ritter. Er kam nur selten nach dem Gute seines Vaters, aber wenn er kam, brachte er alles Brausen seiner Jugend, allen Leichtsinn seiner Zärtlichkeit, allen Rausch der Siegesgewißheit mit und überschüttete die immer noch sehr schöne Frau, die seine Mutter war, mit Liebkosungen, mit Geschenken, mit Verheißungen für die Zukunft, wenn er eine Braut gefunden haben würde und einen Palast in Petersburg am Wassilij Ostrow besaß und die Mutter bei ihnen wohnen sollte ... Aber er fand die Frau nicht, die er suchte. Sie mußte wie seine Mutter sein — das war die Schwierigkeit ...

Jewgenij Iwanowitsch lachte sein heiterstes Lachen, während er so sprach. Und seine Mutter sah ihm mit Entzücken nach, wenn er pfeifend[S. 154] durch die alten Zimmer des Gutshauses schritt und sich in den Hüften wiegte.

Solange Jewgenij Iwanowitsch lebte, war Lisa Petulikowa eine junge Frau.

Aber dann starb er. Und Kyrill, sein Bruder, war nicht der Mensch, sein Erbe anzutreten. Als er den Bruder verlor, war er zwölf Jahre alt, und es diente seinem schüchternen und vom eigenen Unwert gänzlich überzeugten Wesen nicht zum Vorteil, daß er gleichsam im Schatten der Trauer um einen Toten aufwuchs.

Die beiden Brüder hatten sich nur selten gesehen. Lisa Petulikowa war der Meinung gewesen, daß es für Kyrill das beste war, in einem sehr vorzüglichen Institut des Auslandes erzogen zu werden. Sie schickte den Knaben nach Paris, von wo aus er nur zu den großen Festen nach Hause kam.

Erst als Jewgenij Iwanowitsch gestorben war, rief die Mutter nach ihrem jüngeren Sohne und behielt ihn bei sich; sie brauchte einen Menschen, der geduldig zuhörte, wenn sie von dem Toten sprach und sein Leben im Erzählen zu einer Legende schuf, bis sie sie auswendig hersagen konnte.

Geduld war die eigentümlichste Eigenschaft von Kyrill Petulikow. Er kannte seinen Bruder kaum und hatte ihn nicht geliebt — wenigstens nicht mehr als alle Menschen, denen er stets mit[S. 155] Sanftmut und dem besten Willen zum Frieden entgegentrat. Er hatte den Bruder im Gedächtnis als etwas sehr Lautes — etwas, das die Wände beben machte, wenn es die Türen ins Schloß jagte und mit den Absätzen in die Dielen hackte — das, wenn es betrunken war — und das war nicht selten —, die Knechte prügelte und die Hunde mit Stühlen warf, um ihnen beiden, Menschen wie Tieren, am anderen Morgen strahlend abzubitten — etwas, das viel und eigentlich ohne rechten Grund zu lachen pflegte, im Gras lag und schwermütige Lieder sang — etwas, dem die Weiber nachliefen wie die Ziegen einem, der Salz trägt — etwas, das im Lichte stand und sich nicht kümmerte, auf wen es seinen Schatten legte.

Er hatte keine Ursache, seinen Bruder anzubeten, wie die Mutter es tat. Aber da er fühlte, daß es für Lisa Petulikowa zum Zweck des Lebens geworden war, von Jewgenij Iwanowitsch zu reden, so saß er Abend für Abend neben ihr und hörte ihr zu. Das war alles, was er für seine Mutter tun konnte. Ihr den Toten zu ersetzen, vermochte er nicht — hätte er auch nie versucht. Und da wurde Lisa Petulikowa sehr rasch eine alte Frau, die nicht mehr acht auf sich gab, ein wenig liederlich herumging und ihr Haar nachlässig ordnete. Aber sie trug noch immer ihren schönen Schmuck und hatte ihn[S. 156] auch für die Reise nicht abgelegt, obgleich sie an Ceylon und den beiden Indien vorüberfuhr, indem sie in der Kabine saß und Patiencen legte, die nie aufgingen.

Sie haßte die Menschen, die fröhlich waren, obgleich Jewgenij Iwanowitsch starb — und die Erde, den Himmel und das Meer, die schön waren, ohne daß er sich ihrer freuen konnte.

Außerdem war sie leidend. Und als sie die Nachricht bekommen hatte, daß sie das Ziel ihrer Reise nicht erreichen würde, fiel sie gleichsam in sich zusammen. Gewiß, man konnte in Japan aussteigen und ein anderes Schiff nehmen, das durch die Straße von Korea fuhr. Aber zu diesem Vorschlag, den Kyrill ihr machte, schüttelte Lisa Petulikowa hartnäckig den Kopf. Nein, sie wollte auf diesem Schiffe bleiben und umkehren und nach Hause fahren.

Diese ungeheuerliche Reise, die sie unternommen hatte, um das Grab ihres Abgotts zu besuchen, bedeutete den höchsten Einsatz von Willenskraft und Unternehmungsgeist, den sie in ihrem ganzen Leben aufgewendet hatte. Nun war alles sinnlos gewesen — und wurde durch seine Sinnlosigkeit grotesk, eine Narrheit, die dem Mitleid nicht näher stand als dem Spott.

Alles, was sie an innerlichen Kräften besaß, hatte sie für diese närrische Reise aufgewendet. Ein Mehr davon war in ihr nicht übrig. Sie[S. 157] ließ sich zu Boden fallen, und da wollte sie liegenbleiben. Wer sie aufhob, wußte sie nicht und dankte es ihm nicht. Da sie an Herzkrämpfen litt, brauchte sie eine ständige Wache für die Nacht. Eine Stewardeß übernahm die Pflege. Es war ein stilles, etwas schweigsames Mädchen, aus Sheffield gebürtig, früher in Diensten auf der »North-Carolina«, die in San Franzisko beheimatet war. Aber nun wollte sie nach Hause. Sie hieß Kate Mathew und hatte blondes Haar.

Kyrill Petulikow pflegte bis gegen Mitternacht bei seiner Mutter zu wachen. Dann kam das Mädchen und nahm seine Stelle ein. Aber nicht immer ging er dann. Er setzte sich meistens in eine Ecke des behaglichen und nicht engen Raumes und blieb dort, ohne sich zu rühren, stundenlang, die Hände auf den Knien zusammengelegt, mit gesenktem Kopfe, von dem die dunklen Haare weich und locker in die Stirn fielen. Wenn das Mädchen sich umgewandt hätte, dann wäre sie seinem Blick begegnet, der still und gleichsam ausruhend auf ihr lag. Aber sie wandte sich nicht um.

Sie sprachen fast gar nicht miteinander. Er war des Englischen so wenig mächtig wie sie des Russischen. Einmal redete er sie französisch an, und sie antwortete in der gleichen Sprache, aber so einsilbig, daß er wieder verstummte.[S. 158] Personen dienenden Standes gegenüber war Kyrill Petulikow immer etwas befangen. Es war ihm stets peinlich, die Dienste eines Menschen in Anspruch zu nehmen, so hoch er sie auch bezahlte. Er war ein Narr im Trinkgeldgeben und schämte sich für die Leute, die es annahmen. Aber während er Kate Mathew beobachtete, kam er zu dem Ergebnis, daß es unmöglich sein würde, ihr eine Fünfpfundnote in die Hand zu drücken.

In einer Nacht, da die Kranke besonders heftig an Herzkrämpfen gelitten hatte und Kate Mathew sie in den Armen hielt und stützte und leise, unverständliche Worte zu ihr sprach, auf die die Kranke mit wirren Augen horchte, fing Kyrill Petulikow zu reden an.

Er beugte sich in seinem Sessel vor und schüttelte den Kopf.

»Sie sind nicht immer Stewardeß gewesen,« meinte er halblaut, und es war kaum eine Frage.

Kate Mathew stand einen Augenblick, ohne sich zu bewegen, und dann wandte sie sich mit einer Art betonter Festigkeit nach dem Manne um.

»Warum glauben Sie das?« fragte sie und schob mit dem Ton ihrer Stimme das Gespräch weit von sich ab. Aber das hörte Kyrill Petulikow nicht, oder er wollte es nicht hören. Er lächelte ein wenig.

»Ich habe ohne Unterlaß auf Ihre Hände[S. 159] gesehen,« sagte er mit einer gewissen schwermütigen Heiterkeit, für die er keinen Grund hätte angeben können. »Sie haben helfende Hände, aber keine dienenden. Ihre Hände tun, was getan werden muß, von selbst, wie von innen heraus. Man muß ihnen nichts befehlen. Sie wissen mit ihren eigenen Nerven, was das Notwendige und das Gute ist. Dienende Hände sind gehorsam — das ist alles. Wenn man sie nicht schickt und leitet, irren sie sich leicht und greifen fehl. Aber Ihre Hände irren sich niemals. Und ich möchte auf Ihre Hände schwören, daß sie nur dienen, weil etwas außerhalb ihres Wesens sie dazu zwingt.«

Kate Mathew antwortete nicht gleich. Die halblauten und ruhigen Worte des Mannes, der mit seinen stillen Augen zu ihr hinsah, waren so völlig sanft und voller Erkenntnis, daß es sinnlos gewesen wäre, sie verwirren zu wollen.

»Sie haben Recht,« sagte Kate Mathew nach einer Pause. »Aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie nicht mehr über mich nachdenken wollten, denn es würde zu keinem Ergebnis führen.«

»Sie können mir verbieten, es Ihnen zu sagen,« meinte Kyrill Petulikow, »aber Sie können mir nicht verbieten, es zu tun. Ich bitte Sie sehr um Verzeihung, Miß Mathew, wenn[S. 160] ich Sie mit meiner Teilnahme belästige ... Sie waren sehr gut zu meiner Mutter. Meine Mutter hat Sie gern um sich herum, was mit sehr wenig Menschen der Fall ist. Darum sprach ich zu Ihnen ... Wenn Sie Ihren jetzigen Beruf nur aus Zwang erwählt haben — unter dem Drucke irgendeiner Not ...«

»Ja ...« antwortete Kate Mathew, da er etwas innehielt und sie ansah. »Ja, es war eine Not ... Aber nicht, die Sie meinen ... Bitte, wir wollen nicht mehr davon reden, m'sieur ...«

»Verzeihen Sie mir, Miß Kate,« wiederholte der Russe demütig. »Ich hoffte, Ihnen helfen zu können.«

Kate Mathew nahm die Schüssel, in der das Eis zerronnen war, und ging lautlos aus der Kabine. Kyrill Petulikow ging ihr nicht nach. Wenn er es getan hätte, so würde es ihn vielleicht sehr nachdenklich gestimmt haben, die Pflegerin seiner Mutter, Stewardeß auf der »Princeß of India«, zehn Schritte weiter auf einer Treppe sitzend zu finden, wie sie den Kopf in beiden Händen hielt und sehr leise und sehr inbrünstig mit ihrem Herrgott deutsch sprach.

Viel Wunderliches hatte geschehen müssen, bis Kate Mathew von der »North-Carolina« mit dem Engländer nach Europa zurückfuhr ...

Die »North-Carolina« war von Frisko gekommen,[S. 161] und das weibliche Dienstpersonal hatte Urlaub erhalten, sich in der fremden Stadt ein wenig umzuschauen. An der Landungsbrücke, wo die Boote anlegten, hatte ein Mann gestanden und die Mädchen an sich vorübergehen lassen; und als Kate Mathew kam, war er ihr nachgegangen und hatte, an ihr vorüberstreifend, ihr eine Fünfpfundnote in die Hand gedrückt und gesagt, sie möge sich einen Jinrikisha nehmen und ihm folgen.

Das hatte Kate Mathew ohne weiteres getan.

In einem behaglichen Zimmer des Yeddo-Hotels hatte der Mann ihr auseinandergesetzt, was er von ihr wollte. Es war eine einfache und klare Sache. Er wünschte ihren Paß, ihre sämtlichen Papiere und ihr gesamtes Hab und Gut zu kaufen, soweit es sich auf ihren Beruf als Stewardeß bezog. Darauf würde sie sich in ein sehr hübsches japanisches Landhaus zurückziehen, das ihr mit allen Bequemlichkeiten der Verpflegung und einer zahlreichen Dienerschaft zur Verfügung stand — bis zu dem Tage, wo man sie bitten würde, sich möglichst unauffällig zu trollen. Dann sollte sie sich beim Konsulat beschweren, daß man ihr die Papiere gestohlen habe. Sie konnte es ohne jede Gefahr tun. Ihr Sheffielder Dialekt hätte vor jedem englischen Gerichtshof ihre britische Waschechtheit bezeugt.

[S. 162]

Für das Eingehen auf diesen Plan bot ihr der Fremde die runde Summe von zweihundert Pfund, zahlbar in zwei Raten: bei der Auslieferung ihrer Papiere und Ausrüstung und am Ende ihrer Wartezeit.

Kate Mathew von der »North-Carolina« war ein verständnisvolles und selbstsicheres Mädchen; sie verlangte dreihundert. Und dann tat es ihr leid, daß sie nicht fünfhundert gefordert hatte. Sie war überzeugt, daß man ihr auch diese Summe anstandslos bewilligt hätte, und vielleicht irrte sie sich nicht.

Am Abend des Tages, da Kate Mathew ihr hübsches Landhaus bezog, machte Christian Tystendal eine nächtliche Bootsfahrt aufs Meer hinaus.

Das Meer dehnte sich über der vollkommenen Dunkelheit der Tiefe wie eine leichtgewölbte Kuppel über einer Halle aus Saphir. Breit ausgegossen lag der Schein des Mondes über der ruhigen Bläue. Und Christian Tystendal lag in seinem Boote auf dem Rücken, spürte das anschmiegende Gleiten der Wellen unter sich und wartete auf Monduntergang.

Einmal — und auch darauf hatte er gewartet — glitt der Schatten eines Drachensegels über sein Boot. Und dicht an ihm vorbei, wie eine Möwe, strich ein kleines, schnelles Schiff. Ein Mann beugte sich über den Rand und spähte dem Liegenden ins Gesicht.

[S. 163]

Aber Christian Tystendal sang mit der Stimme eines Trunkenen, halblaut und glückselig, das Lied des großen und zeit seines Lebens nicht nüchternen Dichters Li-tai-po in den Mond hinauf:

»Trinket der Becher drei, und ihr ergründet die Tiefe der Weisheitslehre!
Leeret die Flasche, und ihr erschöpfet die Weisheit der Welt!
Nur im Becher wohnt das Glück und die Wonne der Erde!
Laßt mich, des Weines voll, eingehn zur Unsterblichkeit!«

Der Mann im Drachenboot schien keine Ursache zu haben, diese poetische Weinseligkeit zu stören; das Boot verschwand. Es steht in Japan jedem Betrunkenen frei, auf die von ihm bevorzugte Weise aus dem Leben zu verschwinden. Die Behörden kümmern sich lediglich um die übrigen.

Als der Mond hinter dem Hügel der Göttin Kwan-on versunken war und die Flut einsetzte, trieb das Boot des Jüngers von Li-tai-po an die Insel mit dem schönen Namen »Garten des Freundes« und lief knirschend am Ufer auf, unsichtbar vom jenseitigen Lande. Und ein erschrockener Nachtvogel huschte aus den Zweigen des Pflaumenbaumes, der die Tür des Hauses bewachte.

Eine Frau war aus dem Hause getreten und im Garten verschwunden.

Sie hatte seit Tagen und Nächten auf das[S. 164] Kommen des Mannes gewartet und war in jeder Stunde bereit gewesen, mit ihm zu gehen.

Sie wechselten nur wenige Worte.

»Wollen Sie als Stewardeß mit dem nächsten Europadampfer abreisen?«

»Ja.«

Sie hatte sich nicht einen Augenblick besonnen, ehe sie das Wort aussprach.

»Dann kommen Sie,« sagte Tystendal einfach.

»Was soll ich mitnehmen?«

»Nichts als das Geld, das Sie flüssig haben. Alles andere müssen Sie von der Eigentümerin Ihrer Papiere übernehmen. Sie sieht Ihnen soweit ähnlich, daß man eine geschmeichelte Photographie von ihr für eine miserable von Ihnen halten kann. Mehr brauchten wir nicht für den Augenblick. Diese flüchtige Ähnlichkeit veranlaßte mich, mit dem Mädchen in Unterhandlung zu treten, und sie erklärte sich bereit. Wenn Sie es auch tun, sind wir sehr bald am Ziele.«

Nach fünf Minuten hatte Beate Hoyermann den »Garten des Freundes« verlassen. Nach zwei Tagen trat die neue Stewardeß auf der »Princeß of India« ihren Dienst an; sie wurde die Pflegerin von Jelisaweta Petulikowa. Sie wachte in den Nächten und schlief nicht am Tage; und manchmal, wenn sie sich allein glaubte, saß[S. 165] sie auf den Treppenstufen und legte den Kopf in die Hände, horchte auf das unentwegte, gleichmäßig gesunde Pulsschlagen der Schiffsmaschinen und dachte an das höllische Feuer, das sie ernährte — und sehnte sich, einen Weg zu gehen, den sie nur einmal gegangen war, am zweiten Tage ihres Hierseins, als sie gegen Morgen für Jelisaweta Petulikowa Eis holen wollte und sich im Gewirr der Gänge und Treppen verirrte.

Und schließlich war sie dahin gekommen, wo das dumpfe Brausen der Maschinen zum Tosen wurde und das Zittern des Schiffes zum schwirrenden Beben — und hatte umkehren wollen und war stehengeblieben, weil irgendwo in der Finsternis unter ihr eine Tür sich geöffnet hatte und ein Bach von düsterem Glutschein sich in die Dunkelheit ergoß.

Eine schmale, steile Leiter führte aus der Tiefe halb empor und brach ab, als wagte sie sich nicht ins Lichte hinauf, das seine reinere Luft, seine Kühle und Frische gleich einem Almosen in das Glühen, den Dunst und die Finsternis hier unten warf.

Diese Leiter kam ein Mann empor. Er tauchte nur halb herauf, und der Widerschein des Feuers hinter und unter ihm röstete seinen nackten Rücken, seine Arme und Schultern, während das bleiche Licht der schwindenden[S. 166] Nacht auf sein Gesicht fiel und seine keuchende, entblößte Brust badete.

Er stand, die rußigen, vom Schweiß triefenden Fäuste ins Eisengestänge der Leiter klammernd, und hob das Gesicht, mit offenen Lippen atmend, wie einer atmet, der hart am Ersticken war; und das von der irrwitzigen Glut der Tiefe gejagte Herz toste gegen die Rippen, daß es den ganzen Menschen zu erschüttern schien.

Aber das Grausigste an diesem Menschen waren seine Augen — die weitaufgerissenen, blutigen und verdorrten Augen derer, die aus der Hölle kommen, den Himmel anstarren und wieder hinunter müssen ...

Du Gott — du großer Gott im Himmel —!!

Der Mann auf der Leiter ahnte nicht, daß zehn Schritte von ihm entfernt eine Frau stand, die sich bei seinem Anblick rücklings gegen die schütternde Wand des Schiffsganges warf und beide Hände gegen ihren Mund preßte, um nicht zu schreien — und die Zähne tief hineinpreßte in ihre Lippen, die sich öffnen wollten, und mit flatternden Fingern nach rechts und links tastete ... nicht nach einem Halt — nein, nach irgend etwas, daran sie sich mit ihrem letzten, versagenden Willen festnageln konnte, um nicht vorwärts zu stürzen, auf den Mann zu, dem die Augen im Kopfe verkohlt waren von der Arbeit freiwilliger Verdammnis.

[S. 167]

Aber sie rührte sich nicht; sie krallte sich die Nägel ins Fleisch und ging nicht. Sie starrte den Mann mit Blicken an, die ein einziges stummes Schreien waren; aber sie blieb, wo sie war.

Und erst, als er, mit einem letzten trinkenden Atemzug, die Fäuste vom Gestänge der Leiter löste und mit tastenden Füßen niedertauchte in das lohende Schwarzrot des unterirdischen Feuers und verschwand — da ließ sie sich, wo sie stand, auf die Knie fallen und schlug mit der Stirn auf den Boden und streckte die verkrampften Hände vor sich hin — und schleppte sich, auf den Knien liegend, zu der Stelle, wo er gestanden hatte, und drückte den Kopf in ihre Arme und biß in ihr schwarzes Kleid und stöhnte, lautlos, nach innen hinein: »Gerd —! Gerd —! Gerd!«

Ja, die »Princeß of India« war das erste Schiff gewesen, das Japan nach Ausbruch des europäischen Krieges verließ; daran hätte sie denken müssen. Sie hatte nicht daran gedacht. Ihre Gedanken waren im Grenzenlosen umhergeirrt und hatten den Mann, den sie liebte, gesucht — auf dem Wege nach Amerika, nach China, nach Indien ... aber sie hatte keinen Herzschlag lang daran gedacht, daß sie auf gleichen Schiffsplanken stehen würden und die Heimat suchen — in feindlichem Dienste, mit fremden Namen — unbekannt sich selbst wie den anderen.

[S. 168]

Denn das hatte sie begriffen im Augenblick, wo sie ihn sah: Er durfte nicht wissen, daß sie auf diesem Schiffe war ... Er mußte den unerhört schweren Weg, den er gehen wollte, zu Ende gehen ohne einen Gedanken der Sorge um sie. Wenn ihnen die Entdeckung drohte — jetzt ... während der Weiterfahrt ... am Ende ihrer Reise ... mit keinem Blick, mit keiner Bewegung durften sie voneinander wissen.

Und Kate Mathew schwieg ....

Sie suchte auch den Weg nicht wieder, den sie in jener Nacht, sich verirrend, gefunden. Sie versagte sich das jämmerliche Glück, da, an den bebenden Rippen des Schiffs in der Dunkelheit zu kauern und darauf zu warten, daß vielleicht noch einmal in fünfzig Nächten der Heizer, dessen Namen sie nicht kannte, heraufkommen würde, um Atem zu holen nach dem Brodem der Tiefe. Und das einzige, was sie sich gönnte, war, daß sie, wenn ihre Kranke eingeschlafen war, in irgendeinem Winkel saß und den Kopf in die Hände legte und in scheuen deutschen Lauten vor sich hinsprach — Worte der Zärtlichkeit, die ihr Ziel nicht erreichten ...

Und sie legte die Hand an die Wände des Schiffs, durch die der Pulsschlag seiner Maschinen zuckte, als suchte sie den Strom, der aus der Feuerbrandung kam und Leben wurde und Bewegung ...

[S. 169]

Und während ihre Hand den Pulsschlag des Schiffes prüfte, spürte sie, daß er sich veränderte ...

Nein, es war keine Täuschung ...

Der Takt des stählernen Pulses beschleunigte sich, als ob ihm das Fieber ins Blut gefallen wäre.

Warum hatte es die »Princeß of India« mit einem Male so eilig?

Beate stand auf und wollte die Treppe hinaufsteigen, um an Deck zu gelangen. Aber im gleichen Augenblick stolperte von droben ein Mensch die schmalen Stufen hinab, stieß an die Frau, die da im Halbdunkel stand, und brüllte: »Verdammnis über die Hunde —! Lichter aus!«

Im nächsten Moment erloschen sämtliche Lampen, und Beate stand in vollkommener Finsternis.

Was hieß das, großer Gott —?!

Beate hörte, daß eine Türe sich öffnete; Schritte kamen den Gang herauf. Der dünne und scharfe Strahl einer elektrischen Taschenlampe spießte sich in die Dunkelheit, glitt über ihr Kleid und ihr Gesicht.

»Miß Kate?«

»Ja ...«

»Was geht auf dem Schiffe vor?«

»Ich weiß es nicht. Warum sind die Lampen gelöscht worden?«

[S. 170]

Kyrill Petulikow zuckte die Achseln. »Gehen wir hinauf!« sagte er und beleuchtete die Stufen. Aber die Stewardeß schüttelte den Kopf.

»Ich muß zu der Kranken,« sagte sie.

»Meine Mutter schläft,« antwortete der Russe.

»Sie könnte doch erwachen und würde sich vielleicht ängstigen in der Dunkelheit.«

»Gut, gut ... Ich danke Ihnen, Miß Kate ... Ich werde Nachricht bringen, wenn es sich um etwas Besonderes handeln sollte ...«

Er leuchtete ihr nach der Türe seiner Mutter und stieg, als sie dahinter verschwunden war, die Treppe hinauf. Beate blieb an der Schwelle der Kabine stehen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

Das war sehr merkwürdig, alles ...

Sie spürte das verdoppelte Jagen der Schiffsmaschinen wie ihren eigenen Pulsschlag durch den ganzen Körper, von den Füßen bis zum Halse. Sie sah sich um, völlig verständnislos.

Die Kranke lag und schlief. Durch die beiden runden Fenster glotzte eine bleiche Dunkelheit. Es regnete nicht mehr. Es war windig geworden. Zuweilen flogen, Möwen gleich, schneeweiße Fetzen von Gischt an den dicken Scheiben vorbei.

Die »Princeß of India« hatte ihre schöne, schnelle Gelassenheit verloren; sie raste mit berstenden Lungen vorwärts, vorwärts ...

Plötzlich wurden die Fenster weiß.

[S. 171]

Ein tagheller, fressender Schein glitt an ihnen vorbei — war gleich wieder erloschen — und kam wieder ...

Im selben Augenblick trat Kyrill Petulikow in die Kabine.

Er atmete sehr hörbar.

»Was ist?« fragte Beate. Sie stand noch an der Türe. Das spitze Licht in seiner Hand erhellte ein wenig ihr vorgeneigtes Gesicht.

»Wir werden verfolgt,« antwortete Kyrill Petulikow.

Beate verstand nicht. »Verfolgt —?«

»Ja.« Er sagte es, aber sie hörte es nicht. Sie sah es nur an der Bewegung seiner Lippen.

Sie wollte weiterfragen, aber sie kam nicht dazu.

Der schwere und rollende Schlag eines Kanonenschusses dröhnte über das Jagen des Schiffes hin.

Die Kranke fuhr in die Höhe und schrie auf — schrie zu allen Heiligen ...

Kate Mathew sprang ihr zu Hilfe.

»Heilige Mutter Gottes von Kasan — was war das —?! Warum wird geschossen, Kyrill — Kyrill —?!«

»Ein deutscher Kreuzer verfolgt uns,« antwortete Kyrill Petulikow und wandte sich nach Kate Mathew um, die fast gefallen wäre.

Aber es war nur ein Augenblick gewesen.[S. 172] Im nächsten hatte sie sich schon wieder in der Hand.

Und fast ohne ein Wort zu reden, zerrte sie die jammernde und widerstrebende Frau auf die Füße, half ihr, sich anzukleiden ... Vorwärts, vorwärts, Lisa Petulikowa — wir haben bei Gott nicht einen Augenblick zu verlieren ... Das war ein blinder Schuß ... der nächste wird scharf sein ... Es ist Krieg, und ein deutscher Kreuzer verfolgt ein englisches Schiff ...

Ja, das tat er. Er fegte hinter der »Princeß of India« drein, daß die lohende Glut aus allen Schornsteinen breit flackernd wehte. Er hatte seinen knappen »Halt!«-Befehl zu dem flüchtigen Schiff hinübergefunkt, aber die »Princeß of India« ergab sich nicht; sie floh weiter, was die Maschinen hergeben wollten, und sie jagte ihre Hilferufe in alle Richtungen der Windrose.

Der Mann am Marconiapparat würgte seine Flüche hinunter; der Schweiß lief ihm übers Gesicht. Er bekam keine Antwort.

Und drunten im Heizraum standen zehn, zwölf nackte Menschen vor dem geöffneten Rachen der Hölle, die Weißglut von sich spie, und das Wasser verdampfte auf ihren krebsroten Körpern und verzischte auf dem Boden unter ihren Füßen und rieselte und spülte unablässig um sie, während sie keuchend, knirschend, mit versagenden Lungen und Augen, die aus[S. 173] den Höhlen quollen, Felstrümmer, Berge von Kohlen in die gefräßige Glut schleuderten.

Das Schiff stöhnte vor Anstrengung. Das gleichmäßige Sausen der Maschinen wurde zum Geheul. Auf eine halbe Meile rund um die »Princeß of India« war das Meer in kochenden Gischt zerschlagen und zerpflügt.

Aber es half ihr nichts ...

Der erste Schuß grollte über die Wellen. Er war ein letzter Haltbefehl. Er jagte die schlafenden Fahrgäste aus den Betten; halbbekleidet, grotesk und lächerlich, mitleiderregend hasteten sie die Treppen hinauf — drängten sich an das Oberdeck. Männer, Weiber, Kinder taumelten durcheinander und klammerten sich an jeden Menschen, der ihnen in den Weg kam — fragten, heulten, beschwerten sich ...

Der Kapitän der »Princeß of India« war ein ruhiger und kaltblütiger Mann. Er war fest entschlossen, es aufs Äußerste ankommen zu lassen. Er ergab sich nicht beim ersten blinden Schuß. Den Revolver in der Hand, erteilte er seine Befehle. Die Bedienungsmannschaft der Rettungsboote flog an ihre Plätze. Das ohrenzerreißende Rufen der Trillerpfeife gellte ununterbrochen über Deck. Das Schiff lag noch immer im bleichen Dunkel der ersten Morgenstunde.

Aber da kam das weiße Gleißen wieder ...[S. 174] Der breite Keil eines Scheinwerfers sauste aus der Höhe und Ferne des verfolgenden Kreuzers mit einem schwingenden Zupacken zu dem fliehenden Schiff hinüber und hielt es in den Klauen. Ein zweiter legte sich flirrend daneben ...

Zwei Sekunden später blitzte es drüben auf — das Gebrüll eines Raubtiers folgte ...

Zweihundert Meter hinter dem gehetzten Schiff schlug das Geschoß ins kochende Gischten des Kielwassers und schleuderte einen Geiser sprühender Wassersäulen haushoch in die Luft.

Auf der »Princeß of India« brach eine Panik aus.

Die Fahrgäste taumelten durcheinander, als seien sie betrunken vom Schrecken. Das Geschrei der Frauen und Kinder übertönte jeden anderen Laut. In dem weißen und eiskalten Licht der Scheinwerfer, die das fliehende Schiff nicht aus den Fängen ließen, die es förmlich aufzusaugen schienen, waren alle Gesichter verzerrt und durch das Fremde, Niegedachte, Nieerlebte von einer Art grausiger Neugier gespannt.

Aller Lippen standen offen; alle raunten, murmelten, schrien etwas.

Eine Gruppe von Frauen drängte sich um den Schweizer Missionar, der barhäuptig und ohne Rock mitten auf Deck stand und mit unerschütterlicher Stimme und hocherhobenen[S. 175] Armen die kräftigsten Psalmen Davids sprach; die Stimmen seiner Frau und seiner Töchter schwangen sich über die seine hinweg wie ein Flug von geängstigten Tauben.

Die englischen Frauen und Mädchen, die kein Wort von dem verstanden, was er sprach, merkten doch, daß er ein Geistlicher war und mit dem Schöpfer des Himmels und der Erde verhandelte; sie warfen sich neben ihm auf die Knie, reckten die Hände in die Höhe und mischten das irre Gestammel ihrer Angst mit seinem ruhigen und fast gewaltigen Beten.

Die schneidende Stimme des Ersten Offiziers hallte scharf und hoch über das ganze Schiff: »Wenn der Befehl zum Verlassen des Schiffes gegeben wird — die Frauen zuerst in die Boote —!«

Der Chilene kam, völlig betrunken, die Treppe heraufgestolpert. Er war kreideweiß im Gesicht.

»Die Boote sollen ins Wasser gelassen werden!« schrie er und rannte torkelnd in die Menschen hinein. »Wo ist der Kapitän —? Die Boote sollen ins Wasser gelassen werden —!«

»Verhalten Sie sich ruhig, Herr —!« antwortete ihm der Erste Offizier mit einem grimmigen Ton.

Aber der Chilene bekam einen mächtigen Verbündeten. Drüben auf dem deutschen Kreuzer blitzte es zum zweiten Male auf, und das Gebrüll[S. 176] des Schusses erschütterte die gepeitschte Luft, und diesmal schlug das Geschoß keine Schiffslänge mehr hinter der »Princeß of India« ins Wasser. Der aufspringende Wind trieb die Tropfenschleier des hochgeschleuderten Geisers über die Menschen hin, aus deren Mitte ein verworrenes Geschrei aufstieg und Worte gewann und schließlich drohende Fäuste.

»Der Dampfer soll halten —! Der Kapitän soll das Zeichen geben, daß er halten will —! In einer Minute können wir alle in die Luft fliegen —!«

Der betrunkene Chilene war der Wortführer einer Schar, die ständig wuchs; er erzwang sich mit den rücksichtslosen Ellbogen der Trunkenheit und der Angst den Weg zum Kapitän.

»Herr, lassen Sie das Schiff halten!« brüllte er, und um so lauter, je mehr ihm das Grausen vor dem Erleben dieser Nacht nach der Kehle griff. »Wir befehlen Ihnen, daß Sie das Schiff halten lassen —!«

»Ich verbiete Ihnen, sich in meine Angelegenheiten zu mischen,« sagte der Kapitän sehr scharf, denn er wußte recht gut, daß hinter dem Chilenen eine brandende Mehrheit stand. Es ging um die Kommandogewalt auf der »Princeß of India«.

»Ihre Angelegenheiten, Herr —?!« brüllte der Chilene. »Wenn wir von dem Satan hinter uns in Grund und Boden geschossen werden,[S. 177] so ist das ebensogut unsere Angelegenheit wie die Ihre —! Und wenn Sie sich weigern — Herr, ich sage, wenn Sie sich weigern,« wiederholte er und schrie in der Fistel, während er dem Kapitän mit beiden Händen vor dem Gesicht herumfuchtelte, »dann werden wir uns der Leitung des Schiffes mit Gewalt bemächtigen —! Dann sind Sie Kapitän gewesen! Dann machen wir selbst die Boote klar —!«

Der Kapitän der »Princeß of India« hob den Revolver in Augenhöhe.

»Den ersten, der sich untersteht, einen Schritt zu tun, den ich nicht billige,« sagte er klingend, »schieße ich über den Haufen — auf mein Wort! Verhalten Sie sich ruhig, Myladies und Gentlemen! Ich habe die Verantwortung — das kann Ihnen genügen.«

Es trat ein Augenblick der Stille ein, in dem nichts zu hören war als das Keuchen des fliehenden Schiffes und das Tosen des Wassers, nichts als das Schluchzen einiger Frauen und die gehobene Stimme des Missionars, über dem die volle Heiterkeit einer geliebten Pflichterfüllung lag.

Das leise Jammern Jelisaweta Petulikowas war verstummt und hatte der Stumpfheit Platz gemacht, die auf alles gefaßt ist und sich in alles ergibt. Sie hockte auf ihren eigenen Fersen und war durch nichts zu bewegen, aufzustehen und[S. 178] sich bequemer unterbringen zu lassen. Sie hatte den Kopf mit den halbgelösten Haaren in die Arme vergraben und zitterte unaufhörlich. Sie antwortete auf keine Frage mehr.

Neben ihr standen ihr Sohn und ihre Pflegerin. Und Kyrill Petulikow ließ seine Augen mit einem sonderbaren Ausdruck auf der Frau ruhen, deren Blicke nicht den Himmel, nicht das Meer, nicht die Menschen suchten — nur das Schiff hinter ihnen — nur den deutschen Kreuzer.

Kate Mathew wußte es ebensogut wie der Chilene, wie die jammernden Frauen und Kinder, wie der Kapitän und die Männer, die sich und ihre Angehörigen mit Rettungsgürteln versahen: das war eine Fahrt auf Leben und Tod. Und der Kreuzer fraß die Entfernung zwischen sich und dem Engländer. Er mußte — er würde ihn einholen ... Der nächste Schuß würde der »Princeß of India« in den Flanken sitzen, so gewiß da drüben deutsche Matrosen an den Geschützen standen.

Und wenn sie dann in die Rettungsboote gehen mußten — die See war aufgeregt wie die Menschen ... Es gab keine Gewähr gegen das Unglück. Und der nächste Schuß aus den Kruppschen Geschützen konnte, zu hoch gehalten, das Deck treffen, an Stelle des Schiffsrumpfes — konnte mittenhineinschlagen in die Menschenmasse,[S. 179] die sich jammernd zusammendrängte und sinnlose Schutzwände suchte.

Und doch war der Ausdruck auf dem Gesicht von Kate Mathew, das weiß und leuchtend im vollen Schein der feindlichen Lichtströme stand, nicht Furcht, nicht Haß, nicht Verstörtheit noch Ergebenheit ...

In ihren Augen, die sich ganz weit aufgetan hatten, in ihren Händen, die sich falteten, in dem Sichöffnen ihrer Lippen, die nicht lächelten, doch stets dazu bereit schienen, lag eine solche Inbrunst der Liebe, wie Kyrill Petulikow sie noch niemals auf einem Menschengesicht gesehen hatte.

Und darüber staunte er sehr, und seine Gedanken gingen wunderliche Wege.

Die Frau neben ihm wußte nicht, daß sie beobachtet wurde. Vielleicht wäre es ihr in dieser Stunde auch gleichgültig gewesen. Sie sah dem deutschen Kriegsschiff in die flammenwerfenden Augen hinein und spürte eine närrische Sehnsucht, niederzuknien und zwischen Jauchzen und Weinen das deutsche Schiff bei Namen zu rufen: »Du —! Du —!«

Sie liebte die Lichtkegel, die die Dunkelheit zerfraßen und das englische Schiff in den starken Klauen hielten wie an straff gespannten, bebenden Seilen.

Sie liebte die breite Fahne, die da drüben[S. 180] im Luftzug dieser rasenden Wettfahrt knatterte und die sie nur mit den Sinnen ihrer Seele hörte und sah; sie liebte das sprühende Feuer, das aus den drei Schloten wehte; sie liebte die Rauchstandarte, die im Winde flog und flackte.

Sie liebte — ja, sie liebte das Aufblitzen und Aufbrüllen der deutschen Geschütze und würde das Geschoß lieben, das mit jeder Sekunde hineinschlagen konnte in den Rumpf des englischen Schiffes, und wenn's auch um den Preis ihres eigenen Unterganges wäre — sie würde es doch lieben ...

Denn all dies war ein Stück Heimat — ein Stück von Deutschland, das im Kriege stand mit der halben Welt — etwas von allem, dem in dieser Zeit ihre tiefste und schmerzlichste und ihre gläubigste Liebe galt — Heimat, Volk und Vaterland ...

Und der Gedanke erfüllte sie mit einer heimlichen und grenzenlosen Glückseligkeit: da unten, da, wo das Herz des Schiffes schlug, schlug auch das Herz eines Menschen, der fühlte wie sie ... Auf diesem von sinnloser Flucht gejagten Menschenboot, innerhalb dieser keuchenden, glühenden, von Wut und Angst geschleuderten Menge, die zu Gott im Himmel um Rettung schrie, war einer, der grimmig und herzlich lachte — einer, der nur darauf wartete, daß die »Princeß of[S. 181] India«, die sich gutwillig nicht ergab, vom nächsten scharfen Schuß des deutschen Kreuzers getroffen der Vernichtung in den Rachen taumelte — und wenn er mit hinunter müßte ... mit einem letzten Gedanken inbrünstigen Hasses und inbrünstiger Liebe ...

»Nicht ohne mich, mein Mann,« flüsterte Beate und suchte mit ihrer Hand, wie sie in diesen Tagen oft getan, den Pulsschlag der Maschinen, die ein Gruß aus der brüllenden Tiefe waren; »nicht ohne mich ...«

Kyrill Petulikow sah, daß ihre Lippen sich regten; aber er verstand nicht, was sie sagte — er beugte sich zu ihr ... und im nächsten Augenblick taumelten sie beide — wie die Fichten um den Tempel der Göttin mit den schönen Augen, als das Erdbeben sie warf.

Diesmal hatten sie gut gezielt auf dem deutschen Kreuzer ...

Das dröhnende Rollen des dritten Schusses mischte sich mit dem kreischenden Laut, der die Flanken der »Princeß of India« zerriß — und mit dem aufgellenden Schrei der Menschen, die er halb zu Boden warf.

Jelisaweta Petulikowa lag auf den Knien und krallte ihre beiden Hände in das Kleid ihrer Pflegerin; der Mund stand ihr offen und war ganz verzerrt. Sie hatte den Blick einer Wahnsinnigen und schrie ununterbrochen nach ihrem[S. 182] toten Sohne. Ihr Schreien war das eines Kindes, das vor Schrecken verrückt geworden ist.

Beate bückte sich zu ihr und nahm den Kopf der Heulenden mit beiden Armen an ihre Brust. Auch ihre Augen, ihre Lippen standen weit offen — aber sie lauschte auf etwas anderes.

Mitten in dem tosenden Durcheinander von Rufen, Schluchzen, Brüllen, Pfeifen hörte sie: die Maschinen der »Princeß of India« arbeiteten nicht mehr im Takt.

Alle ihre Pulse waren in Verwirrung geraten. Jetzt rasten sie, und jetzt hielten sie fast gänzlich inne — und waren wie der Herzschlag von einem, der mit dem Tode ringt.

Das Geschoß war in den Maschinenraum geschlagen ...

Die »Princeß of India« jagte noch immer wie von tausend Teufeln besessen durch das zischende Wasser. Aber was sie vorwärts trieb, war nur noch der eigene Schwung der Bewegung. Sie gehorchte der Steuerung nicht mehr. Der ungeheure Leib des Schiffes taumelte wie betrunken.

Aus allen geöffneten Ventilen trillerte der abblasende Dampf mit einem Zischen, das die Ohren taub machte. Das Schiff schrie, als sollten die Sirenen platzen.

Rauch quoll aus der Tiefe ...

Der Chilene torkelte über das Deck und krallte die Finger in die Luft.

[S. 183]

»Feuer —!« gellte seine Stimme auf. Und noch einmal: »Feuer —!«

Dann fiel er hin und schlug mit den Fäusten und Füßen um sich.

In einem Augenblick wußten es alle, daß er Recht hatte: Die »Princeß of India« brannte in ihrer Tiefe.

Das zerreißende Jammern der Weiber, die ihre Kinder in den Armen hielten, deckte die Stimme des Kapitäns zu, der den Befehl zum Halten gab. Er hatte es nicht mehr nötig. Die »Princeß of India« war am Ende ihrer Kraft. Noch ein paar hundert Meter vorwärts geschleudert ohne Willen, lag sie treibend auf dem Wasser.

Langsam, unendlich langsam und dennoch merklich, neigte sie sich, wie ein ungeheurer Riese, dem eine Flechse durchschnitten wurde.

Die Turbogeneratoren, die den Lichtstrom erzeugten, arbeiteten nicht mehr. Das Schiff war in seinen Tiefen so dunkel wie die Tiefe des Meeres. Aber die Scheinwerfer des deutschen Kreuzers badeten seinen Untergang mit weißem, ganz enthüllendem Licht, das ohne alle Wärme unbarmherzig war.

Das Schiff, das die deutsche Kriegsflagge trug, fegte mit der wundervollen und federnden Kraft all seiner bedingungslos gehorchenden Muskeln an die »Princeß of India« heran. In dem Augenblick, da das erjagte Schiff seine[S. 184] Rettungsboote ins Wasser ließ, setzte auch der Kreuzer seine sämtlichen Boote aus. Zwischen den beiden Riesen, über die sich, das Licht der Scheinwerfer für Minuten trübend, der schwere Qualm der Schornsteine wälzte, tanzten die schnellen und beweglichen Geschöpfe auf den Kämmen der eingepreßten Wellen, mit ausgestreckten Riemen, stoßbereit wie Vögel.

»Die Frauen in die Boote —!« brüllte der Kapitän.

»Die Frauen in die Boote —!« brüllten die Offiziere.

Kyrill Petulikow wollte seine Mutter aufheben. Sie sträubte sich; sie hatte eine wahnwitzige Angst vor den gleichgültigen, langen und greifenden Wellen, die ein Boot voller Menschen schleudern wie einen Ball. Sie fühlte nicht, daß die »Princeß of India« sich mehr und mehr neigte, achtete nicht auf den Rauch, der aus allen Luken dunkel quoll — sie fühlte nur, daß sie noch festen Boden unter den Füßen hatte, und wollte ihn nicht verlassen.

Mit Gewalt schleppten Kyrill und Kate Mathew die Frau, die verzweifelt um sich schlug, nach der Stelle, wo die Ausbootung vor sich ging.

Der Erste Offizier des deutschen Kreuzers schwang sich an Deck der »Princeß of India«. Er grüßte den Kapitän.

[S. 185]

»Ich bedaure, durch den Fluchtversuch Ihres Schiffes zu Gewaltmaßregeln gezwungen worden zu sein,« sagte er. »Ich habe jedoch nicht viel Zeit. Jeden Augenblick können englische Kreuzer auftauchen. Bitte, beeilen Sie sich. In fünf Minuten muß das Schiff verlassen sein; wir sind im Krieg.«

Der Kapitän grüßte. Mit der Uhr in der Hand verfolgte der deutsche Offizier das Fortschreiten der Rettungsarbeit.

Es waren hauptsächlich Frauen an Bord der »Princeß of India« gewesen. Sie hatten den Kopf verloren und wehrten sich teils verzweifelt gegen die Hände, die sich nach ihnen ausstreckten, teils sprangen sie blindlings über Bord, ins Wasser, das über ihnen zusammenschlug — in die schon gefüllten Boote hinein, denen, die sich darin zusammendrängten, daß die Bemannung die Riemen nicht mehr rühren konnte, auf die Köpfe.

Die Frau und die Töchter des Schweizer Missionars befanden sich im zweiten Boot und streckten unter jammerndem Schreien die Arme nach dem Mann und Vater aus, der noch auf Deck des Schiffes stand und unentwegt seine starken und fast freudigen Gebete in das Toben der Verwirrung schickte.

Die beiden Töchter von Sir Hugh Trelawney hielten sich eng umschlungen und warteten, totenblaß[S. 186] und entschlossen, bis die Reihe an sie kommen würde. Sie schienen sehr geneigt zu sein, dem deutschen Kreuzer die Vernichtung der »Princeß of India« zu vergeben, weil er seine Sache sportsmäßig tadellos gemacht hatte. Dafür besaßen sie Verständnis.

»Drei Minuten,« sagte der deutsche Offizier laut.

Der Chilene, den angesichts der doppelten Gefahr von Wasser und Feuer die Seekrankheit mit allen Krallen gepackt hatte, stieß einen gurgelnden Schrei aus und arbeitete sich mit wütenden Ellbogenstößen eine Gasse durch die Frauen, die ihm vorgezogen wurden.

Der Kapitän der »Princeß of India« nahm ihn beim Kragen und schüttelte ihn wie einen nassen Hund ... »Feigling, infamer —!«

Aber die Angst um sein Leben gab dem Betrunkenen doppelte Kräfte. Er riß sich los und sprang über die Reling, schlug mit flachem Körper auf den Rand eines Bootes auf, das eben abstoßen wollte, und glitt ins Wasser. Von der nächsten Welle zurückgetrieben, stieß das Boot mit voller Wucht gegen den Körper des Schiffes — gerade in dem Augenblick, als der Chilene wieder auftauchte. Er stieß einen grauenvollen Schrei aus, den niemand hörte, denn die heranrollende Welle spülte über seinen aufgerissenen Mund ... Ein Matrose bückte sich, um nach dem[S. 187] Versinkenden zu greifen; aber der ging unter wie ein Sack.

Kyrill Petulikow trug seine Mutter die Treppe hinab; irgend jemand nahm sie ihm aus den Armen; sie wehrte sich nicht mehr. Sie war ohnmächtig geworden.

»Miß Kate!« schrie der Russe und sah sich nach allen Seiten um. »Miß Kate —!«

Kate Mathew antwortete ihm nicht.

Sie wollte das Schiff nicht verlassen, ehe sie nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, daß auch die Heizer alle es verließen. Sie verkroch sich in einen dunklen Winkel und preßte die Zähne in ihre Hand.

»Nicht ohne dich, Gerd ... nicht ohne dich ...«

Sie hörte das Rufen Kyrill Petulikows, aber sie drückte sich nur noch tiefer in ihr Versteck ...

»Nicht ohne dich ... nicht ohne dich ...«

Es waren keine Frauen mehr an Bord — nur sie allein. Die männlichen Fahrgäste verließen das Schiff, das Personal, die Offiziere — und die Heizer. Aber der, den sie suchte, war nicht dabei.

Von den Heizern waren drei oder vier verwundet ... Einen mußten sie ins Boot hinuntertragen. Sein nackter Oberkörper war mit einem Tuch verhüllt, das dunkle Flecken zeigte.

Kyrill Petulikow suchte noch immer und rief nach ihr, die nicht hören wollte.

[S. 188]

»Fertig —?«

»Nein, um Gottes willen, nein —!«

»Bitte, beeilen Sie sich — es ist die letzte Minute ...«

Das Wort jagte die Frau aus ihrem Winkel hervor. Sie wollte in das Schiffsinnere hinunter. Sie wollte den Mann suchen, den sie vermißte. Sie würde den Weg wiederfinden, den sie damals gegangen war. Sie würde nach ihm rufen — mochte dann geschehen, was wollte ...

Bei dem ersten Schritt, den sie tat, entdeckte Kyrill Petulikow ihren Schatten. Er stolperte auf sie zu und griff nach ihr.

»Kate — Kate, haben Sie den Verstand verloren —?!«

Er zerrte sie hinter sich drein; sie wehrte sich wie ein wildes Tier. Sie wollte ihm sagen: »Lassen Sie mich los! — Lassen Sie mich frei —!«

Aber in der fürchterlichen Verwirrung dieser Stunde fehlten ihr die Worte der fremden Sprache. Sie konnte sich nicht besinnen, und wenn der Weltuntergang daran gehangen hätte, was das für Laute waren, die sie in diesem Augenblick brauchte. Sie rüttelte an den Armen, die sie hielten, und biß in die Hand, die ihre Hände fesseln wollte.

Mit schleifenden Füßen hängte sie sich, so[S. 189] schwer sie konnte, an die Kraft des Mannes, den sie ermüden wollte. Aber sie vermochte nicht, ihn zu bewegen, daß er sie losließ. Die deutschen Worte sprangen ihr bettelnd auf die Lippen, aber sie würgte sie mit einer ungeheuren Anstrengung hinunter. Nichts verraten — ihn nicht — sich nicht ... Heiliger Gott im Himmel!

»Fertig —?«

Der deutsche Offizier sprang in das letzte Boot. Gleichzeitig mit dem seinen stieß auch das, in dem Kyrill Petulikow, Beate quer vor sich in den Armen haltend, angelangt war, von der »Princeß of India« ab.

Beate ließ sich zu Boden fallen; sie krallte mit beiden Händen in ihr Haar.

Als das letzte Boot dreißig Meter von dem verlorenen Schiffe entfernt war, erschien droben, an der Reling der »Princeß of India«, ein Mann, dem das Blut über das Gesicht lief. Er hob den nackten Oberkörper; der linke Arm gehorchte ihm nicht; er winkte mit dem rechten. Und er schrie mit der ganzen Kraft seiner Lungen zu den deutschen Matrosen hinüber: »Kameraden —!«

In dem Boot, in dem Kyrill Petulikow saß, entstand eine Bewegung. Eine Frau war aufgesprungen und hatte sich mit einem Rufe, den niemand verstand, ins Wasser geworfen, um[S. 190] nach der sinkenden »Princeß of India« zurückzuschwimmen.

Ein Mann neben ihr, ein englischer Matrose, packte sie bei den Haaren und hob sie ins Boot zurück, wo sie regungslos liegenblieb.

»Es ist nichts, es ist nichts,« sagte er gleichmütig und schob ihr seinen Rock unter den triefenden Kopf. »Sie hat wahrscheinlich den Verstand verloren.«


[S. 191]

6

Wellen kamen — aus einer unendlichen Tiefe her. Sie stiegen auf ... müde, müde ... waren so dunkel und so schwer wie schwarzer fließender Marmor. Und immer, wenn sie dem Lichte des Bewußtseins und dem Tage nahe kamen, ebbten sie langsam wieder zurück und versanken in einem Meere von Verwirrung und Unlösbarem.

Beate schlief nicht. Sie träumte auch nicht. Sie lag nur unbeweglich und fühlte mit weit offenen Augen, wie die dunklen Wellen aus ihrer Tiefe heraufkamen und zu ihr emporstiegen, immer schwerer, immer breiter — langrollend und unaufhaltsam. Im nächsten Augenblick würden sie über sie wegfluten oder sie fassen und mit sich saugen in die grenzenlose Dunkelheit, aus der sie gekommen waren, um wieder in ihr zu versinken.

Dann suchte sie irgend etwas, an das sie sich anklammern konnte — vermochte kein Glied zu rühren und fühlte das Versagen ihrer Lungen, wollte schreien und schrie doch nicht ...

[S. 192]

Denn immer, wenn sie die Lippen öffnen wollte, blitzte als einziges Licht in der Finsternis das Warnen ihres Verstandes auf: nichts verraten — verrate dich nicht ...

Dieses wachende Licht erlosch nicht einmal im Fieber. Aber es war schuld daran, daß ihr Puls und ihr Hirn nicht zur Ruhe kommen konnten — daß sie mit fliegendem Atem und dem Herzschlag eines kleinen kranken Kindes in der Kabine des holländischen Dampfers lag, der die Mehrzahl der Fahrgäste von der »Princeß of India« dem deutschen Kreuzer abgenommen hatte.

Von der »Buitenzorg« wehte der Heimatwimpel; sie kam von Batavia und wollte nach Amsterdam. Kyrill Petulikow und seine Mutter hatten beabsichtigt, auf gleichem Wege heimzukehren, wie sie ausgefahren waren. Aber die Pforte hatte die Dardanellen gesperrt, und schon der Gedanke an die Möglichkeit, noch einmal zwischen zwei Staaten zu geraten, die in Meinungsverschiedenheiten waren, genügte, um Lisa Petulikowa krank zu machen — um so mehr, als die Ereignisse, die hinter ihr lagen, ihrer Gesundheit schon einen schweren Stoß versetzt hatten.

Kate Mathew fehlte ihr.

Die junge Holländerin, die ihre Pflege übernommen hatte, konnte sich mit ihr nicht verständigen[S. 193] und brachte die Kranke, der alle Nerven bebten, zu Weinkrämpfen durch die Unerschütterlichkeit ihrer heiteren Seelenruhe, durch ihre roten Pausbacken und ihre blanken Augen — und durch die unschuldige Freude, die sie an den Tag legte, wenn Lisa Petulikowa das Essen zurückschickte.

Am Tage, bevor die »Buitenzorg« in den Suezkanal einfuhr, fragte Kyrill Petulikow, ob er Kate Mathew sprechen könne.

Der Schiffsarzt zuckte die Achseln. Gewiß könne er das; aber es sei die Frage, ob sie ihm antworten würde. Sie war nicht eigentlich krank; es lag nur eine Starrheit über ihr, wie über einem Menschen, den der Schreck versteint hat. Es bestand nicht die geringste Gefahr für ihr Leben; aber es schien, als weigere sie sich, zum vollen Bewußtsein zurückzukehren. Ihr Geist tastete sich einen weiten Weg zurück, aus der Dunkelheit ins Licht; aber wenn sie an der Türe des Erkennens stand, die Klinke schon in der Hand hatte, schauderte sie und kehrte wieder um — tauchte von neuem unter im Nichts.

Kyrill Petulikow sagte, er wolle sie trotzdem sprechen. Sie sei die Pflegerin seiner Mutter gewesen und habe immer gewußt, wie man am besten mit der Kranken fertig werden konnte. Vielleicht war sie doch imstande, ihm das Mittel[S. 194] zu nennen, das sie angewandt, um Lisa Petulikowa zur Ruhe zu bringen ...

»Versuchen Sie's,« meinte der Arzt. »Es wäre ein großes Glück, wenn es Ihnen gelänge, dieses Mädchen aus seiner Stumpfheit aufzurütteln. Der Zustand, in dem sie sich befindet, erinnert verzweifelt an eine beginnende Geisteskrankheit ...«

Kyrill Petulikow antwortete nicht.

Das saubere und freundliche Geritje, das die Kabine mit Kate Mathew teilte, war sehr erstaunt, als der junge Russe bei ihnen eintrat; es lächelte sein hübschestes Lächeln und wollte ihm das Feld überlassen. Aber Kyrill Petulikow nickte ihr zu, sie möge nur getrost dableiben. Von Geritje wußte er, daß sie kein Französisch verstand.

Kate Mathew hatte seinen Eintritt nicht bemerkt.

Sie lag, wie sie seit vielen Tagen zu liegen pflegte, mit weit offenen, trockenen Augen, die nichts sahen, und mit krampfhaft geschlossenen Kinnbacken, als müsse sie etwas in ihrem Munde festhalten, an dem ihr Leben hing. Ihre Hände, die ganz durchsichtig geworden waren, lagen bleich und schmal ausgestreckt auf der bunten Decke ihres Bettes. Ihre Wangen waren so eingefallen, daß sich alle Zähne dahinter abzeichneten. Sie glich sich selbst so wenig, daß[S. 195] Kyrill Petulikow Mühe hatte, sie zu erkennen.

Und er dachte, während er auf sie niedersah, daß Kate Mathew nicht der Mensch war, den die Angst, das eigene Leben zu verlieren, um seinen klaren, starken Verstand brachte.

Er hatte nicht nach Kate Mathew gefragt um seiner Mutter willen; aber er glaubte, vielleicht sei die Mahnung an ihre Pflicht das einzige, was imstande war, die Wand zu durchstoßen, die sie vom Bewußtsein schied.

»Miß Kate,« sagte er behutsam, indem er sich über sie beugte, »meine Mutter ist sehr leidend; sie verlangt nach Ihnen. Werden Sie kommen?«

Ja, nun war es geschehen. Nun hatte eine andere Hand die Türe aufgemacht, vor der Kate Mathew sich so geängstigt hatte. Sie schrak zusammen und faltete die Stirn, als besänne sie sich auf die Worte, die sie gehört; und dann begriff sie.

Es ging nicht an, daß man sich vor dem Leben verkroch und sich taub und blind stellte. Das Leben kannte seine Diensttauglichen ganz genau und rüttelte sie wach, wenn es glaubte, daß es Zeit sei.

Sie war nicht Beate Hoyermann, die sich fallen lassen durfte und ihre Not austrinken wie eine Schale voll von betäubendem Wein.[S. 196] Sie war Kate Mathew, Stewardeß auf der »Princeß of India« und Pflegerin einer kranken Frau, die nach ihr verlangte.

In ihre Augen kam der Blick zurück. Sie faßte die Gegenstände und den Menschen, der sich über sie beugte, und begriff sie und was sie von ihr wollten.

»Ja,« sagte sie, die Lippen regend, als müsse sie erst wieder sprechen lernen. »Ja, ich komme.«

Kyrill Petulikow hatte noch weitersprechen wollen; aber die Enge und Ungemütlichkeit des Raumes bedrückte ihn.

Er sagte: »Danke, Miß Kate,« und ging hinaus. Auf dem Gang, den sie durchschreiten mußte, wartete er auf sie.

Er brauchte nicht lange zu warten.

Nach zehn Minuten kam sie aus der Kabine, in dem schwarzen Kleid, das sie am Tage der Schiffskatastrophe getragen und das um ihren abgemagerten Körper schlotterte. Sie ging mit ganz unsicheren Füßen und dennoch eilig, mit den ausgestreckten Fingerspitzen rechts und links die Wände des Ganges berührend. Ihre Augen standen noch immer viel zu weit offen, und es sah aus, als hätten sie sich nie mehr geschlossen, seit sie das Letzte — das Bild des verwundeten Mannes auf der »Princeß of India« — geschaut, und als sähen sie es noch immer. Über ihre Lippen, die das Fieber verbrannt hatte, flog der[S. 197] Atem. Ihre Füße schlürften über den Boden, als seien sie sich selbst zu schwer.

Unwillkürlich machte Kyrill Petulikow eine Bewegung, als wollte er ihr entgegengehen. Aber er besann sich und ließ sie auf sich zu kommen.

Kate Mathews geweitete Augen schienen durch ihn hindurch zu sehen. Er stand an der Treppe, die zum Deck hinaufführte, und hielt die Kommende mit einer kleinen Bewegung seiner Hand zurück.

»Verzeihen Sie,« murmelte Kate Mathew und schwankte, als sie stehenblieb. »Ihre Mutter —?«

»Meine Mutter, Miß Kate,« sagte Kyrill Petulikow mit seinem mildesten und ehrerbietigsten Lächeln, »mag ein wenig warten ... Sie haben sehr lange keine Sonne gesehen und keinen Salzwind geatmet ... Das würde Ihnen gut tun. Und ich möchte Ihnen dies und jenes sagen, ehe Sie zu meiner Mutter gehen. Bitte, kommen Sie ...«

Sie machte nicht den leisesten Versuch des Widerstandes; sie ging sofort auf die Treppe zu und begann, die Stufen hinaufzusteigen. Kyrill Petulikow hatte das Gefühl, daß sie mit derselben Widerstandslosigkeit in brennendes Feuer hineingegangen wäre, so völlig war sie ihres eigenen Willens beraubt.

[S. 198]

»Hier ...« sagte er und schob ihr einen Stuhl hin. Das Sonnensegel dämpfte Licht und Wärme. Sie setzte sich und legte die flachen Hände im Schoß zusammen. Sie sah den Mann nicht an; ihre Augen irrten über das schöne, stille Meer, wie Vögel, die nicht wissen, wo sie ruhen sollen.

Kyrill Petulikow setzte sich ihr gegenüber.

»Miß Kate,« begann er mit einem vorsichtigen Rufen, als wünschte er, sie aufzuwecken, damit sie seine Worte gut begriff, »ich möchte Ihnen sagen ... vielleicht tut es Ihnen gut, das zu wissen ... der Mann, der — damals — auf der ›Princeß of India‹ zurückgeblieben war und verwundet schien und rief ... er ist gerettet worden ...«

Eine Weile schien es, als hätte die Frau ihn nicht verstanden. Sie starrte ihn völlig blicklos an. Und dann ging ein Zittern über ihre Lider, ihre Lippen, über ihre Hände, die sie ihm entgegenhob. Sie hielt den Atem in der Brust zurück und schluckte krampfhaft, ehe sie mit einem fast blöden Ausdruck fragte: »Was sagten Sie eben, Kyrill Petulikow?«

Der Mann wiederholte seine Worte mit einer merkwürdigen Bitterkeit des Tons. Er sah die Frau an und dachte: Ich bin ein Narr ... Und er stand auf, um fortzugehen.

Aber er ging nicht.

[S. 199]

Kate Mathew hielt ihn zurück — weit mehr noch durch ihren Blick als durch die unschlüssige Gebärde ihrer Hände.

»Er ist also gerettet worden?« fragte sie. »Er ist gewiß gerettet worden?«

»Ja, Miß Kate,« antwortete Kyrill Petulikow.

Kate Mathew schloß die Augen. Und dann lächelte sie.

»Das ist gut,« sagte sie, mit einem schluchzenden Atemholen. »Das ist gut ...«

Und dann stand sie auf. Sie hatte ihren Willen wiedergefunden, und sie konnte auch wieder, was sie wollte.

»Sie wünschten mir etwas zu sagen,« meinte sie mit einem helleren Ton und Blick. Sie stand vor Kyrill Petulikow, als erwartete sie seine Anordnungen.

»Das Wichtigste habe ich Ihnen gesagt,« entgegnete der Russe ernst.

Die Frau sah ihm ins Gesicht. Und sie begriff, als sie seinem klaren und etwas schwermütigen Blick begegnete, daß er, wenn auch auf falschem Wege, zum mindesten ein Stück der Wahrheit erraten hatte. Und sie begriff zugleich mit dem Instinkt der Frau, die sich in ihrer Liebe sicher weiß und es nur natürlich finden würde, wenn Gott und seine Engel, die Menschen und die Tiere und alles, was auf der[S. 200] Welt ist, einzig dieser Liebe dienen würden, daß hier ein Mensch war, von dem sie alles erbitten und alles nehmen durfte, weil er wußte, wie groß ihre Liebe zu einem anderen war.

Sie wollte reden, aber Kyrill Petulikow schüttelte den Kopf.

»Sagen Sie mir jetzt nichts, Miß Kate,« kam er ihr zuvor. »Wenn Sie die Bitte, die ich an Sie richten will, erfüllen werden, dann haben wir noch reichlich Zeit vor uns, Geheimnisse aufzuklären — falls Sie glauben, daß Sie das tun möchten ...«

»Ihre Bitte, Kyrill Petulikow?«

Er zögerte einen Augenblick. Er schien ein Wort zu suchen, das dem Mädchen gezeigt hätte, wieviel ihm an der Erfüllung seines Wunsches lag. Aber dann sagte er ganz einfach: »Ich wäre Ihnen so sehr dankbar, Miß Kate, wenn Sie meine Mutter nach Rußland begleiteten ...«

Er schwieg und wartete, ob sie etwas sagen würde; aber sie schien von seinem Vorschlag so überrascht zu sein, daß sie zunächst nichts erwiderte und ihn auch nicht ansah.

»Meine Mutter,« fuhr Kyrill Petulikow darum nach einer Pause fort, »hat Sie sehr entbehrt, Miß Kate. Sie haben eine feste und sanfte Art und sind der einzige Mensch, von dem sich meine Mutter etwas abschlagen läßt, das ihrer Krankheit förderlich wäre. Wir haben[S. 201] noch eine endlose Reise vor uns, die der Kriegszustand doppelt erschwert. Die Pforte hat die Dardanellen gesperrt. Ich glaube kaum, daß meine Mutter die Geduld besitzen wird, so lange in Ägypten zu bleiben, bis die Meerstraße wieder geöffnet ist. Wir wollen über Griechenland und Rumänien nach Rußland reisen ... Sie können sich denken, was solch eine Reise für meine Mutter bedeutet ... Sie würden ihr alles so sehr erleichtern ... Und auch mir, Miß Kate ... Aber ich bitte nicht um meinetwillen ...«

»Ich will nicht sofort eine Antwort von Ihnen,« schloß er seine Rede, da Kate Mathew noch immer schwieg und vor sich niedersah. »Ich will Ihnen gern Zeit lassen, mit sich zu Rate zu gehen. Ehe wir an die Weiterreise denken können, bleiben wir mindestens vierzehn Tage in Kairo. Vielleicht schenken Sie uns diese Zeit und sagen mir dann, was Sie tun wollen. Ist es Ihnen so recht?«

»Ja,« sagte Kate Mathew mit einem dankbaren Lächeln. Sie holte tief Atem und sah sich um.

»Was suchen Sie?« fragte Kyrill Petulikow.

Sie zögerte ein wenig; dann sagte sie, während ihr das Blut in die Schläfen stieg: »Ich habe Hunger ...«

»Gut, gut,« sagte der Russe, nun seinerseits[S. 202] lächelnd. »Wir wollen also wieder leben, wie es scheint ...«

Die Frau sah ihn an und nickte. Die Tränen standen ihr in den Augen.

»Sie sind sehr gut zu mir,« meinte sie ernst.

Kyrill Petulikow erwiderte nichts ...

Sechs Wochen nach der Abfahrt der »Princeß of India« von Japan kamen die Fahrgäste der »Buitenzorg« in Ägypten an. Und am Abend des nächsten Tages mietete Kyrill Petulikow für seine Mutter, deren Pflegerin und sich die stillsten und schönsten Zimmer von Shephards Hotel in Kairo.

Man hatte ihre Pässe und ihr sehr bescheidenes Gepäck — die Riesenkoffer Lisaweta Petulikowas waren mit der »Princeß of India« untergegangen — mit einer Gründlichkeit und Strenge durchsucht, die in schroffem Gegensatz zu der früheren Großzügigkeit der englischen Zollbeamten stand.

Kairo war nicht mehr die Stadt, die sie sonst gewesen. Sie hatte sehr viel von den Zügen der Weltdame verloren, sehr viel von ihrer Lebhaftigkeit, ihrem gastfreien Sinn und ihrer Sicherheit. An deren Stelle war das Gesicht des Feldherrn getreten, der Soldaten suchte — Wachsamkeit und Nervosität.

Es gab auf den Straßen sehr viele Männer, die keine Polizeiuniform trugen, aber auf alles[S. 203] aufpaßten und stets bereit schienen, ihre Berechtigung dazu nachzuweisen. Sie waren sehr höflich, aber ebenso bestimmt, wenn sie es für gut befanden, ein Haus, eine Brücke, eine Straße für etliche Zeit zu schließen. Man erfuhr niemals den Grund dieser Maßnahmen; aber sie häuften sich von Tag zu Tag.

Kyrill Petulikow ermüdete die Beamten der öffentlichen Sicherheit durch seine Freude an dem fremden und starken Leben der Stadt, dem er mit einer sanften Unentwegtheit nachforschte, ohne sich im mindesten um politische oder militärische Grundsätze zu kümmern. Er geriet mitten hinein in eine Abteilung frisch angekommener indischer Soldaten, deren schmale und leidenschaftliche Gesichter er mit einer Art künstlerischer Freude anstaunte. Er bat sehr höflich um Entschuldigung. Er wußte mit solchen Dingen nicht Bescheid. Sein Lächeln entwaffnete jede Entrüstung. Schließlich hatte man sich an ihn gewöhnt und betrachtete ihn als einen liebenswürdigen und wohlwollenden Halbnarren einer verbündeten Nation. Sollte man ihn in Gottes Namen laufen lassen ...

Lisa Petulikowa war großmütig genug, ihrer Pflegerin zuzureden, sich den forschenden und genießenden Streifereien Kyrills anzuschließen. Aber Kate Mathew machte keinen Gebrauch von dieser Erlaubnis. Die Augen taten ihr weh,[S. 204] wenn sie über die Straßen ging und die turmhohen Buchstaben der angeschlagenen Extrablätter ihr in allen Farben entgegenbrannten.

Ja, die Deutschen hatten Lüttich erobert, hatten Brüssel besetzt und Maubeuge genommen ... O, niemand dachte daran, zu leugnen, daß sie tapfere Leute seien, diese armen Soldaten eines wahnsinnigen Kaisers ... Aber dann war die Schlacht an der Marne gekommen — glorreiche Tage für Frankreich und seine erhabenen Verbündeten ... mehrere Armeekorps waren teils gänzlich aufgerieben, teils gefangen genommen ... Und die Gefangenen erzählten greuliche Dinge über das Gemetzel, das die eigenen Maschinengewehre in ihren Reihen angerichtet hatten, um Rebellion und Empörung gegen die Führer zu unterdrücken ...

Ja, die Deutschen hatten die Russen ein wenig geschlagen, nachdem diese ganz Ostpreußen besetzt und das Land einer Wüste gleich gemacht hatten ... Mein Gott, was hieß das, wenn Rußland ein paar tausend Soldaten verlor ... Rußland hatte Millionenheere genug ... Und die Russen hatten Lemberg erobert ...

In wenigen Wochen würden sie in Wien sein und bald darauf in Berlin, und die Schlacht an der Marne feierte ihren Triumph in der endgültigen Vertreibung des Feindes bis an das rechte Ufer des Rheins.

[S. 205]

Bis Weihnachten war alles erledigt ...

Nun, Kate Mathew, die Engländerin, aus Sheffield gebürtig, hätte mehr Freude über all diese Dinge an den Tag legen müssen, als sie in Wirklichkeit tat. Sie war selbst für eine Engländerin ein wenig zu gleichgültig gegen die Dinge der Weltgeschichte ...

»Miß Kate,« sagte Kyrill Petulikow eines Abends zu dem Mädchen, als sie der Kranken das Orangenblütenwasser bereitete, »ich kann es begreifen, daß man nach Japan fährt, ohne den Fujiyama zu sehen; denn wir haben es in der Tat fertiggebracht, meine Mutter und ich ... Aber daß man in Kairo ist, ohne die Pyramiden aufgesucht zu haben, das heißt, diese Methode des Reisens ein wenig zu weit treiben ...«

Kate Mathew begriff sehr gut, daß dies eine Bitte sein sollte. Sie sah die Kranke an und zögerte.

»Meine Mutter wird Sie entschuldigen,« fuhr Kyrill Petulikow mit seiner liebenswürdigen Sanftheit fort, gegen die es kein Mittel gab. »Wir reisen in wenigen Tagen ab ... Es ist ganz gewiß eine besondere Schönheit der Erde, Sonnenuntergang und Mondaufgang bei der Sphinx von Gizeh zu erleben ... Verderben Sie mir die Freude nicht — kommen Sie mit!«

»Wenn Sie es ausdrücklich wünschen, Kyrill Petulikow — und Ihre Mutter es gestattet ...«

[S. 206]

»Beides, Miß Kate — da es nötig zu sein scheint ...«

»Und wann wollen Sie aufbrechen?«

»In zehn Minuten werden die Esel vor der Treppe stehen.«

Der Eseljunge war pünktlich, und Kate Mathew war es auch. Achmed, der jugendliche und reichlich verschlagen aussehende Besitzer der beiden Reittiere, beschloß, als er Kyrill Petulikow in Begleitung einer Dame kommen sah, ihn unerhört zu betrügen, was ihm am Ende auch in Vollkommenheit gelang.

Da er den Russen französisch sprechen hörte, erwies er ihm die Ehre, seinen Esel Napoleon zu nennen, während Miß Kate auf Lord Nelson saß. Vor dem Kriege hatten sie zuweilen auch Bismarck und Radetzky geheißen, aber seit der europäischen Verwicklung, von der Achmed nichts begriff, als daß seitdem sein Geschäft zurückging, waren die Vertreter der Mittelmächte beurlaubt.

Sie ritten langsam, solange sie sich im Getriebe der Straßen befanden, das sich verstärkte, je mehr sie sich der Nilbrücke näherten. Wasserverkäufer mit ihren schwappenden Ziegenschläuchen, Obsthändler und Schuhputzer priesen Gott und sich selbst als die Wohltäter der Menschheit. Ihre singenden Rufe gingen unter im Geschrei der Zeitungsverkäufer, die das neueste Extrablatt ausriefen und eine grellrote, mit[S. 207] schwarzen Schrägstreifen geschmückte Broschüre: »Die Greueltaten der Deutschen in Belgien, nach amtlich beglaubigten Aussagen von Augenzeugen!«

Kate Mathew kaufte sich das Heft. Es war billig — einen Sixpence kostete es. Der Verleger hoffte auf Massenabsatz, den er wahrscheinlich auch fand. Kyrill Petulikow sah, daß sie das Heft kaufte, schien sich ein wenig zu wundern, sagte aber nichts. Kate Mathew hatte das Gefühl, daß sie ihn in diesem Augenblick enttäuschte, und sie freute sich darüber. Sie steckte die Broschüre in ihre Manteltasche.

Längs der Straße, durch die sie ritten, säumten zu beiden Seiten, dichtgedrängt wie Datteln auf einer Schnur, bettelnde Kinder, Weiber und Greise den Weg, die meisten blind oder mit entsetzlichen Augenkrankheiten behaftet, von der Not und der Sonne zu Gerippen gedörrt, mit Lumpen bedeckt, ihre Krankheiten und Gebrechen entblößend; sie streckten ihre leichendürren Hände aus und murmelten, zu faul, das Wort »Bakhschisch« in seinem vollen Umfang auszusprechen, unaufhörlich: »— schisch, schisch — schisch ...«

Kyrill Petulikow warf Hände voll kleiner und großer Münzen unter sie, aber es war ein nutzloses Beginnen; das Elend schluckte seine Gaben ein wie die Wüste den Tau — und blieb Elend, wie sie Wüste bleibt.

[S. 208]

Eine Schar von schwatzenden Fellachenweibern, verschleiert, dampfend vor Hitze, kehrte über den Kasr en Nil nach ihrem Dorfe zurück. Über ihren nackten Füßen klirrten die Spangen. Sie trugen die leeren Körbe auf den Köpfen und hatten den Gang von jungen trächtigen Gazellen. Vom Rücken ihrer Mütter herunter bettelten die Kinder, die noch nicht laufen konnten, mit ausgestreckten Händchen: »—schisch.«

Als Beate den Nil erblickte, hielt sie unwillkürlich ihren Esel an. Sie blickte nach Süden, woher er kam, und dachte an das Land, in dem seine Quellen lagen — das sie geliebt hatte und dessen Wasser sie getrunken.

Ein plötzlicher tiefer Jammer würgte sie am Halse. Kyrill Petulikow fragte sie etwas; sie gab keine Antwort. Blind vor Tränen, die ihr die Augen beizten, ritt sie weiter. Sie überließ es dem Russen und Achmed, mit den bettelnden Bewohnern von El Kafr fertigzuwerden, die die Straße nach Gizeh belagerten und unermüdlich neben den Fremden herliefen, um ihnen unechte Skarabäen, falsche Münzen und Mumienglieder aus jüngster Zeit der Schöpfung aufzudrängen.

Achmed schlug mit dem Stecken unter zornigen Anrufen Allahs, des Allvermögenden, in das zudringliche Gesindel hinein, wobei er nicht verfehlte, den scheinbar unerschöpflichen Sack[S. 209] seiner schwerstwiegenden Schimpfwörter über das Gezücht von Hunden und Schakalen auszuschütteln. Aber es nützte ihm nur wenig. Bis an die Türe des Menahouse-Hotels, vor dem die mauerngefaßte Straße zu den Pyramiden schon in blauem Schatten lag, blieben ihnen die Schmarotzer der Pharaonen getreu. Dann erkaufte sich Kyrill Petulikow ihren Verzicht auf weitere Annäherungsversuche durch Vermittlung des Portiers mit einem Bakhschisch, dessen Höhe ihn für ewige Zeiten zu einem Nationalheiligen von El Kafr erhob.

Kyrill Petulikow und Beate hatten auf dem Wege von Kairo nach dem Menahouse-Hotel kaum ein Wort miteinander gewechselt. Jetzt, als sie nach einer kurzen Pause der Erfrischung ihre Wanderschaft zur Cheopspyramide fortsetzten, kam er an ihre Seite und sprach sie an.

»Ich wußte nicht, daß Ihnen dieser Ausflug so sehr ungelegen kommen würde,« begann er das Gespräch. »Ich hätte Sie sonst nicht um Ihre Begleitung gebeten, Miß Kate.«

Kate Mathew sah geradeaus.

»Verstehen Sie mich nicht falsch, Kyrill Petulikow,« antwortete sie. »Ich bin wahrscheinlich sehr ungerecht ... Das wird man, wenn man unfrei ist. Ich weiß, wie gut Sie es meinen, und danke Ihnen ehrlich dafür. Aber ich wünschte mir eben so sehr, Sie möchten[S. 210] mich in Zukunft nur als die dienende Pflegerin Ihrer Mutter betrachten, wie ich mir anderseits wünschen muß, daß ich von Ihrem guten Willen weniger abhängig wäre.«

»Sie sind keine Dienerin,« sagte Kyrill Petulikow kopfschüttelnd.

»Ich bin es, denn ich bin im Dienst ...«

»Ja, ja ... Seien wir nicht kleinlich, Miß Kate ... Wenn eine Königin zum Rocken greift, so wird sie keine Spinnerin; aber sie macht das Spinnen zu einer königlichen Arbeit.«

»Halten Sie mich für eine verbannte Königin?« fragte Beate, unwillkürlich lächelnd.

»Vielleicht,« antwortete Kyrill Petulikow etwas verträumt.

»Das ist etwas sehr Trauriges,« meinte die Frau.

»Nein, Miß Kate. Sie sind, so wie Sie nun leben müssen, doch ganz gewiß ein königlicher Mensch — wie Raffael ohne Hände der große Maler ... Irgendein deutscher Dichter hat einmal so etwas gesagt.«

»Sie irren sich, Kyrill Petulikow.«

Der Russe schwieg, aber sie fühlte, daß er es nur tat, um ihr nicht noch einmal zu widersprechen.

Sie gingen allein. Achmed war bei seinen Eseln zurückgeblieben; die drei Beduinen, die ihnen bei der Ersteigung der Cheopspyramide[S. 211] helfen sollten, waren vorausgegangen und erwarteten sie am Fuße des Grabmals. Die Sonne stand nur noch zwei Hände breit über dem Horizont. Die Luft war sehr dunstig.

Als sie droben standen, ging die Sonne unter.

Und die drei braunen Männer, denen die weißen Mäntel um die langen, hageren Glieder schlugen, lösten sich die Gürteltücher von den Hüften, breiteten sie aus und warfen sich zum Beten auf ihr Gesicht.

»Es ist kein Gott außer Gott ...«

Kyrill Petulikow und Beate hatten sich am Rande der platten Kuppe niedergelassen und schwiegen.

Unter ihnen, vom Sande der Jahrtausende halb begraben, lag die Sphinx und wandte ihr fremdes, strenges Haupt nach Osten, gen Sonnenaufgang. Fern drüben schimmerten die Kanäle, vom Grün der Sykomoren überlaubt. Und ganz verloren im Duft des Sonnensinkens ruhte die Stadt — die »Siegreiche«. Ihre schlanken, unwirklich zarten Kuppeln und Minarette blickten aus den Träumen einer anderen Welt herüber zu den lastenden Gräbern ihrer Königsahnen, und mitten zwischen beiden pfiff der Schnellzug von Assuan.

Beate Hoyermann sah und hörte dies alles und bemerkte es doch nicht. Sie spürte in der[S. 212] Tasche ihres Mantels das grell gebundene Heft über die Greueltaten der Deutschen in Belgien, und sie kam sich vor, im Angesicht der ausgebreiteten Herrlichkeit zu ihren Füßen, wie ein Mensch, der Brot braucht und jemand schenkt ihm eine Perlenkette.

»Sagen Sie mir, Kyrill Petulikow,« flüsterte sie, um die Betenden nicht zu stören, »würde es schwierig sein, von Rußland aus nach Schweden zu reisen?«

Kyrill Petulikow sah aus, als müsse er seine Gedanken erst zusammenrufen, ehe er antworten konnte.

»In Rußland ist alles schwierig,« meinte er dann; »aber in den meisten Fällen ist es eine Geldfrage.«

»Das würde keine Rolle spielen ...«

»Wie die Verhältnisse jetzt im Kriege liegen, kann ich natürlich nicht sagen, da ich Rußland verlassen habe, bevor der Krieg ausgebrochen war. Aber ich glaube, mit einigem guten Willen wäre es zu erreichen, daß Sie Schweden ... Übrigens, was wollen Sie in Schweden, Miß Kate?«

»Ich suche eine Brücke, um nach Hause zu kommen,« antwortete Beate.

»O — und Sie wollen mit uns nach Rußland fahren —?«

»Es bleibt sich gleich für mich, auf welchem[S. 213] Umweg ich nach Hause reise,« antwortete Beate etwas herb. Sie merkte an seinem Schweigen, daß er diese Herbheit sehr wohl empfand. Mit einer unwillkürlichen und starken Gebärde faltete sie die Hände.

»Es ist, wie es scheint, eine unglückliche Bestimmung, Kyrill Petulikow, daß ich auf alle Ihre guten Worte eine rauhe Antwort haben muß, wenn ich nicht heucheln will ... Aber in alles, was ich denke, redet mir der Krieg hinein ... Wenn ich zu anderen Zeiten und nicht als die Kate Mathew, die Sie kennen, auf dem Gipfel der Cheopspyramide säße, dann würde ich's vielleicht den Männern da drüben nachtun, meine Augen nach Sonnenaufgang wenden und anbetend sprechen: ›Es ist kein Gott außer Gott‹ ... Aber dies ist dafür nicht die Stunde ... Und zu anderen Zeiten wäre ich vielleicht sehr stolz darauf gewesen, daß Ihnen und Ihrer Mutter so viel daran liegt, daß ich mit Ihnen reise — und daß Sie mir die Kranke anvertrauen. Aber heute ist die Reise nach Rußland für mich nichts als ein Weg, der auch ein anderer sein könnte, um mich nach Hause zu bringen — und den ich nur darum gehe, weil er vielleicht trotz allem der beste ist ...«

»Sie nehmen großen Anteil am Kriege,« meinte der Russe nach einer Pause.

»Ja, das tue ich ... Sie nicht?«

[S. 214]

»Nein,« sagte Kyrill Petulikow. »Nicht sehr. Nicht so, wie Sie es meinen.«

»Das wundert mich,« meinte Beate und schüttelte den Kopf.

Kyrill Petulikow schwieg. Er wandte den Kopf von Beate ab und schaute nach Westen, wo die Sonne nun ganz versunken war, wo die Wüste anfing und die Nacht. Sie kam sehr rasch, ohne Dämmerung; alle Farben erloschen, als stürben sie für immer. Die Unendlichkeit der erstarrten Wellen im »Meere ohne Wasser« schien gleichsam mit geschlossenen Augen unter dem blassen Himmel zu liegen, an dem die Sterne groß und weit voneinander verstreut zu funkeln begannen.

Der Wind, der während des ganzen Tages fast unfühlbar gewesen, machte sich nun auf und wehte von Nordwesten, mit einem langen, sehr sanften Hauchen, schwermütig und einsam. Das kaum hörbare Gleiten, Rieseln und Beben des Sandes wurde in der Vollkommenheit der Stille ringsum ein Klang.

Die Sphinx war ganz in Dunkelheit versunken. Über Kairo, jenseits des Nils, war der Himmel trüb golden vom Widerschein der erleuchteten Stadt.

Die Beduinen hatten sich niedergehockt und schwatzten leise miteinander. Allmählich verstummten sie auch. Ihre weißen Burnusse schimmerten in der Finsternis.

[S. 215]

»Jetzt bin ich Ihnen ganz fremd geworden,« sagte Kyrill Petulikow nach einer tiefen Stille, ohne sich umzuwenden.

»Ist es nicht ein wenig sonderbar,« meinte Beate dagegen, »wenn ein Mensch — und noch dazu ein Mann — eines der größten Ereignisse der Weltgeschichte miterlebt und sagt, er nehme keinen rechten Anteil daran?«

»Was nennen Sie miterleben?« fragte Kyrill Petulikow. »Zur selben Zeit auf der Welt sein? Ich bin nie Soldat gewesen und werde es nie sein können.«

»Und ich bin eine Frau,« sagte Beate, — »ich bin auch nie Soldat gewesen und habe meinen Platz ein gut Stück hinter der Front, wo diese auch sein möge ... Aber wer seine Heimat und sein Vaterland liebt, der erlebt den Krieg mit allen Nerven und Fasern seines Herzens, und wenn er nie einen Schuß mit eigenen Ohren zu hören bekommt.«

»Ich weiß nicht, ob ich mein Vaterland liebe,« sagte Kyrill Petulikow.

»Dann wollen wir nicht mehr über den Punkt sprechen,« antwortete Beate und richtete sich ein wenig auf.

Es war wieder still zwischen ihnen. Kyrill Petulikow stützte den Kopf in die Hand.

»Ich wünschte mir doch, Sie hörten mich an,« meinte er schließlich, und seine stille Stimme[S. 216] tastete sich vorsichtig durch die Dunkelheit, als sei sie ein lebendiges Wesen, das in der großen Einsamkeit verirrt und müde nach Hause verlangte. »Aber ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen können, Miß Kate. Wir sind einander so unendlich fern und fremd. Wenn wir reden, so müssen wir unsere Worte im Geist aus zwei verschiedenen Sprachen in eine dritte übersetzen; glauben Sie, daß es dann wirklich noch dieselben Worte sind, die wir gedacht haben? Und warum soll ich es Ihnen nicht sagen, Miß Kate ... ich habe es mir sehr gewünscht, einmal mit Ihnen zu sprechen ... wie man eben nur ein einziges Mal mit einem Menschen spricht, in besonderen Stunden, die nie wiederkommen ... Und nun habe ich nicht den Mut dazu ... Denn man kann sein Tiefstes nicht so hinschütten in den Sand, vor die Füße eines Menschen, der nicht darauf achtet — wenn man weiter mit ihm leben will. Es darf keine Scham zwischen zwei Menschen sein, die unter einem Dache wohnen ... Scham ist schlimmer als Haß; und manchmal ist sie seine Mutter ... Man muß seine Seele in zwei Hände legen können, die sich zu einer Schale zusammenfügen. Dann ist das Reden leicht ... Aber ich weiß nicht, ob Sie mir Ihre Hände so geben wollen ...«

»Das will ich, Kyrill Petulikow,« sagte Beate geduldig.

[S. 217]

»Ja, vielleicht. Aber Sie wissen nicht, ob Sie es bis zum Ende wollen. Wer sind Sie und wer bin ich? Ich kenne nicht einmal Ihren Namen. Denn Sie sind nicht die Kate Mathew, für die Sie sich ausgeben; daraus haben Sie mir gegenüber nie ein Hehl gemacht, und das danke ich Ihnen. Und ich möchte doch gern wissen, wie Sie eigentlich heißen, damit ich Sie manchmal bei Namen nennen kann, wenn ich Sie selber rufe und nicht irgendeine fremde Frau ... Und ich möchte, daß Sie mich nennen, wie mich meine Freunde nennen, Kyrill Iwanowitsch ... Ah, ich möchte, daß Sie ein wenig Russisch könnten, um mir dieses oder jenes Wort zu sagen, das nur in der Muttersprache einen Sinn hat ...«

»Um Russisch zu lernen,« meinte Beate, »werde ich wohl kaum genügend Zeit haben, Kyrill Iwanowitsch ... Aber bei Namen will ich Sie gerne nennen, wenn Sie es wollen. Vielleicht kommt auch einmal eine Stunde, in der ich Ihnen meinen Namen sagen werde ... Aber dann müßte es Frieden sein, oder wir müßten einander in meiner Heimat wiedersehen, was ich schwerlich glauben kann, solange es Krieg ist. Können Sie sich nicht an Miß Kate gewöhnen?«

»Nein,« sagte der Russe kopfschüttelnd. »Miß Kate ist irgend jemand, aber nicht Sie ... Ich hatte eine kleine Schwester, die Mascha hieß.[S. 218] Sie ist als Kind gestorben; meine Mutter liebte sie nicht sehr. Meine Mutter liebte nur Jewgenij Iwanowitsch, der ein schöner und starker Mensch war und immer lachte ... Meine kleine Schwester war kein heiteres Kind, aber wir liebten uns sehr. Und sie war ein schönes Kind, obwohl sie immer vor irgend etwas zu zittern schien und sich in sich selbst verkroch. Als sie starb und begraben werden sollte, versteckte ich mich auf dem Friedhof in ihrem Grabe. Aber sie entdeckten mich, wie sie den Sarg hinunterließen, und zogen mich herauf, und meine Mutter war ganz verstört, weil sie sich vor allen Menschen meiner schämen mußte. Ich habe meine Schwester nie vergessen. Sie ist in mir lebendig geblieben, mit mir gewachsen und nun groß geworden. Aber nun weiß ich nicht mehr, wie sie aussieht, und manchmal quält mich das ... Wenn ich Ihren Namen nicht wissen soll, so möchte ich Sie Mascha nennen. Und der Name ist sehr schwer von trauriger und inniger Verehrung ...« Kyrill Petulikow lächelte ein wenig. »Das mag daher kommen, daß ich als Knabe glaubte — und heute noch nicht ganz sicher bin, ob ich mich in meinem Glauben getäuscht habe —, daß meine kleine Schwester nun viel klüger und stärker sei als ich, weil sie das Leben und den Tod gleichermaßen überwunden hatte und bei Gott war, der sie liebte ...«

[S. 219]

Kyrill Petulikow schwieg. Beate hatte den Arm aufs Knie gestemmt und ihr Kinn in die Hand gelegt. Sie sah mit ganz verträumten Augen in den grenzenlosen Schatten des »Meeres ohne Wasser« hinab.

»Soll ich nun sprechen?« fragte der Mann behutsam.

»Ja ... ja ...«

»Ich glaube, Sie lieben Ihr Vaterland sehr, Miß Kate, nicht wahr ...«

»Ja, weiß Gott ...«

»Sie lieben es, weil Sie an seine Zukunft glauben — ist es das?«

»Ich weiß nicht, was der Grund ist — und ob man überhaupt einen braucht, um zu lieben. Aber ich glaube an seine Zukunft, und ich liebe es ...«

»Ich könnte mir denken, daß es so wäre,« fuhr der Russe fort, »daß man sein Vaterland mit dem Gefühl umschlösse, das eine Mutter, die nicht wie die meine ist, für ihr Kind haben mag. Ja, das ist wunderlich, nicht wahr ... Wir sind doch selbst die Kinder des Landes und müßten zu ihm aufschauen als zu dem Älteren — dem, das vor uns war, geheiligt durch Überlieferungen, durch die Größe des Vergangenen — das Geliebte um der Ehrfurcht willen ... Und dennoch weiß ich: wenn ich mein Vaterland lieben würde, dann würde ich es tun in einem Gefühl — jenem sehr verwandt, das wir für die[S. 220] Jüngeren haben, für die, die sind, wenn wir nicht mehr sein werden, für die Kommenden, die Zukünftigen ... in einem Gefühl des grenzenlos beglückten Beiseitestehens, unverlangend, voller Ergriffenheit, dankbar und vertrauend ...«

»Ja,« murmelte Beate.

»Und ich könnte mir auch denken, wenn das Land, das man so liebt, in den Krieg zöge, daß man mit jedem Herzschlag, mit jedem Atemzug und jedem Gedanken bei ihm wäre in Angst oder Zuversicht, weil es um ein Höher oder Tiefer die Würfel schüttelte ...«

»Ja ... ja ...«

»Ich könnte mir auch denken, daß man im Kriege sein Bestes opfert, sein Leben wegwirft und fühlt: es ist nicht zuviel ... Denn das Opfer ist gut und hat einen Sinn. Es wird Früchte tragen und gesegnet sein ... Das liebe Land, das geliebte Land wird größer durch die Opfer, die es fordert — wir fallen ihm wie Ähren dem Schnitter, damit es neue Aussaat hat — dieses Land, das junge, das zukünftige — das Land von morgen ... Ja, das wäre schön. Das könnte einem dazu verhelfen, sein Leben zu lieben, nur um es als gedoppeltes Opfer darbringen zu können ... Aber Opfer, die Rußland gebracht werden, haben keinen Sinn ...«

»Das ist ein sehr hartes Wort, Kyrill Iwanowitsch ...«

[S. 221]

»Sie werden Rußland sehen, Miß Kate — Sie werden es mit Ihren klaren germanischen Augen sehen und werden sagen: er hatte Recht, der Kyrill Iwanowitsch ... Glauben Sie mir, es ist ein sinnloser Zufall, daß die Grenze Europas quer durch Rußland läuft. Wir gehören nicht mehr zu Europa. Wir sind Asien. Wir sind ein Koloß auf tönernen Füßen. Unsere Dichter — und wir haben herrliche Dichter! — halten uns den Spiegel vors Gesicht: Seht — seht, wie ihr in Wahrheit ausseht ... Wir betrachten uns und nicken: Ja, ja, du hast Recht, Brüderchen ... aber was willst du? So sind wir nun einmal — Gott hat uns so geschaffen ... Wenn ich das Saufen lasse, Brüderchen, so wird die Welt darum nicht besser. Und der Schnaps schmeckt mir; warum soll ich ihn nicht trinken, wenn er mir schmeckt? Er ist dazu da, um getrunken zu werden. Und wenn ich ein Beamter bin, so ist es nicht schön von mir, wenn ich mich bestechen lasse — aber sage selbst, Brüderchen: soll ich das Geld einem anderen lassen, einem Amtskollegen, der es doch auch nur versäuft —? Wir sind allzumal Sünder vor Gott; aber Gott ist gut, er verzeiht uns ...

»Es gibt auch andere — Schwärmer, ja ... die machen Revolutionen. Und es gibt auch Schurken; die machen den Krieg. Die einen wollen das Heil für Rußland, die anderen für[S. 222] sich selbst. Und die Revolutionen kosten Blut und Geld, und der Krieg kostet Blut und Geld, und wenn irgend jemand dabei gewinnt, so ist es nicht Rußland. Wir haben uns in eine Sackgasse verrannt und finden nicht den Mut zur Umkehr, das ist es ... Wenn der russische Soldat sich schlägt und sich opfern läßt, wie man Stiere opfert — glauben Sie, er weiß, wofür er sich schlägt und geopfert wird? Es ist ein Bild zum Heulen, Miß Kate: Millionen von Menschen, die dumm und gutmütig in den Krieg ziehen — für nichts ... Denn wenn dieser Krieg überhaupt einem Lande Nutzen bringt, dann wird es nicht Rußland sein.«

»Warum,« fragte Kate Mathew etwas hart, »gab sich Rußland dann zum Schilde von Mördern her?«

»Ich glaube, diese Frage wird man Ihnen in London besser beantworten können als in Petersburg,« antwortete Kyrill Petulikow vorsichtig.

Kate Mathew wollte etwas sagen, aber sie verschluckte es.

»Vielleicht wird man einmal behaupten,« fuhr Kyrill Petulikow fort, »daß dieser Krieg auch von Rußlands Seite aus wirtschaftlichen Gründen geführt worden ist. Und die Worte vom eisfreien Hafen und vom Einfluß in Kleinasien werden wieder auftauchen ... Aber der schönste[S. 223] eisfreie Hafen kann dem russischen Reiche das nicht geben, was es braucht: eine andere Volksseele ...«

Beate hob den Kopf.

»Ich habe bisher geglaubt, daß die russische Volksseele sehr liebenswert sei,« meinte sie.

»Ja. Für die anderen. Wir sind so unendlich sanft, nicht wahr ... Wir sind die Ergebungsvollen und die Ungefährlichen. Wir haben das Lächeln, das Christus hatte, als er seinen Feinden verzieh — wissend und wehrlos. Darum wurde er auch ans Kreuz geschlagen. Aber mit all unserer sanften Ergebung in den Willen Gottes, der in Rußland sehr schlechte Statthalter besitzt, sind wir so weit gekommen, daß wir keine Rettung für den Staat mehr haben als Krieg oder Revolution. Und beide sind zwecklos. Man rettet einen blutkranken Menschen nicht dadurch, daß man ihn wirtschaftlich unabhängig macht; man erleichtert ihm höchstens sein Siechtum. Aber darauf kommt es nicht an ... Man müßte ihm ein Bethesda weisen, in dem er sich gesund baden könnte, und das liegt nicht am Persischen Golf und nicht am Bosporus. Das müßte im Herzen Rußlands selber liegen ...«

»Was nennen Sie das Herz Rußlands?« fragte die Frau.

»Das Herz jedes Volkes — seine Mütter,« antwortete der Russe.

[S. 224]

Kate Mathew machte eine Bewegung. »Die Mütter,« wiederholte sie. Und unwillkürlich kam das Wort sehr versonnen aus ihrem Munde.

»Ja — die Mütter ...«

Es war wiederum eine Weile zwischen den beiden Menschen ganz still. Und als Kyrill Petulikow weitersprach, geschah es so leise und so stockend, daß die Frau Mühe hatte, ihn zu verstehen.

»Vielleicht ist es nur ein neues Narrentum — wer weiß es? — Vielleicht sucht man immer in dem das Alleinseligmachende, was man selbst am meisten entbehrt ... Vielleicht ist es eine Torheit mehr, die Genesung des russischen Volkes in einem Traum von sehr mütterlichen Frauen zu suchen ... Ich weiß es nicht ... Und wenn ich es auch gewiß wüßte — das wäre noch kein Schritt weiter zur Erfüllung dieses Traumes. Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß Unglück zur Stärkung eines Menschen notwendig und gut sei ... Die Glücklichen sind die Starken ... Und wir sind nicht glücklich. Wir betrinken uns nicht um des schönen Rausches willen und feiern unsere Feste nicht, weil wir das Leben lieben. Wir betrinken uns, weil wir dann vergessen, und sind ekstatisch heiter in der Erkenntnis, daß wir nichts anderes haben als den Taumel. Und dann kommen die grauen Stunden der Ernüchterung, aus denen es keine Errettung gibt[S. 225] als die neue Trunkenheit des Vergessens ... Und wir müssen sehr viel vergessen und haben nichts, daran wir uns gern erinnern — nicht einmal die Stunden, da wir Kinder waren. Wir haben auch keine Hoffnungen — wir haben nur das Vergessen.«

»Sie sprechen von sich selbst,« meinte Beate halblaut. Es war eine Mahnung.

»Ich spreche von mir wie von hundert und tausend anderen. Wir sind arm und müde, weil unsere Kindheit arm und müde ist und sehr einsam. Wir wissen nicht, was wir lieben sollen, und lieben uns selbst am wenigsten. Es ist etwas Gespenstisches um unsere Heiterkeit wie um unsere Trauer. Wir wissen, daß wir krank sind, aber wir glauben an keinen Arzt. Die Schönheit der Erde stimmt uns traurig. Denn es hat uns niemand gelehrt, als wir Kinder waren, daß sie für uns schön ist und uns gehört. Das Leben schenkt uns nichts, wir müssen uns alles erobern, ohne Eroberer zu sein. Denn niemand sagt uns, wenn wir Kinder sind, welchen Weg wir gehen müssen, um glücklich zu werden; vielleicht wissen unsere Mütter es selber nicht; auch das mag sein. Diese Frauen, die immer ein wenig träge sind, die das Leben bitter gemacht hat, weil sie es nicht verstanden, das Leben auszulachen — die legen ihre breiten Schatten auf unsere kindischen Wege und nehmen uns den Glauben daran,[S. 226] daß unsere Zukunft einmal schöner sein könnte als ihre Gegenwart. Sie lieben uns vielleicht als Menschen, wenn wir erwachsen sind. Aber sie lieben uns nicht als Kinder, die beständig fragen, wünschen und hoffen. Und das Erbe dieser Frauen ist es, das ein Volk von Männern mit sich schleppt. Die Freudlosigkeit, die wir ererbt haben, die Sanftheit des Entsagens und der Unglaube an morgen — das ist's, woran wir elend geworden sind. Aber nun liegt es uns im Blute ...«

»Vielleicht«, sagte Beate nach einer Stille, »wird dieser Krieg das alles wachrütteln, was an Liebe, an Kraft und Hoffnung im russischen Volke schläft ...«

»Wenn es eine Liebe ist, so ist es eine verzweifelnde,« antwortete Kyrill Petulikow. »Denn wir werden am Ende dieses Krieges an nichts reicher sein als an Gräbern.«

»So mutlos sind Sie ...«

»Ja ...«

Beate Hoyermann wandte den Kopf und sah dem Manne ins Gesicht.

»Sie sind nicht glücklich, Kyrill Iwanowitsch,« sagte sie gelind.

»Wer ist glücklich?« fragte der Russe mit einem Lächeln.

»Ich,« sagte die Frau. Dann verstummte sie. Sie legte ihren Kopf in beide Hände.

[S. 227]

»Nun wissen Sie,« fuhr Kyrill Petulikow fort, »warum ich an dem großen Kriege weniger Anteil nehme, als Sie von einem Manne erwarteten — und vielleicht auch zu erwarten berechtigt waren. Man kann ein großes Unglück lieben, wenn es der Weg zu großen Zielen ist. Aber das Sinnlose kann man nicht lieben ... Ich bin ein Bauer, wenn Sie so wollen, und mein Vaterland ist meine Erde, die nimmt und gibt. Aber der Bauer treibt keine Politik und kümmert sich nicht um die Händel der Welt, solange man ihm die Äcker nicht verwüstet. Und auch dann denkt er: Sie mögen die Städte und die Dörfer niederbrennen — die Erde können sie nicht verbrennen. Und das ewige Gesetz von Saat und Ernte bleibt bestehen, wenn alle anderen Gesetze aufgehoben werden. Was will ich mehr?«

»Es würde Sie also nicht bekümmern, wenn Rußland schwer geschlagen würde?« fragte Beate Hoyermann.

»Nein, Miß Kate. Denn wenn die Männer, die Rußland in den Krieg geschickt haben, Recht behielten, dann wäre das ein viel größeres Unglück für das Land als eine Niederlage.«

»Und nach der Niederlage — was dann?«

»Was dann? — Nichts ... Sommer und Winter, Frost und Hitze, Samen und Ernte — Tag und Nacht ...«

[S. 228]

»Und Sie stehen abseits und bauen den Acker. Auch das ist schön ...«

»Sie irren sich, Miß Kate. Sie denken jetzt, auch Bauerndienst sei Vaterlandsdienst. Aber daran habe ich nicht gedacht. Und auch bei dem, was ich tun will, wenn ich in Rußland sein werde, denke ich nicht an Vaterlandsdienst ...«

»Was wollen Sie tun, Kyrill Iwanowitsch?«

Der Russe gab keine Antwort. Sie hörte an seinem Atmen, daß er reden wollte, aber er schien die Worte nicht zu finden, die er suchte. Beate Hoyermann ließ ihm Zeit. Und dann fragte sie noch einmal und mit aller Zartheit einer guten Schwester: »Mascha fragt, was Sie tun wollen, Kyrill Iwanowitsch ... Mögen Sie es ihr nicht sagen?«.

Er schwieg aber.

Beate fragte nicht weiter. Den Kopf in die Hand gelehnt, sah sie in die Dunkelheit hinein, die immer blasser und blauer geworden war. Im Nordosten über der Stadt war der Mond heraufgekommen. Er badete die Stirn der Sphinx mit einem kühlen, weißen Licht. In El Kafr heulten die Hunde; sie hatten Furcht. Die Nacht am Saume der Wüste hatte keinen Frieden; sie war ganz unerlöst und schön wie eine schöne Tote.

»Warum fragten Sie mich, Miß Kate?« sagte Kyrill Petulikow tonlos.

[S. 229]

»Sie wollten mich wie Ihre Schwester nennen — warum tun Sie's nicht?«

»Ich weiß nicht, ob Sie mir antworten würden, wie Mascha getan hätte ...«

»Versuchen Sie's nur, Kyrill Iwanowitsch,« sagte die Frau, in der stillen Sicherheit ihres Herzens gütig und fest.

Kyrill Petulikow holte tief Atem.

»Sie haben meinen Bruder nicht gekannt,« begann er. »Er war der Abgott meiner Mutter, weil er ihr Ritter war. Während er lebte, liebte sie ihn; als er gestorben war — und als ein Held gestorben —, betete sie ihn an ... Miß Kate, Kain war kein Russe ... Was wissen wir, wieviel er litt, bevor er Abel erschlug?«

»Haßten Sie Ihren Bruder so sehr?« fragte Beate mit einer schweren Bewegung.

»Nein. Ich haßte ihn nicht. Aber ich wünschte, ihm ähnlich zu sein. Jewgenij Iwanowitsch ähnlich sein, das hieß: ganz sorglos, ganz leichtsinnig, ganz ohne Schwermut sein, niemand in Wahrheit lieben und die Liebe aller besitzen. Ich wünschte mir nur eine Liebe: die meiner Mutter. Diese Sehnsucht meiner Kindheit und meiner Knabenjahre ist mir sehr treu geblieben ... bis auf den heutigen Tag ... Und vielleicht habe ich das Mittel gefunden, meine Mutter zu zwingen, daß sie mich wenigstens nach meinem Tode liebt ...«

[S. 230]

»Wollen Sie sterben, Kyrill Iwanowitsch?«

»Nein. Nicht so ... so ohne Sinn ...« Kyrill Petulikow beugte den Kopf in den Nacken und sah in den lichtgetränkten Himmel hinauf. »Es ist vielleicht eine närrische Torheit ... nun, was mehr? In meinem Leben ist nichts, das weise wäre. Und ich kenne nichts Schöneres, als zu fliegen — die Erde unter sich wegsinken zu sehen — losgelöst zu sein von allen Gesetzen, denen wir hier unten dienstbar sind ... Ich habe einen Freund, der auch Flieger ist; er war nicht sehr glücklich vordem ... Nun hat er den Rausch gefunden, dem kein Ekel folgt ... dieses Gaukeln mit dem Tode ... Mein Bruder ging in den Krieg und fand den Tod im Meere ... Da sie mich als Soldat nicht brauchen können und meine Mutter mir das nicht verzeiht ...«

»O Kyrill Iwanowitsch —!«

»Was wollen Sie, Mascha? Es ist so ... Sie liebt mich nicht, weil sie nicht stolz auf mich sein kann. Und es mag närrisch sein, das gebe ich freilich zu — aber ich sehne mich nach der armen Rechtfertigung meines Lebens, daß ich den Tod nicht fürchtete ... und daß meine Mutter es erfahren wird ... ja, danach sehne ich mich sehr ...«

»Sie lieben Ihre Mutter, Kyrill Iwanowitsch ...«

»Ja,« sagte der Mann. »Ja, ich liebe meine[S. 231] Mutter ... Oder ich weiß nicht einmal, ob ich sie liebe ... Ich möchte nur, daß sie mich liebt und daß ich ein Recht dazu hätte, es von ihr zu fordern — da sie mir das Recht nicht schenkt ...«

»So einsam sind Sie?« murmelte die Frau.

»Wir alle sind einsam, der eine mehr, der andere weniger, Mascha ... Und dieses große Einsamsein macht uns zu Schwächlingen ... Jetzt spreche ich, weil es Nacht ist und weil wir am Rande der Wüste sind und gleichsam unkörperlich zwischen zwei Ewigkeiten. Morgen, wenn es Tag sein wird und wir in der Stadt einander wiedersehen werden, bereue ich es wahrscheinlich, daß ich ein Schwächling war und Sie beim Namen meiner toten Schwester nannte, um Ihnen meine tiefste Seele in die Hände zu schütten ... Kennen Sie die Sage von den Memnonsäulen? ... Ich glaube, wir alle haben eine Stunde, in der wir zu klingen anfangen ... Und dann verstummen wir wieder und sind Stein ... Man sagt, die Memnonsäulen klingen bei Sonnenaufgang ... Sie sind in mein Leben hineingetreten, Mascha, wie ein starkes, klares Licht und haben alles in mir zum Klingen gebracht, was steinern war ... Sie brauchen nicht zu erschrecken ... Was ich sage, ist ganz ehrfürchtig und ohne Wunsch. Ich habe Sie an jenem Tage — in jener Nacht, da die ›Princeß of India‹ unterging, gesehen, wie Sie sich mit[S. 232] beiden Händen ins Haar griffen, weil da auf dem untergehenden Schiffe ein Mann war, dem das Blut übers Gesicht lief, und ich habe ihre irren Augen gesehen und die Gebärde, mit der Sie sich ins Meer warfen ... Und ich habe Sie gesehen, wie Sie die Augen schlossen, als ich Ihnen sagte, der Mann sei gerettet worden ... Sie haben Ihr Geheimnis, und ich rühre nicht daran. Und ich sage Ihnen, was ich davon erriet, nur, um Sie meiner ganz sicher zu machen ...«

Beate Hoyermann faltete die Hände und hob sie vor ihre Stirn; und dann ließ sie sie auf die Knie fallen und reckte sich in den Schultern.

»Ich will kein Geheimnis vor Ihnen haben, Kyrill Iwanowitsch,« sagte sie fest, und die Worte fielen klingend in die Stille. »Ich habe Ihr Vertrauen genommen wie ein Geschenk und gebe Ihnen das meine ... Der Verwundete, den Sie auf dem Schiffe gesehen haben, war mein Mann.«

Kyrill Petulikow sagte nichts. Er wartete.

»Er hat als Heizer die Reise auf der ›Princeß of India‹ angetreten, wie ich als Stewardeß, um nach Hause zu gelangen ...«

»Nach England?«

»Nach Deutschland ...«

Stille ...

Kyrill Petulikow hob die Hand und fuhr sich über die Stirn.

[S. 233]

»Sie müssen Ihr Vaterland sehr lieben,« sagte er still.

»Das tun wir. Und nun habe ich's in Ihre Hände gelegt, Kyrill Iwanowitsch, ob ich den Weg nach Hause finden werde oder nicht ...«

Kyrill Petulikow lächelte schwermütig.

»Sie irren sich, Mascha ... Selbst wenn ich wollte — ich könnte nichts gegen alle Ihre Schritte tun. Ich glaube, Sie sind einer von jenen Menschen, die in ihrer Liebe gehen wie in einem Mantel aus Stahl und Gold; nichts kann sie verletzen noch aufhalten. Wie die Heilige der Sage gehen sie mit schlafwandlerischer Sicherheit über Drachen und Teufel, die sich unter ihre Füße werfen ... Das Leben ist sehr seltsam, Mascha. Immer gibt es uns so viel, daß wir von dem, was mehr wäre, träumen müssen ... Auch das ist sehr schön ... Ich will Ihnen helfen ...«

»Geben Sie mir die Hand, Kyrill Iwanowitsch,« sagte Beate.

Der Russe nahm die Hand, die sie ihm gab, und hob sie an seine Lippen. Aber er küßte sie nicht. Er bog den Kopf in den Nacken und gab ihre Hand wieder frei.

»Wollen wir gehen?« fragte er, atemholend.

Beate stand auf. Sie weckten ihre schlafenden Helfer und begannen den Abstieg, dem der Mond leuchtete.

[S. 234]

»Ich möchte noch einmal der Sphinx ins Gesicht sehen,« sagte Beate.

Schweigend wanderten sie durch den feinen losen Sand.

Das volle Licht des Mondes lag auf dem kantigen Schädel des Rätsels der Jahrtausende. Und um den Mund der steinernen Riesin lag der grauenhafte Zug des Alleswissens und der Erkenntnis in das Nichts alles Irdischen. Und ihre toten Augen, die dem Sonnenaufgang entgegensahen, waren voll grenzenloser Gleichgültigkeit gegen das Lebende.

Schweigend, wie sie gekommen waren, gingen die Menschen.

Auf dem Heimwege nach Kairo, den Achmed der Eseljunge nur unter standhaften Anrufungen Allahs auf sich nahm, blieb Kyrill Petulikow, plötzlich anhaltend, stehen.

»Was war das?« fragte er und neigte den Kopf auf die Seite.

Beate hatte nichts gehört. Achmed, der an die Dämonen der Wüste dachte, fing an, die heilige Fatah zu beten.

Über sein Flüstern hinweg ging ein heller, bretterner Ton. Es klang, wie wenn dünne, harte Hölzer sehr rasch gegeneinandergeschlagen werden.

»Gewehrfeuer,« flüsterte Beate. Sie kannte den Laut aus ihren ostafrikanischen Tagen.

[S. 235]

Kyrill Petulikow trieb seinen Esel an. Achmed trabte ihm dicht zur Seite. Er fürchtete sich anscheinend bedingungslos vor Menschen und Geistern.

Plötzlich stieg aus dem trübgoldenen Schimmer der noch fernen Stadt eine feine, sehr helle Flamme nadelspitz in die Luft. Und Sekunden später folgte der Knall, den die Entfernung schwächte.

»Das sieht nicht sehr nach nächtlicher Übung aus,« murmelte der Russe.

Als sie näher kamen, schwirrte die Luft von einem grellen, doch schon erstickenden Geschrei.

An der Nilbrücke standen zwei Posten, das Gewehr schußfertig in der Hand. Sie verweigerten die Freigabe des Weges in die Stadt.

»Was ist denn los?« fragte Kyrill Petulikow durch Beates Vermittlung, die sich als gute Britin auswies. Die Posten zuckten die Achseln. Achmed schimpfte und machte sich mehrerer Beamtenbeleidigungen schuldig. Nach einer Stunde ergebnislosen Hinundherredens kam die Ablösung der Wache aus der Stadt, mit ihr ein Offizier, an den sich Kate Mathew wandte, um gegen den Eingriff in die von Gott und aller Welt anerkannte persönliche Freiheit jedes britischen Staatsangehörigen Verwahrung einzulegen.

Der Offizier hörte sie ruhig bis zu Ende[S. 236] und sagte dann, ziemlich einsilbig: »Es ist Krieg ...«

»In Ägypten —?!«

»Es scheint so ... Sie können weiterreiten ... Gute Nacht ...«

»Was heißt das?« fragte Kyrill Petulikow unterdrückten Tones, als sie die Brücke hinter sich hatten.

Beate zuckte die Achseln. Sie atmete fieberhaft, und ihre Augen funkelten vor Freude.

»Wartet —!« sagte sie vor sich hin, und nun sprach sie deutsch. »Wartet nur!«

Am anderen Morgen erfuhren sie, daß in dieser Nacht zwanzig Rädelsführer eines meuternden indischen Regiments erschossen worden seien. Ein Pulvermagazin war in die Luft geflogen ...

Die Stadt war ruhig ...


[S. 237]

7

»Lieber Freund!

Ich schreibe Ihnen englisch, weil mir das sicherer erscheint. Ob der Brief überhaupt in Ihre Hände kommen wird, das weiß Gott. Vielleicht sind Sie gar nicht mehr in Japan. Vielleicht haben Sie meine Zeilen, die ich aus Kairo an Sie richtete und die Ihnen soviel erzählen sollten, auch nicht mehr erhalten. Manchmal, wenn ich mir überdenke, was ich erlebt habe, seit Sie mir im ›Garten des Freundes‹ in Ihr kleines Boot halfen, glaube ich meiner eigenen Erinnerung nicht und bin wie im Traum. Aber das Leben träumt nicht, das ist sehr wirklich und läßt es uns fühlen.

Seit vierzehn Tagen sind wir nach einer endlosen und höchst ungemütlichen Reise auf dem Gute Lisa Petulikowas. Sie würden wahrscheinlich sehr erstaunt sein, wenn Sie dieses Gut kennenlernten. Es ist größer als manches kleine deutsche Fürstentum, und das Herrenhaus sieht aus wie eine große Scheune. Ein langgestreckter, einstöckiger Kasten, grau beworfen,[S. 238] mit winzigen Fenstern. Das Land ist so flach wie ein Tisch, aber nicht reizlos, namentlich nicht jetzt, da der Schnee kniehoch liegt.

Ja, mein Freund, als wir uns trennten, war es Sommer auch hier. Nun ist es November geworden und Winter. Seit drei Monaten weiß ich nicht mehr, wo meine Gedanken den Mann suchen sollen, den sie lieben. Sie haben mir redlich geholfen, den Weg zu finden, der mir versperrt zu werden drohte, um wenigstens nach Europa zu gelangen. Nun bin ich in Europa. Bin ich meinem Ziele näher? Ich weiß es nicht!

Die Überwachung aller Grenzen — auch der neutralen — ist so streng, daß es ein Ding der Unmöglichkeit zu sein scheint, ohne genügenden Ausweis an sein Ziel zu kommen ... Sie wissen, ich kann mich nicht deutlicher ausdrücken. Ich fürchte schon bei jedem Wort, zuviel gesagt zu haben. Von Rumänien oder Griechenland aus wäre ich als Kate Mathew wohl nach Österreichs Grenze gekommen — aber als Kate Mathew nicht hinüber. Und da wohl Kyrill Petulikow weiß, wer ich bin, aber nicht seine Mutter, habe ich es vorgezogen, in dieser Richtung keine weiteren Schritte zu unternehmen, sondern auf bessere Gelegenheit zu warten ...

Meine dringlichste Bitte an Sie, lieber Freund, ist nun die: Schicken Sie einen genauen Bericht der Vorkommnisse in Japan in ihren ganzen[S. 239] Einzelheiten an eine schwedische Persönlichkeit, zu der Sie Vertrauen haben und an die ich mich wenden kann, wenn ich von Rußland aus über Schweden nach Hause zu kommen versuche. Und teilen Sie mir mit, ob Sie das getan haben und was Sie mir weiterhin raten. Selbstverständlich werde ich auch alle anderen Wege einzuschlagen versuchen, aber ich möchte die Beruhigung haben, daß ich mich im Notfall auf Sie berufen kann und wenigstens einen ungefähren Zeitpunkt vor Augen habe, an dem ich auf meine Heimkehr rechnen kann.

Wie ich mich danach sehne, kann ich Ihnen nicht schildern. Sie wissen es! Denn Sie wissen, wie ich mich nach Hause gesehnt habe. Meine Gefangenschaft hier ist eine sehr gelinde, denn Kate Mathew genießt das Vertrauen, das die Behörden für das Haus Petulikow haben, mit. Aber meine Nerven ertragen es doch nicht mehr allzulange, nichts zu wissen und alles zu befürchten ... Der Krieg geht seinen fürchterlichen Weg, und ich erhalte keine Nachricht ...

Übrigens geht es mir nicht schlimmer als den meisten russischen Familien selbst. Die mörderischsten Schlachten werden geschlagen, aber weder das Ergebnis noch die Verluste werden bekannt. Die russischen Mütter und Frauen brauchen ihr ergebenes Lächeln jetzt sehr notwendig und auch ihre Dumpfheit gegen das[S. 240] Schicksal. Ich, weiß Gott, besitze weder das eine noch das andere ...

Was soll ich Ihnen noch schreiben? Meine Tage sind einförmig in verschiedenste Pflichten eingeteilt. Die oberste heißt Lisa Petulikowa. Sie bedarf meiner, und das macht mich ein wenig ruhig in aller Unruhe, daß ich doch einem Menschen etwas nützen kann, wenngleich ich tausendmal lieber in einer Seuchenbaracke daheim Pflegerin wäre. Die Menschen hier sind gut gegen mich. Und ich bin ungerecht, ich weiß es, denn es geht mir wohl. Aber ich wäre doch lieber zu Hause und teilte die Not meines lieben Landes, als daß ich hier in der braven Sicherheit der Fremde sitze.

Man redet in den Zeitungen viel von dem baldigen Ende Deutschlands. Nun, dann wäre der Krieg aus ... Was soll ich darüber sagen? Ich kann es mir nicht denken, daß das wahr sein soll. Wir hören hier nur die Kriegsberichte der Entente ...

Und Kiautschou ...

Lieber Freund, Sie waren ein sehr, sehr guter Prophet ...

Was soll ich Ihnen noch erzählen? Es ist sehr schwer, Lebensberichte um den halben Erdball herumzuschicken. Alles wird schwerfällig und unklar. Auch muß ich immer denken, daß der Brief doch nicht in Ihre Hände kommen wird, und das macht mich ganz unfrei.

[S. 241]

Ich lerne Russisch. Kyrill Petulikow gibt sich viel Mühe mit mir. Wenn nicht diese verwirrende Fülle fremder Schriftzeichen wäre, käme ich wohl noch rascher voran. Aber ich fürchte — oder ich hoffe, — mein Aufenthalt in Rußland wird nicht ausreichen, um mir die Sprache ganz zu eigen zu machen.

Kyrill Petulikow bastelt halbe Tage und Nächte lang an seiner Flugmaschine. Er behauptet, eine Erfindung gemacht zu haben. Ich verstehe nichts vom Technischen, aber er hat einen ansteckenden Eifer. Ich fange wirklich an, mich auch dafür zu interessieren. Im Grunde genommen ist es ganz einfach. Die Beherrschung einiger Handgriffe — nicht einmal so sehr viel körperliche Kräfte gehören dazu. Nur die Nerven muß man in der Hand behalten — und namentlich dann, wenn es das Menschlichste wäre, die Augen zuzumachen und das Ende dem Zufall zu überlassen. Manchmal denke ich ...«

Beate Hoyermann unterbrach sich im Schreiben, richtete sich auf und sah gerade vor sich hin. Dann legte sie die Feder aus der Hand und stützte den Kopf in die Hände.

Es war drei Uhr nachmittags und dämmerte schon. Aber das Schneeleuchten gab noch ein feines, unirdisches Licht.

Das Zimmer, in dem Beate Hoyermann wohnte, lag im Giebel des Gutshauses und schaute[S. 242] mit seinen drei niedrigen Fenstern auf das flache Feld hinaus. Der Himmel über dem Felde war so ungetönt wie Wasser. Seit Wochen hing er voller Schnee. Und Schnee lag, grenzenlos weit und dicht, über dem demütigen Lande.

Beate liebte das Bild, das sich ihr von ihrem Platze aus bot, mit einer Art von schmerzlicher Liebe. Es störte sie nicht; es war traurig und still und paßte zu sehnsüchtigen Tagen und schlaflosen Nächten gut.

Nach Westen zu schloß ein Wald den Augenkreis — einer von jenen unendlichen Wäldern, die tief und unerforschlich sind wie die Wüste und wie das Meer. Er schien ganz unlebendig; die Bäume standen bewegungslos. Wenn eine Axt sie getroffen hätte, so wäre ein Klang durch sie hingefahren wie von zerspringendem Kristall. Zuweilen strichen die Krähen von ihren Horsten aufs Feld hinaus oder zum Gutshof hinüber. Sie starben zu Tausenden in den strengen Stunden der Frühdämmerung. Wenn der Wind ging, blies er ihre Federn in Wolken über das fleckenlose Weiß rundum.

Tausend Schritte vom Gut entfernt lagen die geduckten Holzhäuser der Bauern, bis an die Fenster im Schnee versunken. Manchmal — ganz selten — kam ein Wagen, ein Schlitten aus der Stadt; die zwei Pferde, eins vor das andere gespannt, dampften, daß sie kaum zu[S. 243] erkennen waren. Und ihre kleinen Glocken klangen — es war ein fast rührender Klang in dieser furchtbaren und ihrer selbst ganz unbewußten Einsamkeit, in die er sich verirrt hatte und sich selbst zum Trost geschaffen schien.

Beate beschloß, ihren Brief selbst in die Stadt zu bringen und auf die Post zu tragen. Sie schloß ihn mit drei Worten, unterschrieb und steckte ihn in den Umschlag, den sie offen ließ, schrieb die Adresse in russischen und englischen Worten und fügte den Absender dazu. Bei all dem dachte sie: Es ist sinnlos, daß ich es tue; Tystendal wird den Brief nie bekommen. Aber das hoffende »Vielleicht doch!« behielt die Oberhand.

Sie verließ das Zimmer und ging die Treppe hinunter, die, mit weißem Sande bestreut, vor Sauberkeit leuchtete.

Dmitri, der Diener Kyrill Petulikows, tauchte aus dem Winkel neben der Türe seines Herrn auf, wie ein alter lichtscheuer Kauz ins Helle blinzelnd.

»Dmitri, wo ist dein Herr?«

Der Alte deutete mit dem Kopf nach dem Hofe hinaus, in der Richtung der Werkstatt, die Kyrill Iwanowitsch sich eingerichtet hatte. Dmitri sprach nicht gern. Seine Stimme war wie eingerostet und schwer aus ihrem Verlies heraufzulocken. Aber er hatte Ohren wie eine Katze und[S. 244] Augen wie ein Sperber und hätte sich für seinen jungen Herrn lebendigen Leibes zerreißen lassen. Und er liebte die junge fremde Frau, die mit seinem Herrn gekommen war, weil er es wohl gemerkt hatte, daß Kyrill Iwanowitsch vom Morgen bis zum Abend nach den Händen dieser Frau blickte, daß sie seine Herrin geworden war und daß seine Seele sich vor ihr bückte bis auf die Erde. Da hatte sich auch Dmitri stillschweigend in ihren Dienst gestellt.

Als er ihr den Pelz umgegeben hatte und sie die Mütze über das Haar zog — denn der Weg bis zum Werkstattschuppen genügte, um sich die Ohren zu erfrieren, wenn man aus dem Süden kam —, blieb der Alte vor ihr stehen, und seine wunderlichen Kropfbewegungen deuteten darauf, daß Dmitri sprechen wollte, was immer, seiner Seltenheit entsprechend, einiger Vorbereitungen bedurfte.

Beate, die mit ihren Gedanken sehr fern war, bemerkte es nicht. Sie wandte sich zum Gehen. Aber der Alte trat ihr in den Weg und legte die Hand auf die Klinke, die sie erfassen wollte.

Beate blieb stehen und sah ihn an.

»Nun, Dmitri!« sagte sie zuredend und lächelte, denn sie wußte, daß ihr sehr junges Russisch auf eine harte Probe gestellt werden würde.

[S. 245]

Dmitri bückte sich, um den Saum ihres Kleides an die Lippen zu ziehen.

»Ich bitte dich um Vergebung, Mütterchen!« sagte er, mit einer gewissen Feierlichkeit. »Aber es ist nicht gut ...«

»Was ist nicht gut, Dmitri —?«

»Es ist nicht gut, was unser Herr tut, Mütterchen ... Ich sage es dir, Mütterchen, und ich weiß, was ich sage ...«

»Was tut denn unser Herr, das nicht gut wäre?« fragte Beate geduldig. Sie sah ein, daß sie so leichten Kaufes nicht davonkommen würde, und lehnte sich gegen die Wand.

»Was er tut, Mütterchen, das heißt Gott versuchen — in Wahrheit, Mütterchen, das heißt Gott versuchen,« sagte der Alte und rüttelte die aufgehobene Hand. »Sascha Alexandrowitsch, der auch ein Flieger war und unseren Herrn dazu verleitet hat, daß er es ihm nachtut, war ein kühner junger Mann und fürchtete den Tod nicht. Aber er liebte ihn auch nicht — er liebte das Leben mehr ... Aber unser Herr liebt das Leben nicht, und das ist Sünde ...«

»Warum glaubst du, daß er das Leben nicht liebt?« fragte Beate mit einer unwillkürlichen Schwermut, der sie sich nicht entziehen konnte.

»Du gehst ihm nicht nach, Mütterchen — du siehst ihn nicht ... Ich gehe ihm nach, und ich[S. 246] sehe ihn. Ich habe meine scharfen Augen noch, obgleich ich alt geworden bin, und ich gebrauche sie, meine scharfen Augen ... Wenn unser Herr zum Flug aufsteigt — die Pest über die Maschinen, Mütterchen: sie denken nicht, sie sind tot —, gehe ich aufs Feld hinaus und warte, bis der Herr wiederkommt. Wenn er wiederkommt, kreist er über dem großen Felde wie ein Adler. Ich stehe unter ihm im Schnee und recke meine alten Arme hoch und schreie, denn ich glaube in jedem Augenblick: nun stürzt er, dein Herr ... Aber er hört mich nicht — wie sollte er? Er ist viel zu hoch über mir, um mich zu hören. Und doch kann ich das Schreien nicht lassen; es preßt mir das Herz aus dem Halse, Mütterchen, dem Herrn zuzusehen ... Er fliegt nicht, wie die Vögel tun ... Fliegen ist ein schönes Ding, und Sascha Alexandrowitsch lachte immer, wenn er davon erzählte ... Aber der Herr fliegt nicht, — er stürzt und steigt, stürzt und steigt — wie die Lerchen tun ... Aber eines Tages wird er stürzen und nicht mehr steigen ... Er wird fallen und ein Loch in die Erde hineinschlagen, tief genug für ein Grab ... Er wird das tun, weil er Gott versucht und weil er das Leben nicht liebt, Mütterchen — ich, Dmitri, sage es dir ...«

»Warum sagst du es mir, Dmitri,« meinte Beate und sah über den Alten fort ins Leere,[S. 247] »und sagst es nicht dem Herrn selbst? Er würde auf dich hören.«

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Er würde auf mich nicht hören und nicht auf Lisa Petulikowa und auf Sascha Alexandrowitsch auch nicht, Mütterchen ... Er würde sagen, daß wir töricht seien, weiter nichts. Und er würde mir vielleicht verbieten, ihm nachzugehen und ihm zuzusehen, wenn er über dem großen Felde fliegt ... Aber auf dich würde er hören, Mütterchen; darum sage ich es dir. Und du mußt mit ihm reden, daß er davon abläßt, Gott zu versuchen. Denn was er tut, ist eine schwere Sünde, für die er verdammt werden wird, wenn er nicht davon läßt. Niemand darf sein Leben so wegwerfen, wie unser Herr es tut ... Sprich zu ihm, Mütterchen, ich bitte dich darum ...«

»Ich will es versuchen, Dmitri,« sagte Beate und wandte sich zum Gehen. »Aber du mußt es nicht auf meine Schultern schieben, wenn dein Herr auch auf mich nicht hört ...«

Dmitri antwortete nicht. Er bückte sich, um Beates Kleid zum zweiten Male an die Lippen zu ziehen. Mit einer tiefen Verbeugung öffnete er das schwere Haustor vor ihr und ließ sie hinaus.

Wie ein bissiger Hund sprang der Wind in den Flur hinein.

Beate hob den Muff vors Gesicht und stemmte[S. 248] die Stirn dem Druck der eisigen Luft entgegen. Es schneite nicht, aber der Wind blies die scharfgeschliffenen Kristalle von den Dächern und ließ sie tanzen; sie zerschnitten die Haut wie unsichtbare winzige Messer. Auf dem Wege vom Haus zum Werkstattschuppen jenseits des Hofes hatte sich der Muff Beates vom Hauch ihres Mundes mit Eis bedeckt.

Die Werkstatt Kyrill Petulikows war ein sehr großer, niedriger Raum, an den sich der Schuppen für die Flugmaschine anschloß. Kyrill hatte sich die Werkstatt selbst gebaut, indem er die alte Scheune ausräumte und in alle vier Ecken einen mächtigen Herd einsetzte. Auf diesen Riesenherden brannten die Feuer unausgesetzt. Es wäre sonst vor Kälte nicht zu ertragen gewesen. Im Schein der Feuer arbeitete Kyrill Petulikow am Schraubstock. Mitten im Raum stand der rohe Tannentisch, mit Werkzeugen aller Art bedeckt. Kyrill Petulikow hatte keinen Gehilfen; er tat alles selbst. Und wenn Beate ihn bei seiner Arbeit beobachtete, fühlte sie, daß dies die einzigen Stunden waren, in denen Kyrill Petulikow etwas wie Glück empfand.

Sie trat bei ihm ein, ohne anzuklopfen. Sie wußte, daß es ihn freute, wenn sie wie eine Schwester, unangemeldet, zu allen Stunden, zu ihm kam. Er saß auf der Ecke der Hobelbank und prüfte das Gewinde einer Schraube. Als[S. 249] er die Türe gehen hörte, hob er den Kopf und grüßte die Frau mit seinem stillen Lächeln, das immer unerwidert blieb.

»Lassen Sie sich nicht stören,« sagte Beate etwas schüchtern, da sie russisch sprach. Ihrer Gewohnheit getreu, ging sie der fremden Sprache mit großer Hartnäckigkeit zu Leibe. Sie versäumte keine Gelegenheit, sich darin zu üben.

»Setzen Sie sich, Mascha,« entgegnete Kyrill Petulikow und schob mit der Hand einen Haufen von Berechnungsplänen von einem hölzernen Schemel.

Sie setzte sich und sah ihm zu.

»Sind Sie zufrieden mit Ihrer Arbeit?« fragte sie nach einer Weile.

»Ja, Mascha ... Aber Sie kamen nicht, um mich das zu fragen, nicht wahr?«

»Nein,« sagte sie ehrlich und sanft.

In seinem Gesicht rührte sich kein Muskel. Er nahm die Feile zur Hand.

»Ich bin gekommen,« fuhr sie fort, »um Sie zu fragen, Kyrill Iwanowitsch, ob ich heute noch zur Stadt fahren könnte — oder ob Sie anders über die Pferde verfügt haben.«

»Warum fragen Sie das, Mascha?« sagte Kyrill Petulikow und sah sie kopfschüttelnd an. »Sie wissen, daß Sie die Herrin in diesem Hause sind, solange Sie darin wohnen. Ich bin eigensüchtig:[S. 250] ich hoffe, daß es lange ist. Sie wünschen sich das Gegenteil, und ich sehe Sie nie nach der Stadt fahren, Mascha, ohne daß ich darauf vorbereitet wäre, Sie nicht wiederkommen zu sehen. Aber ich bitte Sie — nicht um meinetwillen, sondern weit mehr noch für Sie selbst und Ihren eigenen Wunsch —: unternehmen Sie nichts Unbedachtes ... Sie kennen Rußland und seine Verhältnisse nicht. Sie kennen vor allem nicht die russische Polizei. Es genügt der allergeringste Anlaß, um Sie den Behörden verdächtig zu machen. Dann wird man Ihnen den Paß abfordern, und dann sind Sie jeder Willkür ausgeliefert. Als Ausländerin sind Sie den Leuten sowieso eine unheimliche Erscheinung. Erkennt man Sie als Deutsche, Mascha, so stehe ich für nichts ein ...«

»Ich werde vorsichtig sein,« versicherte sie mit einem Lächeln, das seiner Sorge dankte. »Ich werde auch nichts unternehmen, ohne Sie um Rat gefragt zu haben. Aber setzen Sie sich in meine Lage, Kyrill Iwanowitsch ... Ich bin nicht Ihr Gast — ich bin durch die Verhältnisse eine halbe Gefangene, und während ich hier sitze und die Hände in den Schoß lege, bricht vielleicht mein ganzes Leben zusammen, und ich weiß es nicht einmal ... Ich will nach Hause ... Ich muß nach Hause ... Geben Sie mir ein wenig Hoffnung, daß ich bald nach Hause komme,[S. 251] Kyrill Iwanowitsch — und ich will mich gedulden ...«

Kyrill Petulikow arbeitete schweigend. Dann sagte er: »Ich verspreche Ihnen, daß ich in nächster Woche nach Moskau fahren werde, um mich für Sie einzusetzen, daß man Ihrem Wege nach Schweden nichts in den Weg stellt. Vielleicht gelingt es mir; es kommt auf die Stunde an. Niemand kann in Rußland sagen, was ein Beamter tun wird, wenn er schlechter Laune ist. Der Himmel ist hoch, und der Zar ist weit. Er ist sogar sehr weit ... Aber ich will es versuchen ... Genügt Ihnen das?«

»Ja, Kyrill Iwanowitsch — ich danke ...«

»Danken Sie mir nicht, Mascha,« sagte Kyrill Petulikow leise.

Sie schwiegen beide.

Kyrill Petulikow schob einen der riesigen Holzklötze, die am Herde lagen, an die Flamme, die ihn spielend zu belecken anfing. Mit einem verlorenen Blick sahen der Mann und die Frau dem Spiele zu; aber ihre Gedanken gingen sehr verschiedene Wege.

»Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, Mascha,« begann der Russe, »daß Sie sich beeilen müssen, wenn Sie heute noch in die Stadt wollen? Es dunkelt früh, und die Wege sind keine Wege mehr ... Sie haben mir nie erlaubt, Sie zu begleiten, und ich achte Ihre Gründe,[S. 252] obgleich sie ein wenig schmerzlich für mich sind ... Aber Sie können mir nicht verwehren, daß ich mich um Sie sorge ...«

»Dazu haben Sie keinen Grund, Kyrill Iwanowitsch,« antwortete Beate. »Ich nehme mich schon in acht ... aber ich kann nicht fortgehen, ohne Ihnen gesagt zu haben —«

»Was — Mascha?«

Sie hob den Kopf und sah ihn an.

»Kyrill, warum spielen Sie mit dem Tode?«

Er machte eine Bewegung, mehr des Erstaunens als des Unwillens.

»Wer hat Ihnen gesagt, daß ich das tue?«

»Ich weiß es, das ist genug. Warum tun Sie das, Kyrill?«

»Nun,« fragte der Russe versonnen, »und wenn ich es tue? Das Spiel ist schön!«

Sie schüttelte den Kopf mit ernsten Augen. »Es ist ein unedles Spiel, Kyrill Iwanowitsch ...«

Er lächelte. »Wie Sie das sagen, Mascha! — So ernsthaft, als wenn Ihr Herz es sagte ... Und das fragt nichts danach ... Seien Sie unbesorgt ... Wir spielen mit dem Leben oder mit dem Tode — es kommt am Ende auf eins heraus; nur daß das Spiel des Todes keinen Ekel kennt. Und das ist schon viel wert ... Als ich den Gedanken faßte, Flieger zu werden, hatte er einen Sinn. Jetzt hat die Wirklichkeit einen anderen. Und ich liebe sie beide und weiß[S. 253] manchmal nicht, welcher der stärkere ist. Das, was ich auf der Erde niemals hatte, das breite und zufriedene Herrengefühl — da oben habe ich es. Und wenn ich es ausgekostet habe, was soll ich dann die Gewohnheit an seine Stelle treten lassen, und die Übung an die Stelle der Kühnheit? Das wäre schal, Mascha — das wünschen Sie mir nicht ...«

»Sie sagen es also — Sie sagen es, daß Sie das Leben wegwerfen wollen!« rief die Frau mit einem tiefen und schönen Zorn.

Er schüttelte den Kopf. »Nicht ohne Zweck, Mascha — ganz gewiß nicht ohne Zweck ... Seien Sie unbesorgt ...«

Sie stand auf und legte ihm die Hände auf den Arm.

»Ich will nicht, daß Sie so reden!« sagte sie und rüttelte ihn, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen.

Kyrill Petulikow beugte den Nacken. Er schob ihre Hände von seinem Arm.

»Bitte, tun Sie das nicht —!« sagte er leise.

Beate Hoyermann ging.

Er sah ihr einen Augenblick nach; dann nahm er die Schraube wieder zur Hand. Aber er arbeitete nicht. Der Widerschein der großen Feuer spielte in seinen dennoch unerhellten Augen ...

Eine halbe Stunde später wateten die Pferde, die Dmitri lenkte, durch den kniehohen Schnee[S. 254] der Straße, die zum Dorfe führte. Es war ein weiter Weg nach der Stadt; sie würden die Gäule wechseln müssen.

Als sie das Dorf hinter sich hatten, blies der Wind über die flachen Felder. Die Bäume am Straßenrand waren bis zu den Kronen eingeweht. Es war nicht mehr so kalt, wie es am Morgen gewesen war; Schnee drohte in dem tiefgespannten, gleichsam gelockerten Himmel.

Beate hatte sich an diese Schlittenfahrten auf Straßen, die keine Straßen waren, allmählich gewöhnt. Sie wußte schon, wie man sich festhalten mußte, um nicht zermalmt und zerschleudert am Ziele anzukommen. Die Pferde stöhnten und dampften. Dmitri fluchte vor sich hin und redete den Gäulen zu, indem er ihnen schmeichelte ...

»Vorwärts, vorwärts, meine Täubchen, meine Schwalben — vorwärts, meine Prinzessinnen, meine Edelsteine! Ihr, schneller als der Wind und ausdauernder! Vorwärts, lauft, lauft, meine goldenen Rosen! Ihr sollt in Hafer stehen bis an die Augen! Ihr sollt Brot und Zucker haben und Schnaps zu saufen! Brecht euch das Genick, aber lauft!«

Schließlich erstickte auch sein Gemurmel hinter dem Vorhang aus dampfendem Eis, zu dem sein Bart geworden war.

Im Hause des Postmeisters, wo sie die Pferde[S. 255] wechseln mußten, war Beate wohlbekannt; sie hatte immer die Taschen voll Süßigkeiten für das Kindergewimmel, das vom ersten Schneefall bis zur Schmelze nicht vom Backofen herunterkam.

In dem niedrigen halbdunklen Raum, der vor Hitze zu beben schien, knisterten die Holzkohlen des Samowars, und es dauerte keine Minute, daß vor Beate das glühende Glas mit frischem Tschai stand. Während Dmitri und der Postmeister die Pferde aussträngten und wechselten, saß Beate am Herde und ließ die Kinder auf sich herumklettern, und unter ihren Füßen balgten sich friedlich die Schweine und die Hühner — die Überreste des Paradieses, auf die mit weltabgewandten Augen die bunten Heiligenbilder niederblickten.

Es war völlig Abend geworden, als Dmitris Schlitten in die Stadt einbog.

Die Stadt war nicht groß — ein sehr weit vorgeschobener Vorposten von Mütterchen Moskau. Zur Zeit des Friedens hatte sie einen starken und gesunden Pulsschlag. Aber der Krieg hatte ihr das beste Blut aus den Adern gepumpt; das dralle junge Weib war zur Vettel geworden.

Wie immer, wenn sie in die Stadt fuhr, hatte Beate alle Hände voller Aufträge für das Gut. Aber da es ihr darum zu tun war, möglichst rasch wieder nach Hause zu kommen, übertrug[S. 256] sie die Erledigung der Hälfte Dmitri und erklärte ihm, sie werde sich zu Fuß auf den Weg machen, das übrige besorgen und nach einer Stunde im Gasthof sein, wo er ausspannte.

Dmitri war mit dieser Anordnung durchaus nicht einverstanden. Und er wußte, auch sein Herr hätte es nicht geduldet, daß die Frau, die er Mascha nannte, zu Fuß wie eine Bäuerin durch die schmutzigen Gassen der Stadt lief, sich neben stinkende Weiber in die Läden drängte und sich mit den betrügerischen Hundesöhnen von Kaufleuten bei jedem Handel um dreißig Kopeken die Lunge aus dem Halse schreien mußte.

Aber Dmitri hatte den bedingungslosen Gehorsam der Leibeigenen noch im Blute; er widersprach nicht; er bückte sich vor der jungen Frau und tat, wie sie ihm gesagt hatte ... In einer Stunde, wie die Herrin befohlen, würde er wieder zur Stelle sein, gut, gut ... Gott schütze dich, Mütterchen ...

Beate ging zuerst nach der Post und gab ihren Brief an Tystendal auf. Um zu bezahlen, zog sie ihre Pelzhandschuhe aus, die sie behinderten. Ein Mann stieß an sie an; die Handschuhe fielen zu Boden. Er entschuldigte sich sehr höflich und bückte sich, um seine Ungeschicklichkeit wieder gutzumachen. Beate dankte freundlich und gedankenlos. Sie verließ das Postgebäude[S. 257] und sah nach ihrem Zettel, auf den sie die notwendigen Besorgungen aufgeschrieben. Sie konnte ihn aber nicht finden.

Sie entsann sich, daß sie ihn in den rechten Handschuh gesteckt, um ihn immer griffbereit zu haben. Wahrscheinlich war er ihr bei dem kleinen Zwischenfall in der Post verlorengegangen. Sie nahm es nicht sehr schwer. Sie hatte ein gutes Gedächtnis und würde wohl nichts vergessen. Schlimmstenfalls wiederholte sie an einem der nächsten Tage ihre Fahrt.

Sie blickte auf die Uhr und setzte ihren Weg beschleunigten Schrittes fort. Die Zeit drängte. Lisa Petulikowa liebte es nicht, wenn sie warten mußte.

Als Beate auf die Straße trat, hörte sie in der Entfernung lebhaftes Schreien und Rufen, ohne sonderlich darauf achtzuhaben. Aber das Schreien lief ihr in den Weg. Es spülte sich von weit her heran wie eine ständig steigende Flut, auf der, gleich weißen Gischtflocken, die hellen Stimmen von Weibern tanzten. Was sie riefen, war nicht zu verstehen, aber das Brausen der Rufe war nicht freundlich.

Unwillkürlich blieb Beate stehen. Kyrill Petulikow hatte ihr genug von den Aufläufen in russischen Städten erzählt, daß sie wünschen mußte, keinem zu begegnen. Sie sah sich um, unschlüssig, wohin sie sich wenden sollte. Aber[S. 258] sie kam nicht dazu, für sich selbst einen Entschluß zu fassen. Was sie sah, mehr noch als was sie hörte, hielt sie fest auf der Stelle, wo sie stand.

Am äußersten Ende der Straße, in der das Postgebäude lag, erschien ein Mensch — ein Mann, der in lang flatterndem Kaftan, barhäuptig, in Sprüngen wie ein gehetzter Hund, über den Schneeschlamm des Fahrweges setzte. Den Kopf über die Schulter gewandt, rannte er taub und blind drauflos. Beate sah, daß er alt war; die langen, schmutzigen Locken hingen ihm grau um das zerpflügte Gesicht. Der Mund stand ihm offen; bei jedem Sprunge, den er tat, pfiff ihm der Atem durch die klaffenden Lippen.

Die Menschen auf der Straße blieben stehen und gafften. Ein Jude, der um sein Leben lief — nun ja, was weiter? Die einen spuckten aus, die anderen lachten ...

Aber dann überlegten sie ... Warum lief der Jude um sein Leben? Er wurde verfolgt — was hatte er getan? Gleichgültig, was er getan hatte ... Man mußte ihn aufhalten ... He —! He ...! Zwei — drei — fünf der Gaffer schlossen sich zu einem neuen Trupp von Verfolgern zusammen.

Aus der Richtung, von der der Flüchtende gekommen war, schwoll das Geschrei näher heran. Immer spritzten die gellenden Stimmen[S. 259] der Weiber über das dumpfere Brausen hinaus. Jetzt spülten sie um die Ecke, die ersten trüben Wellen einer Empörung, die satt werden wollte.

»Haltet den Juden fest —! Haltet ihn fest, den Hundesohn —!«

Schrille Pfiffe von rechts, von links ...

»Was hat er denn getan — was —? Was ...?!«

Nun, was wird er getan haben! Es war eine sehr einfache Sache ... O, es gab noch eine Gerechtigkeit auf der Welt —! Die Gerechtigkeit soll leben ...

Michail Michailowitsch war ein guter Wirt; seine Kneipe erfreute sich des regsten Besuches, denn er war ein gemütlicher Mann und verstand es, zur rechten Zeit beide Augen zuzudrücken ... Nein, niemand hatte Ursache, sich über Michail Michailowitsch zu beklagen ...

Aber der Zar — Gott segne ihn! — hatte in seiner Weisheit verboten, daß irgend jemand im russischen Reiche Schnaps ausschenken sollte. Gegen den Willen des Zaren gab es keine Auflehnung. Es wurde kein Schnaps mehr ausgeschenkt; die Welt wurde so nüchtern wie am ersten Tage ihrer Schöpfung.

Doch das Unglück — oder die Gerechtigkeit (für die Sünder ist die Gerechtigkeit immer das Unglück) — wollte es, daß gestern Abend ein paar Dutzend Soldaten in die Stadt einrückten, die nach Moskau weiterbefördert werden sollten.[S. 260] Es war Krieg, und man brauchte die Soldaten, gut —!

Als sie ankamen, waren sie so nüchtern wie frisches Stroh. Heute hatte man sie sternhagelvoll in sämtlichen Kammern der Kneipe Michail Michailowitschs zusammensuchen müssen.

Die Offiziere hatten geflucht, daß die Fenster bebten. Sie hatten geschworen, der Ursache dieser Schweinerei auf den Grund zu kommen. Sie hatten den Wirt in den Hof geschleppt und ihm mit der blanken Klinge unter der Nase herumgefuchtelt: »Kerl, wo hast du den Schnaps her, den du gestern nacht an die Soldaten verkauft hast —?! Weißt du nicht, du Dreckseele, daß es verboten ist, Schnaps zu verkaufen —?!«

Michail Michailowitsch fiel auf die Knie und beschwor seine sämtlichen Ahnen in ihren Gräbern: er hatte keinen Schnaps — nicht ein Fäßchen, nicht ein Glas voll, so wahr er selig werden wollte!

Aber die Juden hatten Schnaps — ja, die verbargen ihn in ihren Kellern ...

Sein Nachbar — der hatte Schnaps! Man mußte nur suchen! Die Fässer würden ja wohl noch übrig sein.

War sein Nachbar ein Jude —?

Ein polnischer Jude, meine Herren — ein krummer Hund, der es mit den Deutschen gehalten hatte. Niemand wußte, mit wem er es[S. 261] jetzt hielt — er trieb sich in den Nächten viel draußen herum ... Wenn man seiner habhaft wurde, kam sicherlich manches an den Tag, wovon man sich bis heute nichts hatte träumen lassen ...

Aber der Jude wartete es nicht ab, daß man ihn fing wie eine Maus in der Falle. Er kannte die russischen Gefängnisse und die russische Polizei. Und er wußte, wenn die russische Polizei einen Schuldigen brauchte, dann fand sie ihn, und wenn der, den sie finden wollte, ein Jude war, dann war er schuldig, und hätte der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs selber für seine Unschuld gezeugt.

Die Keller des Juden waren ebenso frei von gefüllten wie von leeren Fässern, und drüben bei Michail Michailowitsch brauchte man nur ein paar Säcke voll Lumpen wegzuräumen, um zu entdecken, was man suchte. Aber Michail Michailowitsch war ein getreuer und gehorsamer Untertan des Zaren und ein gutgläubiger Christ, und er würde einen Eid schwören, so hoch und teuer man es nur irgend von ihm verlangte, daß er von dem Vorhandensein der Fässer nichts geahnt bis zu dem Augenblick, da man sie ihm zeigte — und daß der verfluchte Hund, der beschnittene, die Fässer heimlich in den Keller von Michail Michailowitsch geschafft hatte, um ihm zu schaden ...

[S. 262]

Der Jude, dem die Verfolgung von Jahrhunderten ein gutes Gehör vererbt hatte, lief, sobald der Tumult in der Nachbarschaft nach der Polizei schrie, zu seiner Frau und seiner Tochter, die an der Schwindsucht litt; er jagte sie, wie sie gingen und standen, auf die Straße hinaus — durch die Hintertüre, nach der Judengasse. Er ließ ihnen nicht so viel Zeit, sich warm anzukleiden. Die Kälte konnte barmherzig sein — die Polizei gewiß nicht ...

Die Frau warf der Tochter eine Tischdecke um den Kopf und die Schultern; sie hasteten über die unerhellten Stiegen ihres Hauses. Die Frau hielt die Hintertüre offen und schrie nach ihrem Manne. Sie wollte nicht ohne ihn davon.

Aber er jagte sie — er fand harte Worte für die schlechte Mutter, die ihr Kind in die Hände der Henker fallen lassen wollte ... Willst du wohl gehen —?!

Das Weib und das Mädchen drückten sich schluchzend an den Mauern entlang; sie wandten bei jedem Schritt die Köpfe nach dem Gatten und Vater. Aber der kam nicht.

Es war nicht genug, daß er Frau und Kind zur Flucht verholfen — er mußte auch die Verfolger auf sich hetzen — er selbst ... Sie durften nicht Zeit gewinnen, um nachzuforschen, wieviel Türen das Haus des Juden hatte ...

Und er rannte und rannte. Und die Meute[S. 263] hinter ihm drein ... O, es war eine lustige Jagd, wahrhaftig! Sie rafften Schneeballen auf, so groß wie Kindsköpfe. Steine waren darin versteckt und Eisklumpen ... Um so besser flogen sie. Und wie sie flogen —! Da hatte einer den Juden am Kopfe getroffen ... Taumelst du, Jude —? Du sollst noch ganz anders taumeln —! Wartet, wartet —! Sperrt ihm den Weg ab! O zum Teufel, ihr seid nicht schnell genug! Er hat Feuer unter den Sohlen, der Jude —! Da ist er euch unter den Händen entwischt ... Gelächter, Fluchen, Pfeifen ...

Und plötzlich ein wiehernder Schrei — er liegt! Er liegt —! Ein Klumpen Eis — wer hat ihn geworfen? es muß, bei den Heiligen, eine wackere Faust gewesen sein! — der hat ihn zwischen den Schultern getroffen. Und da ist er gestolpert und gefallen ...

Nun liegt er im Schneeschlamm, der ihm den Mund füllt ... Ersticken sollst du daran, schmutzige Bestie ... Aber erst sollst du gestehen: Wo hast du den Schnaps her, Hundesohn —?!

»Ich habe keinen Schnaps, ihr Herren ...«

Seht doch, seht doch — sie will leugnen, die Dreckseele! Hund, man wird dir das Geständnis aus allen Gedärmen treten —! Wo hast du den Schnaps her — hörst du nicht? Sie wollen eine Antwort, die Frager ...

»Ich habe keinen Schnaps, ihr Herren! Ich[S. 264] habe keinen! Und wenn ihr mich totschlagt, ich weiß nicht, was ihr wollt —!«

»Man wird dich totschlagen, sei ganz ruhig — aber alles zu seiner Zeit! Erst gestehe! Du hast den Soldaten gestern Schnaps verkauft!«

»Nein, nein, nein —!«

»Willst du die Wahrheit sagen, du Mistkäfer?!«

»Ich sage die Wahrheit ...«

Er sagt sie mit blutigem Munde. Er liegt am Boden, sie lassen ihn nicht aufstehen. Fußtritte regnen auf seinen Rücken, auf seine Hüften. Er soll gestehen. Er gesteht nichts, weil er nichts zu gestehen hat. Sie müssen von ihm ablassen — es ist nichts aus ihm herauszubekommen.

Aber die Menge hat einen Gedanken! Daß man nicht schon viel eher auf diesen erleuchteten Gedanken gekommen ist! Mag sein, daß dieser Jude nichts zu bekennen hat, daß er sogar unschuldig ist, so unwahrscheinlich das auch wäre ... Aber es gibt viele Juden in der Stadt! Wenn man bei denen nachforschte ...

Begeistert greifen sie den Gedanken auf ...

Zum Judenviertel —! Zum Judenviertel!

Was scheren sie sich noch um den Einzelnen, der am Boden liegt und dem das Blut aus Nase und Mund läuft und den Schnee rot färbt ... Jetzt haben sie höhere Ziele ... Die Polizei setzt sich an die Spitze der Menge ... Hunderte,[S. 265] Tausende folgen ihr. Das Geschrei löst sich auf in johlende Lieder. Sie müssen sich Luft machen; die Begeisterung macht sie trunken. Es gilt eine heilige Sache — eine herrliche Sache, Brüderchen ... die Juden haben unseren Herrn ans Kreuz geschlagen ... wir wollen ihn rächen ... Wer nicht mittut, ist ein schlechter Christ und ein Lump ...

Beate steht, die Hände rückwärts an die Hauswand stemmend; ihre Augen klaffen vor Grauen und Entsetzen und jammervollem Mitleid. Sie will schreien, aber der Laut erstickt ihr auf den Lippen. Sie will sich wehren, aber sie muß mit. Wenn sie nicht zertreten und zerrissen sein will von der Horde, die der Mordrausch toll gemacht hat, dann muß sie mit, eine Welle im siedenden und brodelnden Strom. Und sie taumelt vorwärts und sieht — muß sehen und hören ...

Ohne Füße gleichsam geht sie diesen Weg ...

In der Judengasse sind alle Fenster und Türen geschlossen und verriegelt. Seht doch — das schlechte Gewissen! Wie sie sich verkriechen! Wie sie ihre stinkenden Höhlen verrammeln! Es soll euch nichts nützen — ihr Kinderschlächter!

Wo haben sie die Äxte, die Hacken, die Steine her? Niemand weiß es. Aber mit einem Male sind alle Fäuste bewaffnet und hochgeschwungen. Ein Steinhagel prasselt gegen das erste beste[S. 266] Haus ... Kriech aus deinem Loch, du Hundeseele ...!

Willst du nicht? Nur Geduld — Geduld, sie werden dich schon holen —!

Ein Axthieb schmettert gegen die Haustür ... Weicht doch zurück, zum Teufel — ich kann nicht ausholen ... Zum zweiten Male ... klingend trifft Eisen auf Eisen ... das Schloß kreischt und singt ...

Die gutgefügten Bänder platzen beim vierten, fünften Hieb ...

Aber die Türe gibt noch nicht nach, so wütend sich auch die Schultern des Stärksten dagegen pressen. Sie haben den Eingang durch Möbel verstellt — o, einmal werden sie doch nachgeben müssen ... fester — fester —! Noch einmal — hoi —!

Nun haben sie's erzwungen ... Sich stauend, stoßend und drehend schwemmen die Angreifer in das gestürmte Haus ...

Die Weiber bleiben auf der Straße. Mit offenen Mäulern und zuckenden Fäusten. Die Männer werden ihnen die Beute schon zutreiben; sie brauchen sich keine Mühe zu geben, selbst die Judenbrut aus den Schlupfwinkeln zu zerren.

Im Innern des Hauses erhebt sich ein jämmerliches Geschrei ... Sie schleifen die Kinder aus den Betten, in die sie sich verkrochen hatten ... Ein junges Weib, eine Mutter, der das Haar in[S. 267] langen wirren Strähnen um die zerkratzten Wangen hängt, klammert sich an den Arm eines Kerls, der so lang ist wie Saul und einen Säugling hoch über seinen Kopf hält ...

»Gib deinen Schmuck her, Judenhexe, oder ich schlage dir mit deinem eigenen Wechselbalg den Schädel ein ...!«

Das Weib reißt sich die dünnen Goldringe aus den Ohren, zwei, drei Ringe von den Fingern ...

»Da — da, nimm —!«

»Das ist nicht genug ... Du hast mehr, viel mehr, meine Taube —!«

»Nein, Herr, nein — lieber, guter Herr, ich habe nicht mehr! Will ich tot hinfallen, wenn ich mehr habe!«

»Such nur — du wirst schon noch was finden, das du vergraben hast!«

»Herr, Herr — ich habe nichts mehr — nichts!«

»Such, Hündin — sage ich dir!«

Das Kind schreit auf ...

Und das junge Weib, dem die Verzweiflung fast die Augen aus den Höhlen treibt, greift nach ihm, kann es nicht erreichen — springt mit versagenden Flechsen, unter dem johlenden Gelächter der anderen — und wendet sich plötzlich, reißt laut heulend alle Fächer, alle Schränke, alle Schübe auf, daß die Kästen herausfallen und ihr Inhalt sich in den Stuben verstreut ...

[S. 268]

»Da —! ... Da — ... da —!!«

Fluchend bückt sich der Kerl und läßt das Kind fallen. Das Weib fängt es auf, wendet sich zur Flucht.

»Wohin willst du, Kröte —? Hiergeblieben!«

Sie duckt sich, kriecht in eine Ecke, hält ihr Kind auf dem Schoß und schlägt die Arme über dem Kopf zusammen.

Die Beute war ganz gut — aber sie muß noch besser werden. Das lohnt sich nicht, das Gewerbe ... Was ist da unten los? — Ein junger Bursche spielt auf der Ziehharmonika.

O Nikolai Sontscheff — du bist eine Seele — ein Gemüt von Wachs ... Und außerdem bist du betrunken, Brüderchen! Wo hast du den Schnaps her —?

Nikolai Sontscheff gröhlt aus vollem Halse:

»Meines Mädchens rote, rote Lippen ...«

Zum Teufel mit den roten Lippen deines Mädchens, Geizkragen — wo hast du den Schnaps gefunden —?

Geht zu Michail Michailowitsch, ihr Narren — er wird ihn euch schon verschaffen! Michail Michailowitsch ist ein braver Junge und schlauer als ihr Dummköpfe alle miteinander ...

Nimm dich in acht, Brüderchen — du wirst dich um den Hals reden ... die Polizei ist da ...

Hol' der Henker die Polizei — wo ist sie?

[S. 269]

Verschwunden ...

Was ging es die Polizei an, wie sich das Volk mit den Juden auseinandersetzte? Michail Michailowitsch hatte jedem der Beamten zwanzig Rubel in die Hand gedrückt ... Gott segne ihn ... Die Polizei hatte seine Keller durchsucht und nicht das geringste gefunden. Das genügte für eine Berichterstattung vollständig. Michail Michailowitsch war ein Ehrenmann; wenn man ihm ein Winkchen gab, fand die Polizei vielleicht Gelegenheit, die zwanzig Rubel auf gute Weise wieder loszuwerden ...

Was in der Judengasse vorging, stand auf einem ganz anderen Blatt ...

Nikolai Sontscheff kletterte auf einen Mauervorsprung. Er schrie, bis alle auf ihn horchten.

Was wollt ihr hier in der jämmerlichen Gasse, in den Rattenlöchern, ihr Esel und Narren! Warum, wenn ihr euch schon das Vergnügen machen wollt, die Juden auszuräuchern und ihre starren Beutel ein wenig zu schröpfen — warum, im Namen der ganzen Hölle, frage ich euch, geht ihr nicht dahin, wo das Gold in Haufen zu finden ist —? Warum sucht ihr nach dem Abfall, wo ihr die ganze Tafel voller Herrlichkeiten haben könnt —?

Er hat Recht —! Freilich hat er Recht, der wackere Nikolai —! Vorwärts, vorwärts — zu den Reichen! Zu den verdammten Blutsaugern,[S. 270] die auf ihren Goldsäcken sitzen! Wir wollen sie heruntertreiben, bei den Heiligen! Sie sollen uns Gold und Kleider, zu essen und zu trinken geben! Wir wollen an ihren Tischen sitzen, in ihren Betten schlafen ... Ihre Weiber sollen uns bedienen ... Wir wollen sie tanzen machen — hoch Nikolai Sontscheff — hoch —!

Hierhin, dahin brandeten die Wellen — wo war der kürzeste Weg zum Ziel? Da lag ein Garten mitten vor ihnen, verschneit und einsam — das Haus hinter den Bäumen mit toten Fenstern, geschlossenen Läden, ein Bild der Verlassenheit.

Wem gehört der Garten, wem gehört das Haus —?

Irgend jemand brüllt den Namen: »Schirmer — Andrew Schirmer —!«

Ein Deutscher — was?

Nun, mein Gott, ein Deutscher — das kann man nicht sagen ... Er lebt seit dreißig Jahren hier.

Das ist ganz gleichgültig — er ist trotzdem ein deutsches Schwein! Wäre er sonst geflohen? Du siehst ja, daß er nicht zu Hause ist! Er ist ausgerissen, der Feigling!

Nun, was das betrifft — Nikolai Sontscheff hat ein wunderbares Geschick, immer einen erhöhten Standort zu finden, von dem aus er[S. 271] seine Reden in die Menge schleudert — was das betrifft, gute Freunde — vertraut euch meiner Führung an! Ich zeige euch Nester, in denen die Vögel noch sitzen ...

Was — Deutsche —?

Deutsche, bei meiner armen Seele —! Die schönsten und reichsten Läden der ganzen Stadt gehören den deutschen Schweinen! Und den Juden —! Wer weiß, ob die nicht überhaupt unter einer Decke stecken? Ob die nicht schuld an allem sind, was der Krieg über uns bringt? Wer hat ihn angezettelt? Die Deutschen — komme die Hölle über sie dafür!

Was — die Hölle —! Wir wollen über sie kommen! Jetzt — auf der Stelle! Mach voran, Nikolai Sontscheff! Zeig uns den Weg —!

»Meines Mädchens rote, rote Lippen
Küss' ich morgens, mittags und am Abend!«

sang Nikolai Sontscheff und ließ die Ziehharmonika quieken.

Beate Hoyermann raffte ihren Mantel zusammen und lief — lief wie eine Hirschkuh auf der Flucht. Von rechts, von links wurden ihr Püffe und Stöße zuteil. Sie fühlte nichts, sie lief. Man schrie ihr nach — he, he — was hat sie es so eilig —? Sie hörte nichts, sie lief. Menschen kamen ihr entgegen, Gesichter beugten sich zu ihr, Hände streckten sich nach ihr aus. Sie sah nichts, sie lief.

[S. 272]

Sie lief, und vor ihren Augen flirrte das Blut. Sie kam in die Straße, wo Dmitri auf sie warten sollte. Er war nicht da. Der Schlitten war nicht da. Frische Spuren zerschnitten den Schneeschlamm. Und dennoch schrie Beate mit aller Kraft ihrer Lungen, als müßte — müßte der Mann sie hören: »Dmitri —! Dmitri —!«

Was wollte sie von ihm? Er sollte ihr helfen! Helfen — wobei? — Mein Gott, wobei —?! Beim Warnen, beim Retten ...

»Dmitri —! Dmitri —!!«

Keine Antwort ...

Sie stürzte vorwärts, aufs Geratewohl in eine Straße hinein. Da standen Menschen, anständig gekleidete Menschen ... Sie rannte auf diese Menschen zu ...

»Helfen Sie! Um Gottes willen, helfen Sie!«

Niemand verstand sie — sie hatte deutsch gesprochen ... Sie rang die Hände und hob sie vor die Stirn ... Mein Gott, mein Gott, was sollte sie tun —?!

Das Gebrüll der Menschen, die auf Raub ausgingen wie die Tiere der Wildnis, kam näher und näher heran. Worte schäumten auf: »Nieder mit den Deutschen! Nieder mit den Juden —! Schlagt sie tot, die verdammten Hunde —! Hängt sie —! Hängt sie —!«

In dem Eckhaus der Straße, Beate zunächst,[S. 273] wo ein freier Platz sich breitete, erloschen plötzlich die Lichter.

Die Tür des Ladens schloß sich. Irgend jemand mühte sich, die Rolläden herabzulassen. Aber die Mechanik versagte, oder die Hände waren ungeschickt. Schiefhängend verbargen sie nur halb die weiße Schrift auf den großen Scheiben.

Vielleicht hatte ein Fernruf den Besitzer des Ladens gewarnt. Vielleicht war in dieser behexten Stadt ein Mensch, der alle warnen wollte, die deutsche Namen trugen oder jüdischen Ursprungs waren, mochten sie außerdem so gute Russen sein wie der Zar selbst.

Aber er konnte so schnell nicht warnen, wie der Pöbel an sein Werk ging. Und die herabgelassenen Läden boten dem auch keinen Widerstand — sie reizten ihn nur noch mehr.

Was —? Wollten die Hunde sich verstecken? Wollte man sie um ihr schönes Vergnügen bringen — um ihre Beute, um ihren herrlichen Raub —?!

Hoch die Stangen, die Gitter — auf, auf —!

Glas splitterte und knirschte unter wütenden Tritten ... Wie hieß der Name, der auf den Scheiben stand? Lochmann — Julius Lochmann. Wagte es die schmierige Seele wahrhaftig noch, in einer gut russischen Stadt, auf russischem Grund und Boden russisches Geld verdienen zu wollen?[S. 274] — Warte —! Dafür sollst du bluten! Wir wollen dein Geld schon finden — und dich dazu!

Wer wohnt da drüben? Konstantin Abramow ... Ein Jude —? Nein, nein! — Wer weiß das? — Zum mindesten stammt er von Juden ab. Nieder mit dem Juden —!

Nikolai Sontscheff trat mit dem Stiefelabsatz in die Spiegelscheibe hinein. Unter dem brausenden Gelächter der Menge begann er, die Juwelen und Goldsachen der Auslage mit vollen Händen unter die Weiber zu streuen, die sich darum die Gesichter blutig schlugen ...

Aber es war zu dunkel — viel zu dunkel —! Sie hatten die Lampen ausgelöscht, die deutschen Hunde! Glaubten Sie vielleicht, im Dunkeln entkommen zu können? He, ihr Schlauberger, ihr sollt eine Fackel auf euren Weg bekommen, daß euch die Augen tränen sollen ...

Fäuste donnerten an eine gutrussische Tür.

»Aufgemacht, Väterchen — wir brauchen deine schöne Lampe!«

Erschrockene Gesichter zeigten sich an den Fenstern.

»Was ist, um der Heiligen willen?!«

»Laßt die Heiligen ungeschoren — wir wollen eure Lampe haben! Was braucht ihr eine Lampe? Es soll euch bald hell genug werden ... Oder steckt ihr vielleicht mit den deutschen Hunden unter einer Decke —?«

[S. 275]

»Nein, nein ...« Es gab keinen Schwur, der hoch genug gewesen wäre, um in dieser Stunde die Gemeinschaft mit den Deutschen abzuschwören ....

Die Lampe wurde aus dem Fenster gereicht. Sie flackerte; die Stichflamme zuckte aus dem Zylinder ...

He, he, meine blonde Schöne, nicht so hitzig ...

Nikolai Sontscheff stand auf einem Prellstein und sang aus voller Kehle ...

Geh herunter, besoffenes Schwein — du nimmst mir den besten Platz weg —!

Und der lange Kerl, der in der Judengasse zwei Ohrringe und drei dünne goldene Reifen erbeutet hatte, gab dem Betrunkenen einen Stoß, daß er in den Schnee torkelte. Gelächter wusch über ihn weg ... Er raffte sich fluchend auf und trat seinem Gegner in die Kniekehle, daß der vornüberschlug, in die Scherben eines Fensters hinein. Die Wucht des Angriffs nahm auch ihm das Gleichgewicht; sie lagen in Schlamm und Scherben und verbissen sich ineinander; um sie herum färbte sich der Schnee blutrot ...

Und dann zuckte eine Flamme auf. Eine breite, schöne und sehr helle Flamme. Jemand, der sein Geschäft verstand, hatte die brennende Petroleumlampe in ein Lager von Seidenstoffen geschleudert. Die Lampe war gesprungen, und[S. 276] das Öl lief breit lohend über die köstlichen Stoffe. Nun war die Straße bedeutend heller erleuchtet, als sie es jemals auf Kosten der Stadt gewesen.

Willst du deine Lampe bezahlt haben, Väterchen? Komm heraus und hole dir, was du willst ... Alle Schätze stehen dir zur Verfügung ... Gold, Edelsteine, Seide und Pelze ... Ist deine Tochter blond, Väterchen? — Dann nimm den schwarzen, er wird sie wunderbar kleiden ... Eine Fürstin hätte dreitausend Rubel und mehr dafür bezahlen müssen. Du bekommst ihn für eine Petroleumlampe. Preise dein Schicksal und die Gnade der Heiligen und greif zu ...

Da drüben heulen sie, die deutschen Wölfe ... Man hat sie zu Paaren getrieben und kitzelt sie mit langen guten Messern ... O, nur ein wenig, nur zum Spaß ... Es soll ihnen nicht ans Leben gehen ... Obgleich es gut wäre, wenn man sie samt und sonders mit einem guten Strick aus der Welt beförderte ... Was meinst du, Brüderchen? Haben sie's etwa nicht verdient?

Kniet nieder, ihr schmutziges Gesindel, und bittet um euer Leben ...!

Greise, Frauen und Kinder — weiter niemand ... Die Männer waren schon längst aus der Stadt getrieben worden — nach Sibirien verschickt — geradeswegs aus den Betten in die Untersuchungsgefängnisse und dann in die Bahnwagen.[S. 277] Man machte wirklich nicht viel Federlesens mit ihnen ... Warum sollte man es mit denen machen, die übriggeblieben waren?

Die eine oder andere der Frauen war schön ... Und wenn man ihnen die Kinder nahm, wurden sie vielleicht auch willfährig.

»He, du Kleine, komm her —!«

Das Kind, von den Flammen, dem Geschrei, dem Blut im Schnee und an den Fäusten der Männer zu Tode geängstigt, verkroch sich noch tiefer hinter den Rock seiner Mutter, die am Boden lag und heulte.

»Komm her, sag' ich dir —!«

Das Kind gehorchte. Aber die Mutter fuhr in die Höhe, schnellte auf, als seien ihre Knie von Stahl.

»Rühr das Kind nicht an!« schrie sie. Allen Jammer, alle Verzweiflung, allen Haß funkelten ihre Augen dem Menschen entgegen, der nach ihrem Kinde griff.

»Ruhig, ruhig, meine Taube — sonst wird man es dir beibringen ...«

»Seht doch, seht doch —! Wassilij Petrow im Kampf mit der deutschen Wölfin! He, he, Wassilij — nimm dich in acht! Sie hat blanke Zähne!«

»Willst du loslassen, verdammte Bestie?!«

Aber das Weib ließ nicht los. Sie hatte ihm die Zähne in die Hand gegraben und krallte sich in seinen Rock.

[S. 278]

»Du Teufel —! Du elender Teufel —!«

Wassilij Petrow wehrte sich nicht sehr. Er war mehr erstaunt als erzürnt. Er sah auf die Frau hinunter, die ihm mit den Zähnen am Leibe hing — und dann machte er eine Bewegung — nur eine ganz kleine. Er war ein starker Kerl, der Wassilij — alle Achtung! Wie sie beiseiteflog, die deutsche Beißzange — wie ein Sack Lumpen ...

Da lag sie ...

Wassilij Petrow bückte sich über sie ... »Nun, meine Taube —? Wirst du jetzt vernünftig sein —? Komm her —!«

Er richtete sich auf. Eine Faust war ihm ins Gesicht geschlagen. Die Faust einer Frau, die mit ihrem Leibe die Liegende deckte.

»Du Feigling —!« sagte die Frau mit einer ganz tiefen, schwingenden, von Ekel und Empörung gesättigten Stimme. Ihre Augen sprühten ihn an. »Du Feigling —!«

Wo kam die fremde Frau her? Sie sprach deutsch ... Sie trug einen kostbaren Pelz und hatte blonde Haare ...

Nikolai Sontscheff duckte sich, schlich an den Häusern hin und rannte zuletzt ...

Eine dürre, schmutzverkrustete Hand schob sich vor Beates Mund. Eine Stimme zischelte ihr am Ohr: »Wenn der Frau Baronin lieb is ihr Leben, soll se sein ganz still und laß mich machen.«

[S. 279]

Beate bog den Kopf zurück; ihre Augen suchten. Sie kannte den Mann, der sich vor ihr hin in den Schnee warf, ihre Füße küßte und ihr Kleid und einen Schwall von russischen Worten über sie ergoß. Allmählich verstand sie ... ja, ja, der gute alte Nathan, der Raritätenhändler aus der Jüdengass' — Nathan Löb hieß er, nun besann sie sich ... Der wollte sie schützen. Der gab sie für eine Russin aus — vielleicht gar für eine Fürstin, alter Nathan, wie? — es kam dir nicht darauf an ... Du merktest nur, daß die deutsche Frau, die freundlich zu dir, zu deiner Frau und deiner Tochter gewesen war, in eine brandhelle Gefahr hineingelaufen war mit ihrem zornigen und von Mitleid überströmenden Herzen ... Und da sannst du dir ein gutes Märchen aus, braver alter Löb ...

Aber es sollte dir nichts helfen — und der Frau auch nicht, vor der du dich als ein lebendiger Schild aufgerichtet hattest ... Nikolai Sontscheff hatte flinke Füße, trotz seiner Betrunkenheit ... Und er hatte ganz genau gewußt, wo er die Polizei finden würde ... Bei Michail Michailowitsch ...

Eine Hand legte sich auf die Schulter der Frau. Sie fuhr herum ...

»Was ist —?!«

»Kommen Sie ...«

»Wohin —?«

[S. 280]

»Auf die Wache ...«

Vor Beates Augen tanzte die ganze Welt. Sie straffte sich in den Knien; aber sie schwankte doch.

»Was soll ich — auf der Wache —?!«

»Das werden Sie dort erfahren ... Kommen Sie ...«

Sie ging.

Nathan Löb, der alte Raritätenhändler aus der Jüdengass', blieb auf den Knien liegen und drückte seinen mürben, ratlosen Kopf in beide Hände ...

Die Polizisten führten Beate durch drei, vier Gassen; sie kamen an ein sehr langgestrecktes, graues Gebäude mit vergitterten Fenstern. Posten schritten davor auf und ab. Sie wandten neugierig die Köpfe.

Durch zwei eiserne Tore und einen Gang, in dessen steinernen Gewölben sich die Laute ihrer Füße fingen, kamen sie auf einen engen, viereckigen Hof, der völlig leer war. Eine Türe tat sich auf. Ein dunkler Flur ... Stufen, ausgetreten und krumm ... eine Öllampe an der Windung der Treppe; Tabaksqualm — Stimmen und Faustschläge auf dröhnende Tischplatten. Dann abermals eine Tür, die sich öffnete ...

Um einen Tisch, den die Holzwürmer zerfressen hatten, saßen fünf oder sechs Polizisten, die beim Eintritt der Frau und ihrer Begleiter[S. 281] die Köpfe wandten. Sie spielten Karten und ließen sich nicht stören. Nur einer, der auf einem dreibeinigen Schemel an der Tür gesessen hatte, stand auf, wechselte ein paar Worte mit den Neuangekommenen und verschwand, ohne einen Blick auf Beate geworfen zu haben, im Nebenzimmer.

Einige Augenblicke später stand Beate Hoyermann vor einer Schranke, die sie von mehreren Beamten trennte, deren Tätigkeit vor kurzem auch das Kartenspiel gewesen sein mußte, denn die französischen Blätter und Haufen von kleinen und großen Münzen lagen noch auf den Tischen.

Einer von Beatens Begleitern erstattete Meldung. Der älteste der Beamten forderte die Frau mit einer Handbewegung auf, näher zu treten. Beate gehorchte, ohne zu zögern. Sie sammelte alle ihre Kraft.

»Darf ich fragen, Madame,« begann der Russe in fließendem Deutsch, »wie es gekommen ist, daß Sie sich in eine Angelegenheit des Straßenpöbels mischten?«

Beate, die auf eine andere Frage vorbereitet gewesen war, zögerte einen Augenblick. Aber dann hob sie den Kopf in den Nacken und sagte, ebenfalls deutsch redend: »Weil ich zu meinem Bedauern feststellen mußte, M'sieur, daß die Polizei nicht zur Hand war, um wehrlose Frauen und Kinder vor der Gemeinheit des Straßenpöbels zu bewahren.«

[S. 282]

Der Beamte sah seine Kollegen an und lächelte ein wenig.

»Deutsche Frauen und Kinder — nicht wahr?« fragte er weiter.

»Allerdings, M'sieur ...«

»Und eben, weil es deutsche Frauen und Kinder waren, fühlten Sie sich veranlaßt, sie in Ihren Schutz zu nehmen ...«

»Die Nationalität würde in keinem Falle bei mir eine Rolle spielen, wenn es sich um die Verhütung einer Gemeinheit handelt,« sagte Beate etwas herb.

»Sehr anerkennenswert ... Aber man hat gehört, wie Sie Deutsch sprachen, Madame ...«

»Sie selbst sprechen ein ausgezeichnetes Deutsch, M'sieur ...«

»Es ist ein Vergnügen, mit Ihnen zu verhandeln, Madame — Sie führen eine vortreffliche Klinge,« sagte der Beamte mit einer Verbeugung. Beate antwortete nicht.

Der Beamte nahm ein Aktenformular aus dem Pult und legte es vor sich hin.

»Wenn ich recht unterrichtet bin, wohnen Sie augenblicklich auf dem Gute von Kyrill Iwanowitsch Petulikow — nicht wahr?«

»Ich bin die Pflegerin seiner Mutter,« sagte Beate.

Der Beamte lächelte leicht.

»Es dürfte Ihnen nicht unbekannt sein,«[S. 283] sagte er, »daß man Sie in der Stadt in nähere Beziehung zu Kyrill Petulikow selbst als zu seiner Mutter bringen will, Madame ...«

Beate verstand nicht gleich. Und dann lief ihr das Blut übers Gesicht. Im nächsten Augenblick war sie kalkweiß bis zu den Lippen.

»M'sieur,« sagte sie, und ihre Augen funkelten, »ich genieße den ehrerbietigsten Schutz im Hause Kyrill Petulikows, den sich eine verheiratete Frau wünschen kann.«

Der Beamte verbeugte sich.

»Sie sind also verheiratet?«

»Ja.«

»Mit wem?«

»Das tut nichts zur Sache.«

»Ganz wie Sie wollen, Madame ... Gestatten Sie mir eine andere Frage: —« und er nahm einen Brief aus dem Aktenbogen, den er Beate reichte ... »haben Sie dieses Schreiben verfaßt und heute zur Post gegeben?«

Beate nahm den Brief nicht; sie erkannte ihn beim ersten Blick. Es war der, den sie an Tystendal geschrieben.

»Ja,« sagte sie.

»Sie werden es begreiflich finden, Madame, daß sich der Staat in diesen Zeiten — zur eigenen Sicherheit — um die Angelegenheiten seiner Bürger mehr noch als sonst bekümmern muß ...«

[S. 284]

Er sah die Frau an; aber Beate schwieg.

»Der Brief ist geöffnet an uns übergeben worden; und die Polizei hat ihn gelesen ... Er enthält einige Punkte, die im Zusammenhang mit anderen Ereignissen nicht uninteressant für uns waren ... Doch zuvor noch etwas anderes.« Er nahm abermals den Aktenbogen zur Hand. »Haben Sie dies hier geschrieben?«

Beate nahm den Zettel, den er ihr bot.

»Ja,« sagte sie. Es war der Zettel, den sie auf der Post verloren zu haben glaubte. Sie wurde rot vor Zorn.

»Wie kommt es, Madame,« fuhr der Beamte in seinem Verhör fort, »daß sie deutsche Worte mit russischen Buchstaben geschrieben haben?«

»Zur Übung,« sagte Beate einfach.

»So ... Sie lernen also Russisch?«

»Ja. Ist das ein Verbrechen?«

»Etwas Ähnliches, Madame ... Wenigstens in diesen Zeiten ...«

»Das verstehe ich nicht.«

Der Beamte zuckte die Achseln.

»Es muß um so verwunderlicher erscheinen, als Sie — nach diesem Brief zu urteilen — die Absicht haben, Rußland recht bald wieder zu verlassen!«

»Bei der ersten Gelegenheit, die sich mir bietet.«

»Das heißt — Sie wünschen nach Deutschland[S. 285] zurückzukehren,« sagte der Beamte, ohne Beate anzusehen.

»Ja,« sagte sie kurz und fest. Wenn ihr Leben davon abgehangen hätte — es wäre ihr unmöglich gewesen, »nein« zu antworten.

»Sie sind also deutsche Staatsangehörige?«

»Ja.«

»Mit einem deutschen Manne verheiratet?«

»Ja.«

Der Beamte machte eine Pause.

Dann wandte er sich Beate ganz zu und sah ihr mitten ins Gesicht.

»Darf ich um Ihren Paß bitten, Madame?« sagte er mit vollkommener Höflichkeit.

Beate öffnete ihre Tasche, die sie im Muff getragen hatte, und übergab ihm den Paß. In diesem Augenblick wußte sie, daß sie verloren war. Sie stand aufrecht und still.

Der Beamte prüfte den Paß, ohne daß sich in seinem Gesicht irgendeine Regung gezeigt hätte.

»Dieser Paß ist gefälscht?« fragte er.

»Es ist der Paß einer anderen,« antwortete Beate.

»Weiß Kyrill Iwanowitsch oder seine Mutter, daß Sie Deutsche sind?«

»Nein,« sagte Beate, ohne sich zu besinnen.

Der Beamte schob den Paß zu den übrigen Stücken der Akten.

[S. 286]

»Ich bedaure, Madame, durch Ihr Verhalten dazu gezwungen zu sein, Sie verhaften zu lassen,« sagte er höflich, aber sehr ernst.

Beate schluckte.

»Warum?« fragte sie dann. Sie fragte es fast nur, um Zeit zu gewinnen.

»Sie stehen unter dem dringenden Verdacht der Spionage ...«

»Das ist ein Irrtum,« sagte Beate still.

»Ich hoffe es um Ihretwillen, Madame,« antwortete der Beamte.

Er drückte auf einen Klingelknopf. Einer der Polizisten trat ein. Der Beamte sagte ihm nur zwei Worte. Der Polizist öffnete die Tür ...

Und Beate folgte ihm ...


[S. 287]

8

Nathan Löb hatte keinen Schlitten, aber er hatte einen Karren. Und er besaß keine Pferde, aber er besaß Freunde. Das kam auf eins heraus.

Er schickte seinen Sohn in den Hof hinunter; er mußte den Karren abladen, die Räder losschrauben und den Karren auf Kufen setzen. Das war eine Arbeit von zwanzig Minuten. Und Nathan Löb selber lief in der Nachbarschaft umher und fragte, wer ihm zwei Pferde leihen wollte. Da er ein ehrlicher Mann war, fügte er gleich hinzu, es sei sehr möglich, daß er die Pferde zu Tode jagen würde. Aber Nathan Löb stand im Rufe, zwei Pferde recht gut ersetzen zu können. Er bekam sie.

Er sagte keinem Menschen, wohin er fahren wollte. Er dachte: was einer nicht weiß, das verrät er nicht. Als er die Stadt hinter sich hatte, hieb er auf die Gäule ein, daß sie den Schlittenkarren hinter sich dreinrissen, als säße ihnen der Satan im Genick. Sie hatten es nicht allzu schwer. Sie liefen auf der Spur eines anderen Schlittens, der die gleiche Richtung hielt. Und dem Mann,[S. 288] der diesen Schlitten gelenkt hatte, mußte es auch nicht auf das Leben oder die Beine seiner Pferde angekommen sein. Der Schlitten hatte Sprünge gemacht wie ein Ball ...

Als Nathan Löb beim Postmeister anlangte und Pferde von ihm forderte, sagte der Mann, er habe keine. Nathan Löb griff in die Tasche seines Kaftans und klimperte mit gutem Silber. Der Postmeister blieb dennoch bei seiner Behauptung. Nathan Löb sagte, er wolle die Pferde kaufen und ihm außerdem die anderen überlassen. Der Postmeister führte ihn in den Stall und zeigte ihm die Gäule, die er drin stehen hatte. Aber sie standen nicht, sie lagen. Ein Knecht rieb sie mit Strohwischen. Nathan Löb betrachtete sie, schüttelte den Kopf und ging hinaus. Nein, die konnte er nicht brauchen. Sie dampften noch von der letzten Fahrt. Und das war keine gute gewesen.

Die Frau des Postmeisters, die auf dem Ofen lag und ihr jüngstes Kind säugte, wollte wissen, was es denn drin in der Stadt gegeben habe ... Der Dmitri vom Gut sei dagewesen, habe die halbtoten Pferde ausgewechselt und sei wie verrückt gewesen. Was habe es denn gegeben, bei allen Heiligen —?

Nathan Löb blinzelte.

»Nu — was soll es gegeben haben —? Nichts ... Die Leute machten sich ein Späßchen[S. 289] ... Warum sollen sie sich nicht ein Späßchen machen bei den ernsten Zeiten, so gut sie es verstehen? — Hübsche Kinderchen hast du, Mütterchen, unberufen — und gesunde Kinderchen ... Hundert Jahre sollst du werden und hundert Enkel haben, Mütterchen ... Gute Nacht ...«

Die Postmeisterin zog ihr Jüngstes fester an sich und seufzte. Sie stützte den Ellbogen auf und legte das Gesicht in ihre flache Hand. Dann hustete sie .... Es war Winter. Und der Winter pflegte sehr lange zu dauern ... Nun, man mußte Geduld haben ... Einmal nahm alles ein Ende ...

Nathan Löb fuhr weiter ...

Zwanzig Werst hinter dem Postmeisterhause, etwa auf halbem Wege zum Gut, lag ein dunkler Klumpen im Schnee. Das war der Schlitten von Dmitri. Er war umgefallen und halb im Schnee versunken. Dmitri hatte die Pferde ausgesträngt. Das eine stand mit hängendem Kopfe, und der Wind blies ihm die lange Mähne um Hals und Augen. Das andere lag am Boden; es war tot. Der Schlag hatte es getroffen. Unter seinen Nüstern fletschten die ganz entblößten Zähne. Der Schaum an den Lefzen war zu Eis geworden.

Mit triefendem Gesicht arbeitete Dmitri, um den Schlitten wieder aufzurichten. Er wandte sich, wischte sich den Schweiß aus den Augen und winkte.

[S. 290]

»Jude, hilf mir und gib mir deine Pferde!«

Nathan Löb betrachtete sich das Bild. Er schüttelte den Kopf.

»Warum soll ich dir geben meine Pferde, daß du mir die fährst auch noch kaput?« fragte er. »Wenn du willst fahren aufs Gut, Dmitri, komm auf meinen Karren. Wirst du fahren e bissel langsamer, aber sicherer mit dem alten Juden. Wenn mer hat Eile, is e totes Pferd nix nutz. Oder biste gefahren wie meschugge, bloß um dich selber zu bringen in Sicherheit —?«

Dmitri sagte nichts. Er spannte das ledige Pferd neben dem ersten des Juden ein, kletterte auf den Karren und griff nach den Zügeln. Aber Nathan Löb schüttelte den Kopf und hielt sie fest. Dmitri ließ ihn gewähren. Er merkte sehr bald, daß der Jude die Gäule nicht schonte. Als sie auf dem Gute anlangten, war es zehn Uhr.

Lisa Petulikowa schlief noch nicht. Sie wartete auf ihre Pflegerin. Es war noch niemals vorgekommen, daß Kate Mathew länger als vier Stunden in der Stadt geblieben wäre, ohne auf irgendeinem Wege Nachricht zu schicken, daß sie aufgehalten worden sei. Kyrill Iwanowitsch hatte alle Welt angerufen — niemand wußte etwas. Mit einem Male hatte das Amt keine Antwort mehr gegeben, was die Unruhe und Besorgtheit noch gesteigert hatte.

[S. 291]

Kyrill Iwanowitsch war im Begriff gewesen, den nächsten besten Ackergaul zu nehmen, um nach der Stadt zu reiten und nach Beate zu suchen. Aber Lisa Petulikowa lag ihm mit ihrer krampfhaften Furcht vor dem Alleinbleiben vor den Füßen. Sie traute keinem Menschen außer ihm, Kate Mathew und Dmitri. Wenn alle sie zu gleicher Zeit verließen, würde sie verrückt werden vor Angst.

Also blieb er.

Das Zimmer Beatens war das einzige, von dem aus man nach der Landstraße blicken konnte, die zur Stadt führte. Kyrill Petulikow hatte es noch nie betreten. Jetzt schlich er um die Türe herum wie ein Verfluchter um die Kirchentür. Und endlich drückte er die Klinke nieder.

Das Zimmer war unverschlossen. Kate Mathew hatte keine Geheimnisse, die man mit Schlüsseln sichern konnte. Die warme Dunkelheit und der Duft des Menschen, der es bewohnte, gab ihm etwas von der Lebendigkeit des Menschen selbst. Die drei kleinen Fenster glotzten bleich und in ihrer Dreiheit gespenstisch wie die Augen eines Märchenwesens.

Kyrill Petulikow drückte den Kopf an die kühle, gleichgültige Scheibe. Er war sehr hilflos, weil er schweigsam sein mußte. Er starrte die Straße an, als sei sie verantwortlich für das, was auf ihr entlang kommen mußte — und endlich auch kam.

[S. 292]

Mit zwei Pferden war Dmitri fortgefahren; mit dreien kam er zurück. Kyrill Petulikow war sehr geneigt, diesen unvermuteten Zuwachs des Reichtums für ein böses Zeichen zu halten. Für sein Wesen war das Unvermutete und Unvorhergesehene auch immer das Unglückbringende.

Er lief quer durch das ganze Haus; Lisa Petulikowa öffnete ihre Türe; ein Lichtschein fiel auf die ersten Treppenstufen; die anderen verloren sich im Dämmer des Lämpchens vor dem bunten Heiligenbild.

»Kyrill —! Kyrill, wohin läufst du so —?«

»Sie kommen!« antwortete Kyrill Petulikow. Er riß seinen Hut vom Nagel und zerrte an den Riegeln der mächtigen Haustür. Lisa Petulikowa beugte sich über das Treppengeländer.

»So nimm doch den Pelz, Kyrill!« rief sie. »Willst du dir den Tod holen —? Was willst du mit dem Hut anfangen? Der Wind bläst ihn dir fort, ehe du ans Tor gekommen bist ... Um der Heiligen willen, Kyrill, laß dir den Pelz bringen! Es ist dein Ende, wenn du so hinausgehst —!«

Kyrill rüttelte an der Türe, die er nicht öffnen konnte, weil die Riegel seinen unruhigen Händen widerstanden.

Die Stimme Lisa Petulikowas jammerte fort; hinter ihrer breiten Gestalt tanzte das Licht ihres Zimmers.

[S. 293]

»Sprich nicht zu mir, hörst du —!« schrie Kyrill Petulikow in einer plötzlichen Wildheit. Er sah seine Mutter mit einem Blick an, der sie von ihrem Posten verscheuchte. Knirschend riß er an dem trägen Eisen, das endlich nachgab. Die Türe flog auf. Im gleichen Augenblick, da Kyrill Petulikow auf den Hof hinauslief und der Schneewind ihm den Atem nahm und den Hut vom Kopfe fegte, läuteten die Schlittenglocken unter der Einfahrt in das Gut.

Kyrills Augen bohrten sich in die Dunkelheit. Er unterschied zwei Gestalten auf einem Gefährt, das nicht das seine war, und keine davon war eine Frau.

»Dmitri —!!«

Niemals in seinem Leben hatte der Diener seinen Herrn in Wut gesehen. Er hatte sich aus den Decken des Karrens befreit und war von seinem Sitz gesprungen, bevor Nathan Löb die Pferde zum Stehen bringen konnte.

Jetzt fiel er mitten im Schnee auf die Knie.

»Herr, — Herr, ich kann nichts dafür —! Bei der Seele meiner toten Mutter — ich kann nichts ...«

»Wo hast du die Frau gelassen —?!«

Kyrill Petulikow stand vor ihm, barhäuptig, Dampf vor dem Munde. Er schüttelte den Diener an beiden Schultern, wie ein starker Hund ein Wild schüttelt.

[S. 294]

»Wo hast du die Frau gelassen — du ...?!«

»Ich kann nichts dafür, Herr! — Ich kann nichts dafür —!«

»Wofür kannst du nichts! Willst du reden? — Wofür kannst du nichts —?!«

»Ich kann nichts dafür, Herr — bei meiner armen Seele! — Ich kann nichts dafür!«

Kyrill Petulikow ließ ihn los. Dmitri fiel ganz in sich zusammen und lag, ohne sich zu rühren, im Schnee, den Kopf zwischen die Hände drückend, als erwarte er einen Hieb ins Genick. Ratlos und in erbitterter Verzweiflung blickte Kyrill Petulikow auf das Bündel Menschheit zu seinen Füßen nieder, das der Schreck um jeden Rest seines Verstandes gebracht zu haben schien.

Ein vorsichtiger Finger rührte ihn an.

»Wollen wir nicht gehen ins Haus, Herr?« fragte Nathan Löb zuredend. »Es nützt nichts, daß Sie schlagen Ihren Diener zu Brei ... sind andere, die müßten zerschlagen werden, da drin in der Stadt ... Muß noch vieles geschehen in dieser Nacht, Herr, wenn es nicht sein soll zu spät ... Hat Dmitri gemeint, Eile sei das Beste ... Hat er gefahren ein Pferd zu Tode. Hat er es gut gemeint — nu ... kann er dafür, daß er war allein und wußte nicht zu helfen sich selbst und der Herrin?«

»Wo ist sie?« fragte Kyrill Petulikow. Er hatte nichts von allem gehört, was der Jude[S. 295] sagte. Er hatte nur begriffen, daß der Jude etwas von dem wußte, was geschehen war — vielleicht auch alles. Er fragte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, die vom Schweiße troff: »Wo ist sie —? Weißt du, wo sie ist —?«

»Gehen wir ins Haus, Herr!« bat der Jude und zerrte an Dmitri, der noch immer wie ein Sack am Boden lag. »Willst du aufstehen, alter Bursche —? Wird dich der Herr nicht fressen, weil du ein Narr gewesen bist! Steh auf — he!«

Dmitri rührte sich nicht. Der Jude zuckte die Achseln und wandte sich ab. Kyrill war ins Haus gegangen; er wartete, in der Türe stehend, auf Nathan Löb. Als sie verschwunden waren, taumelte Dmitri von den Knien auf, klopfte sich den Schnee vom Leibe und rieb sich den Schädel. Und dann fing er die Pferde ein und brachte sie in den Stall. Aber er tat alles, als sei er betrunken. Als er fertig war, fiel er ins Stroh zwischen die Hufe der Pferde, die zu müde waren, um zu fressen. Und so schlief er ein. Denn Dmitri war über siebzig Jahre alt, und das Leben hatte ihm das Mark aus den Knochen gesogen. Er schnarchte mit offenem Munde.

Nathan Löb hatte die Haustüre hinter sich geschlossen.

»Wo ist die Frau ...?« fragte Kyrill Petulikow. Er stand mit dem Rücken gegen den Tisch im[S. 296] Flur gelehnt und stemmte die Hände rückwärts auf die Platte.

»Müßt' ich lügen, Herr, wenn ich wollte sagen, ich wüßte, wo sie ist,« antwortete der Jude und hob die Hände. »Aber ich hab' gesehen mit meinen eigenen Augen, wie sie ist worden verhaftet und fortgeführt ...«

»Was sagst du —?« murmelte Kyrill Petulikow und beugte sich vor.

»Ich sag' die Wahrheit, Herr — Gott soll mir helfen!«

»Sie ist verhaftet worden —?«

»Verhaftet, Herr!«

»Aber warum — warum! — im Namen Gottes?!«

»Nu, Herr — warum wird mer verhaftet in Rußland? Gott behüte, der alte Nathan Löb will nichts gesagt haben! — Aber warum wird mer verhaftet aus heiterem Himmel als e anständiger und feiner Mensch —? Wenn mer hat e Herz für die Armen, für die Juden, die se haben ausgeräuchert, die Henker ... wollen Se verzeihen, Herr ... und für die Deutschen, denen se haben eingeschmissen die Fenster und die Türen, denen se haben angezunden die Dächer über den Köpfen, denen se haben gegossen das brennende Öl über die feinen guten Stoffe und haben e mächtiges Feuer angerichtet und hineingeschmissen alles, was hat werden können zu Asche ... Se[S. 297] haben können sparen für de ganze Nacht de Straßenbeleuchtung von der halben Stadt, Herr, wahrhaftig ...«

»Wo ist die Frau —?« fragte Kyrill Petulikow mit einer gewaltsamen Drehung seines Nackens. Er glaubte den Dunst des Brandes zu riechen, der schwelend aufstieg von der fernen Stadt.

»Nu, Herr ... ich hab' se gesehen, wie se gekommen is und hat gestanden neben der Frau, der se wollten das Kind wegnehmen — wozu? Um se zu machen gefügig für die Herren ... Ich hab' se gleich gekannt — is se doch gewesen freundlich zu mir und zu Rebekka, dem alten Trödler Nathan Löb seiner Frau, und zu Rahelche, meiner Tochter, die der Herr mit Krankheit geschlagen hat seit ihrem fünften Jahr ... Is se doch gekommen oft genug zu dem alten Nathan Löb und hat gekauft — schöne Sachen, feine Sachen, Herr — für e Spottpreis — weil se is freundlich gewesen zu meinem Rahelche ... hab' ich se gleich wiedergekannt, wie se sich hat geworfen über die Frau, die der Kerl hat von sich weggeschleudert wie 'nen Sack, weil se hat verteidigt ihr Kind, ihr kleines ... ›Du Feigling!‹ hat se gesagt, was is e deutsches Wort für en Lumpenkerl — ›Du Feigling —!‹ Und hat gedeckt mit ihrem Leibe die Frau, die gelegen hat im Dreck auf der Straße ... Is der Nathan Löb[S. 298] e alter Mann geworden und hat doch nie gesehen soviel Verachtung und Mut und hat noch nie gehört soviel Haß, wie is gewesen in den Augen und in der Stimme von der Frau, die immer freundlich und sanft gesprochen hat zu Rebekka, meiner Frau, und zu Rahelche, meiner kranken Tochter ...«

Der alte Nathan Löb hob beide Hände, zu Fäusten geballt, und rüttelte sie gegen einen Unsichtbaren in großer Begeisterung.

»So hat se gemacht, die Frau — und ›Du Feigling!‹ hat se gesagt ... Es is geworden förmlich e schönes Wort, wie se das gesagt hat ...«

»Und dann?« fragte Kyrill Petulikow; die Lippen blieben ihm offen stehen.

»Nu — hat der alte Nathan Löb gedacht ... Es is e mutige Frau, aber e unvorsichtige Frau ... hat se gemacht gemeinsame Sache mit den Deutschen ... hat se Deutsch gesprochen ... ›Du Feigling!‹ hat se gesagt ... Das wird ihr kosten den Kragen, wenn se wird erkannt als e Deutsche. Und der alte Nathan Löb hat versucht, zu machen glauben die Leut', daß die Frau is e reiche, feine Russin, die aus Mitleid sich annimmt der deutschen Weiber und Kinder ... Aber es is gewesen ze spät ... Es sind gekommen zwei Kerle, die haben verhaftet die Frau und haben se fortgeführt ...«

»Wohin —?«

[S. 299]

»Zum — Pristaw, Herr ...«

Der alte Nathan Löb sprach das Wort nur zögernd aus. Kyrill Petulikow starrte ihn an.

»Du weißt noch mehr ...?«

»Ja, Herr ... Ich bin ihr nachgegangen ... hab' gewartet am Tor — e halbe Stund — dann is se wiedergekommen ... zwischen zwei Polizisten is se gegangen ... die haben se weitergeschafft — nach dem Gefängnis ...«

Kyrill Petulikow erwiderte nichts. Er machte eine schwerfällige Bewegung zur Seite hin. Da stand ein Stuhl am Tisch. In den ließ er sich fallen. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und legte den Kopf in die verschränkten Hände. Sein weiches dunkles Haar fiel über seine Finger ...

Oben am Treppengeländer erschien die träge Gestalt von Lisa Petulikowa. Ihr bleiches, ein wenig gedunsenes Gesicht beugte sich aus dem Dunkel vor; sie lauschte mit offenen Lippen.

Nathan Löb wartete eine Weile. Er trat von einem Fuß auf den anderen und zermürbte die alte Pelzmütze zwischen seinen knochigen Händen.

»Herr,« fing er schließlich wieder an, »Se haben gescholten den Dmitri, weil er hat den Kopf verloren und is davongefahren ohne die Frau ... Ich hab' ihn gefragt: Dmitri, alter Esel, warum bist du davongefahren ohne die[S. 300] Frau, wo du hast wissen müssen, se wird kommen in Gefahr und wo's is gewesen deine Pflicht, se zu behüten vor Schaden. Er weiß nix, was is vorgegangen, in seinem dummen Schädel. Er is gefahren wie besessen und hat wollen melden, was is geschehen, auf dem Gut ... Dmitri, alter Esel, hab' ich gefragt, warum hast du nicht einfach angerufen den Herrn? — Hat er gesagt, er weiß nicht Bescheid mit den neumodischen Erfindungen ... Nu, Dmitri, hab' ich gesagt, wollen wir hoffen, daß wir kriegen frei die junge Frau — sonst geht's um deinen Kopf, weil der Herr wird sehr böse sein auf dich ... Aber Herr — es wird nicht gut, was der Dmitri hat schlecht gemacht, wenn wir sitzen hier und legen den Kopf in die Hände ... Wir müssen etwas tun mit unsere zwei Händ' für die junge Frau ... noch in dieser Nacht, Herr ... Sonst bringen sie se fort — nach Moskau oder weiter ... weil es heißt, se hat gehabt en falschen Paß und hat getrieben Spionage für die Deutschen ...«

Kyrill Petulikow stand auf und ging im Treppenhaus hin und her, mit tief gesenktem Kopfe, als suche er den Weg zur Rettung in den weißen, knirschenden Sandkörnern unter seinen Füßen.

Lisa Petulikowa schlich die Treppe hinab bis zu der Biegung, wo das Heiligenbild hing.

»Was sagt der Jude?« murmelte sie mit ihrem kurzen Atem.

[S. 301]

Kyrill Petulikow blieb stehen. Er sah seine Mutter an, gab aber keine Antwort. Nathan Löb bückte sich bis zur Erde. Er zog sich nach der Tür zurück.

»Nun, Kyrill ...«

»Sie ist verhaftet worden,« sagte Kyrill Petulikow.

»Verhaftet — wer ...«

»Sie — Kate Mathew ...«

»Kate Mathew —? Warum, um der Heiligen willen —?!«

Kyrill Petulikow sah seiner Mutter in das bleiche, schlaffe, ein wenig gedunsene Gesicht. Vielleicht kam ihm für einen Augenblick der Gedanke, sich mit allem, was er fühlte, mit allem, was nun zu einer Tat werden mußte, der Frau anzuvertrauen, die seine Mutter war. Und vielleicht hätte Lisa Petulikowa, die trotz ihrer Trägheit und Eigensucht gutmütig und leicht zu rühren war, die Probe bestanden. Aber Kyrill Petulikow wagte die Probe nicht. Es stand zuviel auf dem Spiele, um es von der Laune einer kranken Frau abhängig zu machen. Und Kyrill Petulikow wußte auch, daß Frauen nicht immer gerecht sind, wenn es sich um eine Frau handelt.

»Mach dich fertig, Mutter,« sagte er mit einem plötzlichen Entschluß, »du mußt noch in dieser Nacht zur Stadt und weiter — mit dem nächsten Zug, der nach Moskau fährt ...«

[S. 302]

»Warum?«

»Du bist hier nicht sicher genug ... Es ist — es ist etwas vorgefallen, das mich fürchten läßt, man werde uns auch hier auf dem Gute belästigen ... Kate Mathew ist als Ausländerin erkannt und festgehalten worden ... Ich wünsche nicht, daß du in die Angelegenheit verwickelt wirst ... In Moskau, bei deiner Schwester, bist du davor sicher ... Du hast eine Schlittenfahrt vor dir, die ein wenig beschwerlich sein wird — und dann eine Reise — nun ja ... aber das ist das kleinere Übel — nicht wahr? Es wird mich beruhigen, wenn du in Sicherheit bist.«

»Und du — was willst du tun?«

»Ich komme dir nach, sobald ich kann.«

»Und Kate Mathew?«

Kyrill Petulikow zuckte die Achseln. »Ich werde den englischen Konsul benachrichtigen — mehr kann ich für sie nicht tun ... Es wird sich alles aufklären ...«

Lisa Petulikowa sagte nichts mehr. Sie stieg die Treppe wieder hinauf und rief nach ihrer Jungfer.

Nathan Löb machte ein schlaues und sehr zufriedenes Gesicht.

Kyrill Petulikow stand einen Augenblick, die Hand vor der Stirn; und sah ins Leere. Dann schien er mit sich im klaren zu sein. Das machte ihn still und gab ihm seine Sanftheit wieder.

[S. 303]

»Du wirst mit uns fahren,« sagte er zu dem Juden. »Und du wirst mir helfen, nicht wahr? — Weil die fremde Frau freundlich zu dir und deiner Frau und deiner kranken Tochter gewesen ist ...«

»Herr, wenn ich nicht helfen wollte mit allem, was der alte Nathan Löb vermag — wär' ich dann hergekommen?«

»Es ist gut,« sagte Kyrill Petulikow mit einem flüchtigen Lächeln. »Sag dem Dmitri, er soll die Pferde einspannen ... Sie werden müde sein; aber das hilft nichts. Wir werden sie wechseln und ihre Hälse in acht nehmen ... Nun geh ...«

Nathan Löb zog sich die Pelzmütze über die Ohren und ging. Er mußte wacker schreien, bevor er den schnarchenden Dmitri wach bekam. Der kratzte sich den Pferdemist, in dem er gelegen hatte, aus den Haaren und machte sich wortlos daran, den Befehl seines Herrn auszuführen. Hätte er ein besseres Gewissen gehabt, so würde er sich wahrscheinlich geweigert haben, die Pferde noch einmal in die Nacht hinauszujagen. So aber schwieg er. Nathan Löb schleppte alles Stroh, dessen er habhaft werden konnte, zusammen und polsterte den Karren damit aus. Er wünschte, daß Lisa Petulikowa möglichst wenig Grund zu Klagen haben sollte, denn er hoffte, dann würde sie auch wenig fragen.

Kyrill Iwanowitsch nahm alles Geld, das[S. 304] er im Hause hatte, legte einen Teil für Lisa Petulikowa beiseite und steckte das übrige zu sich. Er wußte, er würde es brauchen. Obgleich er sich beeilte, das Notwendige erwog und tat und nichts vergaß, war über seinem Gang und seinen Händen etwas von dem Wesenlosen einer Maschine. Er war wie ein Mensch, der weiß, daß er wach ist, und hofft, daß er träumt — er überlegte jeden Schritt der nächsten zehn Stunden mit dem heimlichen Gedanken: Vielleicht habe ich ihn nicht nötig. Und sein Verstand sprach über diese Gedanken fort: Dies und noch viel mehr ...

Zuletzt ging er in das Zimmer, das Kate Mathew bewohnt hatte. Er nahm alles, was er an beschriebenen Papieren fand, ihr Ausgabenbuch, den kleinen Kalender, auf dem sie sich Notizen gemacht hatte — selbst das Löschpapier ihrer Schreibmappe. Er machte ein Bündel daraus, das er verschnürte und versiegelte und mit sich nahm. Als er an der Türe stand, sah er sich noch einmal in dem weiten und niedrigen Raume um, neigte sich, als stünde er vor Lebendigem, löschte das Licht und schloß die Türe hinter sich.

Er ging die Treppe hinunter und rief nach Lisa Petulikowa. Es war nicht mehr weit von Mitternacht, aber niemand vom Gesinde hatte sich schlafen gelegt. Die Mädchen drängten sich im Winkel der Treppe zusammen. Sie fürchteten[S. 305] sich und schienen darauf zu warten, daß jemand sie beruhigte. Aber keiner dachte daran. Die Älteste betete ununterbrochen, ohne zu wissen, was sie sagte. Als Lisa Petulikowa aus ihrem Zimmer trat und, fast unkenntlich in ihren Pelzen, mit Augen, die von der Überstürzung aufgerissen und blöde zugleich erschienen, die Stufen herunterkam, brachen die Mädchen grundlos und dennoch einmütig in ein jämmerliches Geheul aus.

»Ja, ja, meine Kinder,« stammelte Lisa Petulikowa, mehr erschreckt als gerührt, mit einem Blick auf ihren Sohn, der schon wartend an der Türe stand, »ja — weint nicht ... Warum weint ihr? Ich fahre nach Moskau ... was weiter? Seid nicht närrisch, meine Kinder ...«

Aber nun fand sie selbst, daß sie bejammernswert sei, und weinte heftig. Die Gebete der ältesten Dienerin wurden fast zu Beschwörungen. Die Grundlosigkeit und Heftigkeit dieses Jammers gab dem Abschied Lisa Petulikowas ein Gewicht, als sei er nur die Vorbereitung zu wahrhaftem Unheil, das gewiß kommen würde. Nur Wassilissa, die Jungfer, hatte blanke, freche Augen. Sie freute sich auf Moskau, das bei Gott ein lustigerer Aufenthalt war als dieser Kuhstall zwischen Feldern und Wald.

Sie war die einzige, die mit leichtem Herzen in die Nacht hineinsah.

[S. 306]

An den Köpfen der Pferde stand Dmitri und schien bereit, vor seinem Herrn abermals auf die Knie zu fallen.

»Laß, laß —!« sagte Kyrill Petulikow. »Höre, was ich dir sage, Dmitri ... Es ist sehr ernst und wichtig, und du wirst gut aufpassen, verstehst du ...«

»Ich will ewig verflucht sein, Herr ...«

»Laß das — höre! Du wirst wach bleiben während der ganzen Nacht. Du wirst an der Türe sitzen und warten, ob ich wiederkomme. Und wenn du mich rufen hörst, öffnest du die Türe und wirst tun, was ich dir sagen werde, ohne dich einen Atem lang zu besinnen ... Wenn aber nach mir — noch in dieser Nacht oder morgen früh — ein Mensch kommt und fragt dich nach dem, was in dieser Nacht geschehen ist, so hast du geschlafen und weder gehört noch gesehen, was vorgefallen ist. Du wirst sagen, Lisa Petulikowa und ich seien fortgereist, doch du wüßtest nicht wohin und noch weniger, wann wir wiederkämen ... Hast du mich verstanden?«

»Ja, Herr.«

Drei Minuten später fuhren sie davon. Lisa Petulikowa, ihr Sohn und der Jude. Kyrill hörte noch, wie Dmitri die Haustür schloß und die Riegel vorschob. Er wußte, daß das Haus in Flammen aufgehen konnte, aber Dmitri würde auch dann seinen Posten nicht verlassen.

[S. 307]

Wassilissa, die zu den Füßen ihrer Herrin im Stroh kauerte, schlief ...

Kyrill Petulikow spürte den Wind in seinem Gesicht. Er kam von Westen und roch nach Schnee.

Kyrill Petulikow dachte an die Frau, um derentwillen er diese Fahrt unternahm.

»Sie wird wissen, daß ich alles für sie tun werde, was ein Mensch tun kann,« ging es ihm durch den Kopf. »Darum wird sie mutig sein und warten ...«

Der Gedanke machte ihn ruhig. Aber er irrte sich. Beate Hoyermann wartete nicht auf ihn ... Und sie war auch nicht mutig.

Sie war es gewesen; ja. Sie hatte sich bei dem ersten Verhör, dem man sie unterzog, ganz aufrecht gehalten bis zum letzten Augenblick. Auch als sie merkte, daß sie verloren war. Auch als sie das sicher wußte.

Sie hatte sich von den Polizisten fortführen lassen und nicht den geringsten Widerstand geleistet, als der eine ihr die Faust zwischen die Schultern stieß: »Vorwärts, deutsches Schwein — soll ich dir Beine machen?«

Sie war still geblieben, als man sie durch die Straßen schleppte und das Volk, das von der Plünderung der deutschen Läden, dem Feuer und ihrer Beute, von dem Rausch der Nacht und Grausamkeit noch trunken war, auf sie aufmerksam[S. 308] wurde, ihr nachzulaufen begann und seine Wut und seine Freude johlend über sie ergoß.

Es war nicht bei Worten geblieben, freilich, nein ... Sie hatten wissen wollen, warum man die Frau ins Gefängnis führte. Nikolai Sontscheff hatte sein Licht leuchten lassen. Noch etwas zerkratzt von seinem Kampf mit dem stärkeren Gegner, stieg er auf den Vorsprung eines Kellerfensters, schwang die Arme durch die Luft und brüllte ...

»Das, teure Freunde, war eine deutsche Bestie, die das heilige Rußland an seine Feinde verriet. Eine Spionin, Herzensbrüder —! Die Geliebte eines Großfürsten, die in einer Nacht das Einkommen von zwei Ministern verspielte — eine von denen, die schuld daran waren, daß das Volk hungerte —! Hört ihr wohl, sie hat Papiere gestohlen! Festungspläne hat sie gestohlen und an die Deutschen ausgeliefert —! Sie hat sich eingeschlichen und Rußlands Gastfreundschaft mißbraucht —! Sie hält es mit den Juden und liefert ihnen kleine Christenkinder ans Messer —! Betet zu allen Heiligen, daß man sie aufhängt an einem doppelten Strick, der ganz gewiß nicht reißt —! Hängen soll sie, die Bestie!«

Nikolai Sontscheff war so betrunken, daß er sich zwischen jedem Satz seiner geifernden Wut erbrach. Schließlich verlor er das Gleichgewicht auf seinem erhöhten Standpunkt, stolperte und[S. 309] fiel vornüber. Niemand kümmerte sich um ihn. Er blieb im Schnee und Schlamm liegen und schluchzte in herzzerreißendem Mitleid mit sich selbst. Endlich schlief er ein. Einer seiner guten Bekannten hatte nur auf diesen Augenblick gewartet, um sich in voller Ruhe über ihn herzumachen und ihm die Taschen auszuleeren. Er hatte ein gutes Ergebnis, denn Nikolai Sontscheff war bei der Plünderung eifrig tätig gewesen ...

Kein Mensch hatte ein Wort von dem geglaubt, was der Betrunkene über die verhaftete Frau an Unflätigkeiten ausgeschüttet hatte. Aber seine Rede war doch ein willkommener Anlaß gewesen, schmutzige Klumpen harten Schnees von der Straße aufzuraffen und sie der Frau, die einen Pelz und einen Schleier trug, an den Kopf zu werfen. Die Polizisten, die sie führten, ließen das Volk gewähren, bis ein ungeschickt gezieltes Wurfgeschoß dem einen die Mütze vom Schädel schlug. Mit einem Fluch wandte sich der Getroffene gegen die Nachdrängenden; — sie wichen zurück. Sie begnügten sich damit, der Verhafteten das Geleite zu geben, bis das Gefängnistor sich hinter ihr schloß.

Mit einer wunderlichen krampfartigen Neugier hatte Beate ihre Umgebung betrachtet. Das Grausen, das sie aus hundert russischen Schilderungen zorniger oder entsagender Dichter[S. 310] von den Gefängnissen des Zarenreiches in sich hinein gelesen, stellte sich noch nicht ein. Sie war sich noch nicht klar geworden, in welcher Lage sie sich befand. Noch schien alles ein Scherz zu sein — ein schlechter und roher Scherz vielleicht ... Aber kein Ernst — o nein ... Sie würde eine Nacht hier zubringen müssen; man würde sie abermals verhören und sich davon überzeugen, daß sie wahrhaftig keine Spionin sei — und dann würde man sie wegschicken ... Ob Dmitri freilich so lange warten würde —?

Armer Bursche ...

Sie hatte noch Zeit, an ihn zu denken, fast mit einem Lächeln. Aber nicht lange mehr.

Man brachte sie in ein Zimmer, das von der Hitze zu bersten schien. An dem Tisch in der Mitte, unter einer blakenden Petroleumlampe, saßen ein paar Kerle, die Schnaps auswürfelten. Beim Eintreten Beatens wandten sie nur die Köpfe, ohne sich unterbrechen zu lassen.

Einer der Polizisten wollte Bericht erstatten; aber der älteste der Kerle fuhr ihm entgegen.

»Schweig, Hundesohn —! Hat dir einer zu reden erlaubt?«

Die Polizisten zogen sich nach der Tür zurück. Beate blieb mitten in dem freien Raum zwischen Tür und Tisch stehen. Noch war kein eigentlicher Schrecken in ihrem stillen Gesicht. Sie wandte den Kopf mit einer langsamen und zaghaften[S. 311] Bewegung, wie manchmal Tiere sie haben, die lange im Dunkeln waren und jäh ins Lichte gebracht werden. Sie war sehr müde, und die stinkende Hitze des niedrigen Zimmers legte sich ihr wie ein schnürendes Band um die Stirn.

»Ich bitte Sie um Verzeihung, meine Herren,« sagte sie, und ihre Stimme klang in der großen Erschöpfung so hoch wie die eines Kindes und ganz verschleiert, »würden Sie mir gestatten, daß ich mich setze?«

Keiner der Männer gab eine Antwort.

Was den Schmähungen und Mißhandlungen des Pöbels nicht gelungen war, das gelang der gleichgültigen Unfreundlichkeit. Beate fühlte, daß es nicht mehr lange dauern konnte, dann würden ihre Nerven nachgeben und sie selbst in Tränen ausbrechen. Sie senkte den Kopf und biß sich auf die Lippen. Sie dachte an ihren Mann. »Wenn du da wärst!« — und: »Gut, daß du mich so nicht siehst ...« Der Jammer ihrer Verlassenheit würgte sie in körperlichem Schmerz an der Kehle. Sie legte die Hände ineinander, als wollte sie sich an sich selbst festhalten.

Endlich, nach mehr als einer halben Stunde, waren die Kerle mit ihrem Spiel zu Ende, warfen die Karten zusammen und rückten die Stühle vom Tisch. Der eine, der Beate gerade gegenübersaß, stand auf und trat auf sie zu.

»Hast du Geld?« fragte er.

[S. 312]

»Ja,« antwortete sie.

»Gib es her.«

Sie öffnete ihre kleine Tasche und nahm alles Geld heraus, das sie besaß. Es waren vielleicht achtzig Rubel.

Der Russe zählte die Summe, blies über die Lippen und steckte das Geld ein.

»Das ist nicht genug,« sagte er. Seine Kameraden lachten dröhnend. Beate blickte von einem zum anderen. Sie verstand nichts.

»Ich habe nicht mehr,« meinte sie sanft.

»Du hast wohl mehr ...«

»Nein ...«

Der Mann ging auf eine Tür im Hintergrund des Zimmers zu, stieß sie auf und brüllte: »Nastaßja —!«

Ein Frauenzimmer erschien, bei deren Anblick Beate unwillkürlich fror. Sie hatte anscheinend geschlafen; das Haar hing ihr in die Augen. Sie keuchte, denn sie war unförmlich dick. Auf der linken Seite ihres roten Gesichts war ein blauunterlaufenes Mal, das sehr vermutlich von einer Schlägerei herrührte. Wenn dem so war, so hatte ihr Gegner den Hieb zu bereuen gehabt, denn es war durchaus unwahrscheinlich, daß dieses Weib in einem Zweikampf unterliegen konnte, den sie nicht mit einem Ringkämpfer von Beruf unternahm.

»Nastaßja, meine Taube,« sagte der Mann,[S. 313] der sie gerufen hatte, »verzeih, daß ich deinen Schlummer störte, aber es gibt zu tun. Nimm das Weib in deine Obhut und sieh nach, ob sie wirklich nicht mehr als die paar Rubelchen in der Tasche hat, wie sie behauptet ... Aber sieh gut nach, hörst du?«

Das Weib sah Beate an; sie fuhr sich mit der Zunge über die dicken Lippen.

»Komm her,« sagte sie.

Beate folgte ihr. Sie hatte das Gefühl, daß sie ihre Kräfte noch zu ganz anderen Dingen brauchen würde, und wollte sie nicht verschwenden in zwecklosem Widerstand. Die Türe schloß sich hinter ihr und der Frau.

»Gib dein Geld her,« sagte das Weib.

»Ich habe nichts mehr, Mütterchen,« antwortete Beate. Ihre Stimme rief.

Das Weib sah sie an. Sie murrte etwas und zog die Augen zusammen. Beate rang mit der fürchterlichen Übelkeit, die der Dunst des Zimmers, in dem sie sich befand, in ihr erweckte.

»Es nützt nichts, wenn du lügst,« sagte das Weib. »Ich werde dich durchsuchen, und das sehr genau. Waska läßt nicht mit sich spaßen, wahrhaftig ...«

Und sie griff nach dem Mantel ihrer Gefangenen.

Das Entsetzen, das Beate durchfuhr, als sie[S. 314] die rohen Hände an ihrem Leibe fühlte, machte sie schlau.

»Mütterchen,« sagte sie und bückte sich, um im Nebenzimmer nicht gehört zu werden, »ich schwöre dir, ich habe kein Geld bei mir ... Ich habe alles dem Manne gegeben, den du Waska nennst. Ich habe nicht eine Kopeke mehr in meiner Tasche noch sonst Geld versteckt oder eingenäht ... Aber ich habe ein wenig Schmuck ... nicht viel — doch immer noch mehr an Wert als die Rubel, die Waska bekommen hat. Wenn du mich nicht durchsuchen willst, so will ich ihn dir schenken — dir allein. Waska braucht nichts davon zu erfahren, verstehst du ... Wenn du mich durchsuchst, wirst du den Schmuck auch bekommen, aber ich werde dann Waska sagen, daß du ihn hast, und dann wirst du teilen oder ihn ganz hergeben müssen ... Nun, was willst du tun?«

Das Weib drückte die Lider zusammen und verzog den Mund.

»Gib her,« sagte sie unterdrückt.

»Wache an der Tür,« flüsterte Beate.

Das Weib gehorchte. Die Gier hatte sie gepackt.

Beate nahm ihren Trauring und schob ihn mit einer krampfhaften Bewegung tief in ihr dichtes Haar. Dann zog sie ihre anderen Ringe ab, löste ihre Schmucknadel und die feine goldene[S. 315] Kette vom Halse, legte die Uhr auf den Tisch und streckte die nackten Hände vor sich hin.

»Ich bin fertig,« sagte sie, tief atemholend.

Das Weib überschaute ihre Beute, raffte sie mit der Schnelligkeit der Diebin zusammen und schob sie in das Stroh ihres Bettes.

Sie stieß die Türe auf und sagte verdrossen: »Sie hat nichts, die Hündin ...«

Beate lehnte sich einen Augenblick gegen den Türpfosten; dann ging sie weiter und stand vor den Männern still.

»Schafft sie weg,« befahl Waska mit einem Fluch. Die Polizisten nahmen Beate in die Mitte; sie verließen das Zimmer und schritten durch Gänge und Gänge über Treppen und winzige Höfe, Luftschächten gleich, in ein abseits liegendes Gebäude hinein. Es hatte Fenster so groß wie zwei Hände, und sie waren vergittert.

»Was ist das?« flüsterte Beate mit einem versagenden Laut.

»Wart's ab,« sagte der eine ihrer Wächter. »Du wirst es noch zeitig genug erfahren.«

Er donnerte mit dem Absatz an eine Tür.

»He —! Schläfst du, Lumpenkerl? Mach auf, es gibt etwas Neues!«

Die Türe ging auf. Ein Licht flackerte in einem schmalen und schmutzigen Gang. Ein Mann stand auf der Schwelle. Er trug Uniform[S. 316] und Mütze. Hinter ihm an der Wand lehnte sein Gewehr. Er war sehr verschlafen.

»O zum Teufel, Bruder, warum kommst du mitten in der Nacht? Es wäre besser gewesen, du hättest das Frauenzimmer laufen lassen, anstatt mir Scherereien und Arbeit zu machen ...«

»Halt's Maul, Freund, und mach deine beste Kammer auf. 's ist eine Spionin, die wir bringen ... eine deutsche Bestie, verstehst du? Gib acht, daß sie nicht entwischt, sonst gebe ich keine Kopeke für deinen Hals, Brüderchen ...«

»Wie soll sie entwischen?« brummte der Gefängniswärter. »Aus diesem Hause entwischt keine Ratte, sei gewiß, Brüderchen ... Ich passe auf ... Ich werde mir ein Liedchen singen, um munter zu bleiben ... Nun, vorwärts, deutsches Vieh — kriech in deinen Stall — pascholl!«

Beate taumelte vorwärts — in ein dunkles Loch hinein, das völlig leer zu sein schien bis auf ein wenig Stroh, das sie unter den Füßen fühlte. Unwillkürlich blieb sie regungslos stehen, als sich die Türe hinter ihr geschlossen hatte und die Stimmen ihrer Wächter nur noch gedämpft zu ihr hereindrangen. Sie hatte so viele Schrecknisse durchgemacht an diesem Tage und in dieser Nacht, daß sie vor jedem Schritt bebte, den sie zu gehen gezwungen war. Sie hätte sich nicht gewundert, wenn in der Mitte dieser Gefängniszelle ein Loch gewesen wäre, in das man sie[S. 317] stürzen lassen wollte, um sie loszusein und nichts von ihrem Verbleib zu wissen.

Minutenlang stand sie so, die gespreizten Hände ein wenig von sich abhaltend. Sie hatte Angst — eine wahnsinnige Angst, deren sie nicht Herr werden konnte. Die Dunkelheit des Lochs, in dem sie steckte, und die todestraurige Bleichheit der Nacht, die durch das Fenster hoch über ihrem Kopfe schimmerte und nur dazu gemacht schien, die Dunkelheit noch trostloser zu gestalten — die Stille, die fast einen Körper gewann und zu wachsen schien, je länger sie währte, die sich auf sie heranwälzte und unendlich langsam und unendlich sicher ihr die Luft zum Atmen abschnürte — der Gestank, der in dem Gefängnisloch herrschte und förmlich in Wolken zu ihr aufstieg ... alles das vereinigte sich zu einem Schrecknis, dem ihre höchstgespannte Kraft zu erliegen drohte. Sie zitterte vom Kopf bis zu den Füßen. Über ihre Lippen kam ein wimmernder Laut, vor dem sie selbst erschrak. Sie bedeckte sich den Mund mit ihren Händen und stand ganz still, mit vorgebeugtem Kopfe.

Hinter ihrer Türe rührte sich etwas — ein Schritt ... Der Wächter ...

Er summte vor sich hin.

Jetzt hörte sie, wie er sein Gewehr aufnahm und die Patronenkammer füllte ...

Es war also Ernst — vollkommener Ernst ...

[S. 318]

Gott — großer Gott im Himmel ... Das war ja Wahnsinn ... sie hatte ja nichts getan, das auch nur im entferntesten den Verdacht gerechtfertigt hätte, um dessentwillen sie hier war. Warum hatte sie sich nicht gewehrt? Warum hatte sie nicht zu entkommen versucht — warum war sie mitgegangen wie ein Stück Schlachtvieh —?

Es konnte noch nicht zu spät sein! Sie mußte doch mit irgendeinem Menschen reden können, den sie aufklären konnte ... Man konnte sie doch nicht ins Gefängnis werfen, ohne sie verurteilt zu haben — und verurteilen konnte man sie nicht, denn sie war ja nicht schuldig ...

Sie hörte vor ihrer Türe das gleichmäßige und gelassene Auf und Ab des Postenschrittes; der Mann summte noch immer vor sich hin. Er hatte eine hübsche, weiche russische Stimme und sang ein kleines Volkslied; Beate kannte die Worte gut. Aber sie entsetzte sich vor ihnen in dieser Umgebung ...

Unwillkürlich wich sie von der Türe zurück und tastete mit der vorgestreckten Hand an der Mauer hin, ob sie vielleicht auf eine Bank stoßen würde, um einmal für Sekunden auszuruhen ...

Plötzlich zuckte ihre Hand zurück.

Es war etwas über ihre Finger gelaufen ... Eine Spinne? ... Sie schleuderte das Unsichtbare von den Fingern ... Aber es war noch da ...[S. 319] Es kroch nicht, nein, es rieselte gleichsam über ihre Haut ...

Sie streifte mit der rechten Hand über ihre linke ... Sie fühlte ... das war keine Spinne, das war überhaupt nicht ein Tier — das war eine Heerschar von gleitenden, behenden und unentwegten Geschöpfen ... Sie spürte das rasche Rieseln an ihrem Halse; etwas brannte sie — ein Tropfen Gift ... Sie schlug sich mit beiden Händen nach der Kehle ...

Da kam ihr ein Geruch in die Nase ...

Und im gleichen Augenblick schrie sie auf, gellend, kreischend, wie von allen Teufeln der Hölle gepackt — schlug mit Armen und Händen um sich und schrie und fühlte, wie unter ihren Kleidern, an ihren Haaren, in ihrem Gesicht — bis in ihre Augen hinein das Brennen, Rinnen — der höllische Gestank von ihr Besitz ergriff ...

Wanzen ...

Und da war der Mut der Beate Hoyermann zu Ende. Sie fiel auf die Knie in den Kot des faulenden Strohs, das auf dem Boden der Zelle verstreut lag, und schlug mit beiden Fäusten gegen die Türe ihres Gefängnisses. Sie schrie nicht mehr mit offenem Munde, denn die Wanzen waren ihr über die Lippen gekrochen, und sie hatte sie auf der Zunge gespürt. Sie schrie mit geschlossenen Zähnen wie ein gefangenes Raubtier, dem man die Zähne verschnürt hat — schrie,[S. 320] daß ihr das Blut aus der Nase sprang — schlug sich die Fäuste wund an der summenden Türe.

Aber der Wächter hörte sie nicht, denn er wollte sie nicht hören ... O, er kannte das — so schrien die meisten, die man dort hineinbrachte in die hübschen kleinen Zellen des Gefängnisses. So donnerten die meisten mit den Fäusten gegen die Tür; aber die Türen waren verläßlich, die hielten fest, auch wenn die Aufgeregtesten statt der Fäuste die Absätze nahmen. Wenn sie heiser wurden, hörten sie schon auf zu schreien, und wenn sie sich müde getobt hatten, dann ließen sie auch die Türen in Ruh. In der zweiten Nacht pflegten sie bereits viel vernünftiger zu sein. Man mußte ein wenig Geduld mit ihnen haben ...

Der Wächter summte sanftmütig weiter ...

Aber bei Gott, die deutsche Bestie trieb es arg ... Er mußte sie doch wohl ein wenig zum Schweigen bringen, sonst brachte sie das ganze Haus in Aufruhr ...

»Willst du still sein, du —?!«

Er stieß den Gewehrkolben gegen die Zellentür, daß sie dröhnte. Aber die da drin war nicht still, sie rüttelte mit aller Kraft an den Bohlen und röchelte dazwischen — als spräche sie mit geschlossenen Zähnen, so sonderbar klang's —: »Mach auf —! Mach auf —!«

[S. 321]

»He, mein Täubchen, das werde ich bleiben lassen ... Es steht eine strenge Strafe darauf, wenn man sich mit den Gefangenen einläßt — und du scheinst mir eine ganz Gefährliche zu sein, Ljuba, meine Liebe ... Geduld, Geduld — auch diese Nacht geht vorbei ... Morgen wird man sehen, was mit dir geschehen muß ...«

Beate konnte ihre Hände nicht mehr rühren. Sie konnte auch nicht mehr rufen, nicht einmal mehr röcheln. Sie lag vor der Schwelle der unerbittlichen Türe und brannte am ganzen Leibe in einem fressenden Feuer des Ekels — in einem Entsetzen, das keine Worte und fast keine Gedanken mehr hatte. Sie fuhr sich mit den Händen, an denen die Wanzen in Trauben hingen, nach dem Gesicht und streifte sich das beißende stinkende Gezücht von der Stirn, von den Wangen, von der Kehle — sie fühlte sich mit Blasen bedeckt wie mit Brandwunden, und ihr Bewußtsein ging unter in einer so grenzenlosen Verzweiflung, daß sie zu fühlen glaubte, wie ihr Verstand sich zerrüttete. Dann schlug sie mit der Stirn gegen die Türe ... Nur ein Ende machen ... ein Ende machen ... ganz gleich, welches — nur ein Ende ...

Als sie mit voller Wucht, in der irrsinnigen Hoffnung, sich den Schädel einzuschlagen, den Kopf gegen die Türe hämmerte, fiel ihr Trauring[S. 322] aus ihrem Haar und mattklingend vor ihr auf den Boden.

Mein Gott, mein Gott, den hatte sie vergessen ...

Nun suchte sie ihn und fand ihn, hob ihn mit einem jämmerlichen Wimmern auf und rieb ihn mit einem Zipfel ihres Kleides. Sie lallte etwas, das ganz Zärtlichkeit und Verzweiflung war, und suchte, worin sie den Ring verbergen konnte, um ihn nicht vom Schleim des stinkenden Ungeziefers besudeln zu lassen. Schließlich barg sie ihn in ihrem Munde.

Sie dachte an ihren Mann. Sie nannte sich seinen Namen, wie ein Ertrinkender nach einem Seile greift. Sie kauerte sich in der Ecke neben der Türe zusammen und fiel in einen Zustand, der zwischen völligem Stumpfsinn und heulenden Ausbrüchen ihrer Verzweiflung hin und her schwankte; schließlich überließ sie sich, ohne mit einem Finger Widerstand zu leisten, den gierigen, vergiftenden, zerfressenden Angriffen des Ungeziefers. Sie hoffte sehr, zu sterben. Sie war so ganz ohne Kraft und Willen, daß man sie hätte abschlachten können; sie würde sich nicht gewehrt haben ...

Der Kopf sank ihr auf die Brust ...

Und plötzlich hob sie ihn wieder.

Sie hatte etwas gehört — nicht die Schritte des Postens — nicht sein Summen noch das[S. 323] dumpfe Aufstoßen seines Gewehrkolbens auf dem Gange. Sie hatte eine Stimme gehört ... Die Stimme kannte sie ...

Sie richtete sich mühsam auf; die Knie gehorchten ihr nicht. Ihre Hände, ihre Füße waren verbrannt von der Fäulnis, in der sie gelegen hatten ...

Die Stimme vor ihrer Türe sprach mit dem Posten — ein anderer redete dazwischen — das war Waska ...

»Da hast du dein Geld, Hundesohn — scher dich zum Henker!« zischte er.

»Du wirst dich um deinen Hals bringen, Brüderchen,« murmelte der Posten halb betrübt.

»Schuft, was geht dich mein Hals an? Kümmre dich um den deinen und mach dich fort!«

Stille. Tritte, die sich entfernten ...

Und wieder eine Stimme: »Die Schlüssel? — Wo hast du die Schlüssel —?!«

»Geduld, Geduld — ich werde doch die Schlüssel nicht vergessen haben —! Hier hast du sie, Herr ...«

Ein Kreischen im Schloß der Zellentür; ein Spalt, der sich öffnete; ein Lichtschein, der dünn und scheu in das Dunkel des Zellenloches leuchtete; eine Stimme, die rief, als würde sie erwürgt: »Mascha —!«

Beate taumelte vorwärts, in den Lichtstrahl hinein; er fiel auf ihr Gesicht.

[S. 324]

Der Mann an der Türe, der die Lampe hielt, schrie beinahe auf: »Jesus — um Gottes willen!!« Und wollte nach ihr greifen. Aber sie wich vor ihm zurück, schüttelte sich, streckte beide Arme zur Abwehr aus ...

»Rühren Sie mich nicht an! Seien Sie barmherzig — rühren Sie mich nicht an —«

Kyrill Petulikow warf einen Blick auf den Menschen neben sich; der zuckte die Achseln: »Was willst du, Herr? Es ist nun einmal nicht anders bei uns ... Die Wanzen sind mächtiger als wir ... Niemand kann etwas gegen sie ausrichten ...«

Kyrill Petulikow stieß die Türe weit auf, daß sie zur Mauer zurückflog.

»Kommen Sie,« sagte er.

Beate taumelte an ihm vorbei, durch die Zellentür, durch die Haustür, hinaus in den Hof, in dem der Schnee fußhoch lag. Und sie warf sich in den Schnee und wälzte sich darin — sprang auf und schüttelte sich und fiel wieder im Schnee zusammen ... griff mit beiden Händen in das lockere Weiß und wusch sich das besudelte Gesicht, tauchte die Hände, die Arme hinein — hob den Schnee zu ihrem Halse.

Kyrill Petulikow bückte sich zu ihr.

»Mascha, Mascha —! Wir haben keine Zeit zu verlieren —! Stehen Sie auf —!«

Sie gehorchte. Doch als er sie beim Arm nehmen wollte, wich sie wieder zurück.

[S. 325]

»Das nicht!« sagte sie. »Das nicht ...«

»Wir müssen weiter, Mascha — Jesus Christus, wir können in jeder Minute verloren sein ...«

»Gehen Sie ... ich folge Ihnen. Aber rühren Sie mich nicht an —!«

Kyrill Petulikow wandte sich um. Waska trat ihm in den Weg. Er streckte die Hand aus.

»Herr, mein Geld —?«

»Du wirst es bekommen, wenn wir in Sicherheit sind, nicht eine Minute eher. Geh voran!«

Waska lächelte schlau. Er nickte und ging. Es schien ihm ein guter Gedanke gekommen zu sein.

Kyrill Petulikow und Beate folgten ihm auf den Fersen. Sie begegneten niemand. Es war zwischen zwei und drei Uhr morgens.

Sie kamen auf die Straße, in der das Gefängnis lag. An der nächsten Ecke hielt ein Schlitten. Ein Mann, bis über die Ohren eingehüllt und unkenntlich, hielt die Pferde fest. Beate stieg ein; der Mann rührte sich nicht. Kyrill Petulikow bückte sich zu ihm und flüsterte etwas. Der Mann nickte und setzte sich neben Beate. Er hob ihr die Pelzdecken um Knie und Hüften. Seine Hände waren ungeschickt vor Kälte oder Aufregung.

Kyrill Petulikow nahm die Zügel auf und setzte sich zurecht. In dem gleichen Augenblick,[S. 326] da er den Pferden die Nagajka über die Rücken jagte, richtete der Mann im Schlitten sich auf und schleuderte Waska ein schmales Bündel vor die Füße.

»Tausend Rubel für dich, Brüderchen — weil du ein braver Schurke bist —!«

Waska bückte sich ... Die Pferde gingen in wildestem Galopp. Der Schlitten bog um die Ecke — das Gefängnis verschwand.

Und der kleine Mann im Schlitten beugte sich vor und suchte die Hände der Frau, die mit klirrenden Zähnen neben ihm saß, und lachte ...

»Was wird sich freuen Rahelche, mein Kind, und die Rebekka, meine Frau, daß ich ihnen bringe mitten in der Nacht so e feinen und hochgeehrten Besuch ...!«

»Nathan Löb?« murmelte Beate. Sie war wie betäubt.

»Der alte Nathan Löb aus der Jüdengass', ja —! Und der alte Nathan Löb hat viel erleben müssen an Schlimmem und Gutem in beinah sechzig Jahr' ... Aber ihm will scheinen: daß er hat helfen dürfen herauszuholen die gnädige Frau aus dem Hundeloch, dem Gefängnis ... das ist doch von seinem ganzen Leben das Beste gewesen ...«

Beate antwortete nicht. Es ging ein ganz verwirrtes Lächeln über ihr Gesicht. Sie nahm den Ring — ihren Trauring — und schob ihn[S. 327] wieder an seinen rechten Platz. Es ging nicht so leicht. Ihre Finger waren gequollen und wund, mit Blasen bedeckt.

Beate holte zitternd Atem. Und dann schluchzte sie, den Kopf in die Hände legend, ganz haltlos, im Jammer aller Erkenntnis dessen, was hinter ihr lag ...

Der alte Nathan Löb schüttelte den Kopf und seufzte.

»Es is e lumpige Welt,« murmelte er und rückte an seiner Mütze, »e Welt, als ob se wär' gemacht von e Menschen ... und der wär' gewesen meschugge ...«


[S. 328]

9

Rebekka und das Rahelche hatten nicht viel Zeit gehabt, sich über den feinen Besuch zu freuen, den Nathan Löb ihnen zwischen Mitternacht und Hahnenschrei ins Haus brachte.

Kaum eine Stunde waren sie geblieben; Beate warf ihre Kleider, ihre Wäsche von sich, als seien sie aus den Nesseln des Märchens gewebt, und wusch sich das Haar, um sich dann vors offene Feuer zu setzen, um es zu trocknen. Rebekka Löb, die mit solchen Sachen gut Bescheid wußte, nahm den Pelz der gnädigen Frau und ihre Mütze und steckte beides in den Backofen, unter dem sie ein Höllenfeuer anschürte. Zuletzt wurden die ausgeglühten Stücke einem Schneebad unterzogen, geklopft und gefettet und tadellos befunden. Es bedurfte einiger Mühe, Beate, trotz aller selbstbeobachteten Gewaltmaßregeln, von der Tadellosigkeit ihres Eigentums zu überzeugen.

Kyrill redete ihr zu. Und er tat es mit einem so eigentümlichen Gesicht, daß Beate schließlich dachte, er müsse seine guten Gründe haben.[S. 329] Vielleicht traute er den Pelzen, die Nathan und Rebekka eilfertig herbeischleppten, auch nicht ganz, obgleich sie in keinem russischen Gefängnis gewesen waren. Aber es gab schließlich noch andere Liebhaber ... hm ...

Nathan Löb hatte im Auftrag von Kyrill Petulikow mitten in der Nacht zwei sehr gute Schlitten und sämtliche Pferde aufgekauft, die Simon Asser, sein Freund, vorrätig hatte. Es waren zehn. Mit den Pferden und Schlitten fuhren Nathan und sein Sohn durch die Stadt voraus, bis auf die freie Straße, die nach dem Gute Kyrill Petulikows führte. Dort sollten sie auf ihn und Beate warten.

Beate wand sich die noch feuchten Zöpfe um den Kopf und zog die Pelzmütze darüber.

Von Rahelche aufs liebevollste ausstaffiert und unter den Schwüren der Mutter, daß ihre Kleider und Pelze jetzt schöner und sauberer seien, als sie gewesen, da sie neu waren, kleidete sie sich an und war fertig, als Kyrill an die Türe klopfte.

»Mascha — es ist die höchste Zeit ...«

»Ich bin bereit, Kyrill Iwanowitsch ...«

Es waren die ersten Worte, die Beate mit freier Stimme zu ihm sprach, seit sie das Gefängnis verlassen hatte.

»Nehmen Sie gut Abschied von Rebekka und Ihrer kleinen kranken Freundin,« sagte Kyrill[S. 330] Petulikow vom Schlitten herunter. »Sie sehen sie nicht wieder ...«

Er sagte es mit einer gewissen Herbheit und Bitterkeit, die Beate nicht entgingen — aber sie fühlte, daß sie sich nicht gegen ihre Person richteten.

In völliger Dunkelheit waren sie angekommen und fuhren sie weiter. Die Stadt lag im bleiernen Schlaf, der der Trunkenheit folgt. Sie kamen an Brandstätten vorüber, die noch rauchten. Niemand kümmerte sich darum. Je mehr von den Judenlöchern niederbrannten, desto besser ...

Tausend Schritte hinter der Stadt hielten Nathan Löb und sein Sohn.

»Nathan, willst du dir fünfhundert Rubel verdienen?«

Der alte Jude blinzelte vergnügt.

»Nu, Herr — warum sollt' ich sagen nein —? E gutes Geschäft is e gutes Geschäft, und mer kann's brauchen ...«

»Dann fährst du mit deinem Sohne querab über die Felder, bis an den Wald, der die Grenze ist zwischen meinem Gut und dem von Wladimir Prontoff — du kennst ihn?«

»Werd' ich ihn nicht kennen ...! Hab' gemacht oft genug gute Geschäfte mit dem gnädigen Herrn von Prontoff ...«

»Und kennst auch den Wald — und wirst ihn finden ...?«

[S. 331]

»Der gnädige Herr kann sein ohne Sorge ... Wenn der alte Nathan Löb sagt, er kennt den Wald, dann findet er ihn auch ...«

»Gut, gut ... Dorthin also fährst du ... brauchst deine Gäule nicht zu überanstrengen ... Aber dort mußt du warten ... Vielleicht nur kurze Zeit — vielleicht eine Stunde — vielleicht auch noch länger ...«

»Wird der alte Nathan Löb warten, bis der gnädige Herr kommt und schickt ihn nach Hause.«

»Auf mich, Nathan, mußt du nicht warten,« sagte Kyrill Petulikow mit einem leisen Lächeln. »Es könnte sonst sein, daß du den Rest deiner Tage da am Walde zubringen müßtest. Nein ... Aber vielleicht schicke ich dir meine Leute zu — den Dmitri und die anderen ... Die nimmst du in deine Schlitten und fährst mit ihnen zu Wladimir Prontoff und sagst ihm, er möchte sie in seiner Obhut behalten, bis meine Mutter ihm Nachricht zugehen ließe — hast du mich verstanden?«

»Ja, Herr ...« sagte Nathan Löb etwas zögernd und sehr ernst. Er sah Kyrill Petulikow nachdenklich an und schien nicht zufrieden zu sein mit dem, was er gehört hatte.

»Dann leb wohl, alter, braver Freund — und du, Jakob, laß es dir gut gehen!«

Er drückte dem Vater und dem Sohne herzlich die Hand und reichte dem Alten die verheißenen[S. 332] fünfhundert Rubel. Aber Nathan Löb nahm sie nicht.

»Für e Spazierfahrt und e Stund', wo ich soll warten, nehm' ich kein Geld,« sagte er. »Und das Geld will mer nicht gefallen, Herr — nichts für ungut ...«

»Nimm's nur — nimm's für deine kranke Tochter.«

»Nu, Herr —«

Kyrill warf das Geld in den Schnee.

»Vorwärts, vorwärts —!«

Beate streckte ihre beiden Hände aus.

»Du wirst noch von mir hören, Nathan — du wirst noch von mir hören!« rief sie fast schluchzend.

Der alte Jude nickte und lachte.

»Wird mer sein e hohe Ehre und e Freid!« rief er zurück.

Sein Sohn stand still neben ihm. Die listigen und die schwermütigen Augen des Morgenlandes schauten der Frau nach, die sich zu ihnen umwandte, so lange sie konnte. Dann gab der alte Nathan Löb seinem Sohn einen Stoß.

»Gott der Gerechte, Jakob, was stehste da wie Lots Weib? Haste die Sprach' verloren?«

Der junge Jakob Löb antwortete seinem Vater nicht. Er ging zu seinen Pferden. Der alte Nathan schaute ihm kopfschüttelnd nach. Aber er fragte nicht weiter. Sie fuhren schweigsam davon ...

[S. 333]

Auch Kyrill und Beate schwiegen zunächst.

Noch immer war die Frau in einem Zustand halber Betäubung, der sich zum Unglauben gegen sich selbst steigerte, wenn sie dachte: Hier, auf dieser selben Straße, bin ich gestern gefahren — es ist noch keine vierundzwanzig — noch keine zwölf Stunden her — und was liegt dazwischen ... Und was soll nun noch kommen?

»Kyrill Iwanowitsch ...«

»Was wünschen Sie, Mascha ...«

»Warum reden Sie nicht zu mir?«

Der Russe zögerte mit der Antwort. Dann sagte er, mit dem gleichen bitteren und herben Ton, den sie schon einmal von ihm vernommen: »Ich schäme mich dessen, was Sie erleben mußten, Mascha — bei Gott, ich schäme mich dessen ...«

Sie verstand ihn recht gut.

»Ich weiß Unterschiede zu machen, Kyrill Iwanowitsch, und werde mich hüten, Ihr Vaterland nach seinen Gefängnissen und seinen Polizisten zu beurteilen ...«

»Alles in einem Lande ist ein Maßstab — im guten wie im schlechten,« antwortete der Russe. Beate schwieg.

Kyrill Petulikow wandte sich um, aber nicht nach ihr. Er sah die Straße zurück, die sie gekommen waren.

[S. 334]

»Schauen Sie nach den Juden aus?« fragte die Frau.

»Nein ...«

Er hieb auf die Pferde ein, zweimal — dreimal ... Der Schlitten sprang über Schneewellen und Straßenlöcher. Kyrill Petulikow hatte drei der Pferde vorgespannt — die anderen drei trabten frei nebenher.

»Kyrill Iwanowitsch!«

»Mascha —?«

»Ich wollte Sie fragen ... warum schicken Sie Ihre Leute vom Gut davon?«

Abermals wandte der Russe den Kopf über die Schulter. Und spähte ...

»Mag sein, daß es besser für sie ist ...«

»Das verstehe ich nicht, Kyrill ... Wollen Sie nicht offen mit mir reden?«

»Später, später ...«

Sie kamen an die Postmeisterei.

Kyrill Iwanowitsch sprang vom Schlitten und donnerte an die Haustür.

Ein Licht wurde hinter den trüben Scheiben angezündet. Der Postmeister kam; er hatte in den Kleidern geschlafen und glotzte verwundert, als er den gnädigen Herrn vom Gut erkannte.

»Hast du Pferde, Andrej Ljonotschka —?«

»Nein, Herr.«

»Du hast Pferde, gib sie her.«

[S. 335]

»Ich hab' keine zum Totfahren übrig, Herr — oder willst du sie tauschen?«

»Ich will sie weder totfahren noch tauschen — ich will sie kaufen, für mich, verstehst du, Andrej Ljonotschka.«

»Ich will sie nicht verkaufen — ich will sie eintauschen gegen zwei von den deinen, Herr, anders nicht ...«

»Kerl, du wirst mir die Pferde geben, die du im Stalle hast, oder ich zünde dir das Haus überm Kopfe an ... Vorwärts, bring sie her!«

Andrej Ljonotschka wehrte sich bis an die Grenze der Grobheit, aber Kyrill Petulikow blieb Sieger. Er holte sich die Pferde selber aus dem Stall, bezahlte sie um das Doppelte ihres Wertes und koppelte sie mit denen zusammen, die frei liefen.

Sie hatten vor der Postmeisterei eine Viertelstunde Aufenthalt gehabt. Während der ganzen Zeit hatte Beate das Schreien des kleinen Kindes gehört, und es hatte ihr weh getan. Sie suchte nach etwas, das sie ihm hätte schenken können. Aber sie besaß nichts mehr. Sie nahm das seidene Tuch, das sie um den Hals getragen, und gab es dem Manne, der verdrossen unter der Türe stand.

»Gib es deinem kleinen Kinde um, wenn es ins Freie geht,« sagte sie.

Andrej Ljonotschka bückte sich bis zur Erde.[S. 336] Er rief dem Schlitten seine Segenswünsche nach, bis er das Geläut der kleinen Glocken nicht mehr hörte.

Beate blickte nach ihm zurück.

»Was ist das, Kyrill Iwanowitsch?« sagte sie.

Er wandte den Kopf.

»Was — Mascha —?«

»Dort hinten — sehen Sie? Die kleinen schwarzen Punkte im Schnee ... Ist das Nathan Löb mit seinen Pferden?«

Kyrill Petulikow erwiderte nichts. Er peitschte auf die Pferde, daß sie sprangen. Der Schlitten tanzte wie ein Boot bei schwerer See — gerissen und geschleudert. Beate Hoyermann beugte sich vor zu dem Manne.

»Sind es Wölfe, Kyrill Iwanowitsch?«

»Wir haben hier keine Wölfe.«

»Wer ist dann hinter uns? — Und warum lassen Sie die Pferde so rasen? Das ist unbarmherzig, Kyrill Iwanowitsch!«

»Vorwärts, vorwärts, meine Schwalben!« schrie der Russe. Die Nagajka sauste durch die Luft.

»Kyrill — Kyrill Iwanowitsch —!«

»Vorwärts, vorwärts, meine Lieblinge — meine Falken —!«

»Kyrill« — Beate Hoyermann richtete sich auf, hielt sich mit der einen Hand krampfhaft fest und versuchte mit der anderen, dem Manne[S. 337] in den Arm zu fallen — »Kyrill, haben Sie den Verstand verloren —?!«

Keine Antwort. Kyrill Petulikow schlug auf die Gäule ein und rief ihnen zu. Sie galoppierten, daß ihre Hufe nicht mehr zu unterscheiden waren. In großen Flocken flog der Schaum von ihren Mäulern.

Beate rüttelte die Schulter des Mannes mit aller ihrer Kraft.

»Ich will jetzt wissen, was das bedeutet!« rief sie leidenschaftlich.

»Später, später, Mascha!«

»Jetzt auf der Stelle —! Ich bin kein Kind. Ich habe genug erlebt, um noch mehr ertragen zu können! Aber ich will wissen, um was es sich handelt!«

»Sind sie uns näher gekommen?«

Beate wandte sich um.

»Nein ... Nun sehe ich sie überhaupt nicht mehr ...«

»Wir haben die besseren Pferde,« murmelte Kyrill Petulikow.

»Die besseren — als wer?« fragte Beate zupackend.

»Als die Kosaken ...«

»Was gehen uns die Kosaken an, mein Gott!«

»Haben Sie vergessen, Mascha, daß Sie vor zwei Stunden noch eine politische Gefangene waren — der Spionage angeklagt?«

[S. 338]

»Nun —?!«

»Waska hat gute Freunde unter guten Reitern — und er wird ihnen nicht verschwiegen haben, daß hier vielleicht noch einmal ein fettes Trinkgeld zu holen wäre ... Das wollen sie sich nicht entgehen lassen ... Und ich habe sie erwartet. Warum soll ein Verräter nicht zweimal verraten — nach rechts und nach links? Er ist vielleicht mitten unter ihnen ...«

»Und —« Beate fiel im Schlitten auf die Knie ... »und wenn sie uns einholen?«

»Sie holen uns nicht ein ...«

»Vielleicht nicht unterwegs ... Aber wenn sie aufs Gut kommen?«

»Darum schicke ich die Leute fort ...«

»Und wir —?«

»Wir — wir werden nicht mehr auf dem Gute sein, wenn sie kommen.«

»Kyrill Petulikow, wohin wollen Sie mich bringen —?!«

Der Mann wandte den Kopf. Für einen Augenblick sahen sie sich ganz nahe in die Gesichter.

»Wohin ich Sie bringen will? — Nach Deutschland ...«

Beate stieß einen Schrei aus, den ihre eigenen Hände erstickten.

»Nicht scherzen, Kyrill Iwanowitsch —! Damit nicht —!«

[S. 339]

»Bei der Liebe Gottes, Mascha, meine Schwester — es ist kein Scherz!«

»Kein Scherz —? Ich soll ... ich soll nach Deutschland kommen?« Beate Hoyermann schluchzte auf; sie lachte, und die Tränen liefen über ihr Gesicht. »Ich soll nach Deutschland kommen?!«

»Wenn nicht ein Unglück geschieht, Mascha, ja — dann werden Sie nach Deutschland kommen!«

»Aber wann — mein Heiland im Himmel — wann —?«

»Heute noch — noch an diesem Morgen ...«

»Heu ...« das Wort erstarb ihr auf den Lippen. Sie richtete sich auf. »Verlangen Sie von mir, daß ich an Wunder glauben soll, Kyrill Iwanowitsch?«

»Es bedarf keines Wunders ... Sie brauchen dazu nichts als einen Freund und eigenen Mut ...«

»Mut habe ich.«

»Wirklich, Mascha? Unbedingten, tollkühnen, todverachtenden Mut —?«

»Allen Mut, den Sie wollen, wenn es sich darum handelt, nach Deutschland zu gelangen.«

»Das ist gut,« sagte Kyrill Petulikow. »Dann haben Sie auch den Freund, den Sie brauchen.«

»Sind Sie es, Kyrill Iwanowitsch?«

»Ja, meine Schwester ...«

Sie legte ihre Hände auf seine Schulter.[S. 340] »Ich glaube Ihnen,« sagte sie einfach. »Ich werde tun, was Sie von mir verlangen. Was haben Sie mit mir vor?«

»Vertrauen Sie mir Ihr Leben an?«

»Das tue ich.«

»Ohne sich zu besinnen?«

»Ohne mich zu besinnen.«

»Danke, Mascha ... Wenn mein Plan mißlingt, dann werden wir wenigstens beide nicht mit dem Leben davonkommen. Aber ich werde das Menschenmögliche tun. Ich werde Sie im Flugzeug mit mir nehmen, die deutsche Grenze zu überfliegen versuchen und Sie auf deutschem Boden landen ... Das ist alles ...«

»Kyrill — Kyrill!«

»Wollen Sie —?«

»Herr mein Gott — Herr mein Gott ...«

»Sie sagten eben, daß Sie mir Ihr Leben anvertrauten — und nun nehmen Sie Ihr Wort zurück ...«

»Nicht um meinetwillen, Kyrill Iwanowitsch! Bei Gott, nicht um meinetwillen! Es geht auch um Ihr Leben ...«

»Nun, was weiter?«

»Was weiter? — Und Ihre Mutter, Kyrill Iwanowitsch?«

Er lachte. »Meine Mutter ist in Moskau sehr in Sicherheit, Mascha, das dürfen Sie mir glauben ... Und wenn ich ein Unglück hätte,[S. 341] so wäre es das meine und nicht das meiner Mutter. Auch das dürfen Sie mir glauben ... Sprechen wir nicht mehr, Mascha! Achten wir auf den Weg ... Wir brauchen noch zehn Minuten ... Können Sie die Reiter hinter uns jetzt sehen?«

»Ja, ich sehe sie.«

»Sind sie uns nahe?«

»Sie sind so groß wie Krähen, Kyrill Iwanowitsch ...«

»Sie konnten keine frischen Pferde haben — das war gut,« sagte der Russe. Er ließ die seinen rasen, als sollten sie den Wind einholen, der über sie wegjagte — der von Westen kam. Weder er noch Beate sprachen mehr ein Wort. Und wenn er sprach, galt es den Pferden ... »Vorwärts, meine Falken, meine schnellen Falken ...!«

Ein schwarzer Fleck im Schnee, so tauchte das Gut vor ihnen auf. Noch unterschieden sie kein Licht.

»Mascha!«

»Kyrill Iwanowitsch?«

»Sehen Sie die Verfolger noch?«

»Sie sind näher gekommen ...«

»Wie nahe —?«

»Ich kann es nicht schätzen, Kyrill Iwanowitsch ... Sie sind so groß wie Füchse ...«

Der Russe stand auf. Im Stehen holte er aus und wirbelte die Nagajka um den Kopf.

[S. 342]

»Vorwärts, meine Falken, meine Tauben, vorwärts —!«

Die ersten Bäume des Dorfes — wie festgefrorene, entsetzte Gespenster, die sich am Wegrand reckten und vergebens einem Schrecknis zu entfliehen suchten ... vorüber ...

Die ersten Häuser, armselig, geduckt — die Fenster vom Schnee geblendet ... vorüber ...

Die elende Kirche — der Friedhof — vorüber ...

Die letzten Häuser — wieder freie Straße ...

Schwarz schob sich der Klumpen des Gutes gegen sie heran. Doch brannte ein Licht hinter den niedrigen Scheiben am Eingang. Das Tor stand offen; sie stoben in den Hof.

Kyrill Iwanowitsch wickelte die Leinen um seine Hand; er stieß einen gellenden Pfiff aus.

»Dmitri —!!«

Er stemmte sich rückwärts, als sollten seine Muskeln und Adern bersten. Die Pferde vor dem Schlitten stiegen kerzengerade und peitschten mit den Vorderhufen die Luft. Sie geiferten und knirschten; der Schweiß troff ihnen von den blanken Leibern ...

»Dmitri! Dmitri —!!«

Ein Schatten, gebückt und schwankend, glitt über die hellen Scheiben — verschwand. Die Riegel der Haustür kreischten. Der Schlüssel drehte sich, einmal, zweimal ... Licht fiel durch die sich öffnende Tür.

[S. 343]

Kyrill Iwanowitsch war vom Schlitten gesprungen und strängte die Pferde aus.

»Rufe die Leute zusammen — alle!« schrie er dem Diener zu. Dmitri wandte sich um. Er rief etwas ins Haus hinein und winkte. Kyrill Iwanowitsch trieb die frischen Gäule aus der Stadt vor dem Schlitten zusammen. »Komm her, — hilf mir —!«

Dmitri kam.

Im Handumdrehen war der Schlitten neu bespannt. Beate war ausgestiegen. Sie lehnte mit verhülltem Gesicht an der Hauswand. Sie hörte, was um sie her vorging, wie durch einen dicken Nebel. Kyrill Petulikow sprach.

»Hört mich gut an, ihr Leute ... Ihr nehmt den Schlitten — und die Pferde, die ledig sind — und laßt sie laufen, was ihre Beine hergeben, bis ihr an der Grenze des Waldes von Wladimir Prontoff auf den Juden Nathan Löb trefft. Der wird euch sagen, was ihr weiter zu tun habt. Aber eilt euch, als hinge euer Leben von eurer Eile ab! Und seht euch nicht um! Seht euch nicht um — hört ihr? Und wenn ihr es dennoch tut, bei Gott, bei den Heiligen, ich prügle den mit eigenen Händen wie einen Hund, der es wagen sollte, zurückzukommen —! Habt ihr mich verstanden?«

Gemurmel ringsum ... Flüstern ... hastige Schritte ... Die Glöckchen der Pferde klangen ...

[S. 344]

»Dmitri —!«

»Herr!«

»Du hast noch etwas gutzumachen, du weißt es!«

»Ja, Herr!«

»Du wirst der letzte sein, der geht ... Du wirst das Tor abschließen und verriegeln. Du wirst im Hause alles Licht brennen lassen, damit niemand auf den Gedanken kommt, es könnte verlassen sein — hörst du?«

»Ja, Herr.«

»Wenn ich selbst das Gut verlassen habe, wirst du es auch verlassen — fortgehen und dich nicht umschauen, hörst du?«

»Ja, Herr!«

»Jetzt sollst du mir helfen — komm!«

Kyrill Iwanowitsch ergriff Beate am Arm.

»Nun ist es Zeit, Mascha ...«

Sie leistete keinen Widerstand. Sie hörte die Hoftür sich in den Angeln drehen. Sie hörte den weichen Galopp von vielen Pferden, der jenseits des Gutes verklang. Dmitri lief an ihr vorbei, öffnete die Tür des Schuppens, an dem die Werkstatt lag.

Mit einer krampfigen Anstrengung blieb sie stehen und riß sich los. Sie machte eine Bewegung auf das Tor zu. Kyrill Iwanowitsch sprang ihr in den Weg.

»Was wollen Sie tun, Mascha!«

[S. 345]

Ihr Atem flog, daß sie kaum reden konnte.

»Ich will — ich will mich denen da draußen ausliefern.« Sie wehrte mit beiden Händen, als er reden wollte. »Lassen Sie mich sprechen, Kyrill Iwanowitsch! Sie haben das Unerhörteste für mich getan! Kein Bruder, kein Freund — mein eigener Mann nicht hätte mehr für mich tun können! Das — kann ich nicht von Ihnen annehmen! Der Flug, den Sie unternehmen wollen, ist das grausigste Spiel mit dem Tode, das ein Mensch sich ausdenken kann — grausiger als jedes andere, das Sie bisher gewagt haben! Ich will nicht die Veranlassung dazu sein — ich nicht, bei Gott!«

»Sie haben keinen Mut, Mascha — das ist es! Sie wagen den Flug nicht — das ist es!«

»Ich —! Ich wage ihn nicht —! Kyrill Iwanowitsch, ich will Ihnen etwas sagen! Als ich hierherkam, als ich Sie mit der Maschine arbeiten sah, als ich merkte, daß nichts zum Fliegen gehörte als die Kenntnis von zehn Griffen und Mut — faßte ich den Entschluß: wenn es mir auf keine andere Weise gelang, nach Deutschland zu fliehen, dann wollte ich Sie bitten, mich das Notwendige zu lehren ... Ich wäre mit Ihnen geflogen, dreimal — zehnmal — und eines Tages hätte ich den Flug allein gewagt — bei Gott, Kyrill Iwanowitsch, das hätte ich getan! Und ich hätte Ihnen einen Brief hinterlassen,[S. 346] der alles gesagt hätte, was nötig gewesen wäre, um mir Ihr Verstehen, Ihr Verzeihen zu sichern. Aber so nicht! So nicht —! Ich will für mich selbst mein Leben wagen und werde mich nicht einen Augenblick besinnen — aber nicht das Ihre, Kyrill Petulikow! Nicht das Ihre —!«

Er hatte ihre Hände gepackt und hielt sie fest. Sie hatte nicht gewußt, daß er so viel Kraft besaß. Er stand ganz dicht vor ihr.

»Nun hören Sie mich auch!« sagte er halblaut, und seine Stimme glühte. »Ich schwöre Ihnen bei dem, was mir das Heiligste auf der Welt ist, Mascha — bei Ihrem Haupte und bei Ihrem Leben! — daß ich mir in dem Augenblick, wo Sie Ihr Vorhaben, sich auszuliefern, ernstlich versuchen, eine Kugel durch den Kopf jage. Bei Ihrem Haupte und bei Ihrem Leben, Mascha! Es ist mein tödlichster Ernst —!«

»Wollen Sie mich unglücklich machen, Kyrill Iwanowitsch —?«

»Ich will Sie retten — das will ich! Ich will Sie in Sicherheit — ich will Sie nach Hause bringen — das will ich! Ich will — o, weit mehr als das, Mascha — auch für mich das Höchste und Größte, das ich gewinnen kann: das Bewußtsein einer Tat, die man vielleicht die eines Helden nennen kann — und was mehr wert ist als dies: die Tat eines guten Menschen ... Sie wissen, daß ich Sie liebe ... Sie[S. 347] fragen nichts danach — nun, du großer Gott, was kümmert es Sie auch —? Aber ich will, wenn wir beide am Leben bleiben, daß Sie an mich denken, Mascha, meine Schwester, daß Sie mit Achtung und Stolz an mich denken — das will ich! Nun entscheiden Sie sich!«

Beate schlug sich die Fäuste vor die Stirn. Ihre Augen suchten mit einer Art von Wildheit den wolkenschweren Himmel.

Aber der Himmel gab ihr keine Antwort.

»Es ist gut!« sagte sie und wandte sich nach dem Schuppen, an dessen Türe Dmitri wartend stand. »Wenn Sie ums Leben kommen, so werden Sie es wenigstens nicht allein ...«

Sie hatten keine Zeit mehr zu verlieren.

Auf der Dorfstraße fieberte der kurze Galopp kleiner, harter Pferde.

»Vorwärts, Herr — im Namen Gottes!« schrie Dmitri.

Kyrill Iwanowitsch warf der Frau alles zu, was die Werkstatt an Decken und Tüchern besaß. Er wickelte ihr selbst den Schal um die Ohren, ließ nichts als Nase und Augen frei. Durch die ungeschliffenen Gläser der Brille erschien alles sehr fremd und fern; sie war fast taub und hatte ein Gefühl, das dem sehr ähnlich war, wenn sie, tief unter stehendes Wasser tauchend, mit offenen Augen emporblickte.

Sie ließ sich zerren und schieben ...

[S. 348]

Die Rückwand des Schuppens, die nach dem freien Felde zu lag, war klaffend offen. Das bleiche Schneelicht war doppelt unwirklich und wie von unten, von der Erde her, durchleuchtet unter dem Himmel, den der wärmere Wind immer bräunlicher färbte. Die Schultern und Fäuste der beiden Männer stießen und schoben an dem stählernen Riesenflieger, dessen Flügel in grenzenloser Spannung erstarrt schienen. Sie schrien sich zu, die Männer — Beate sah es, aber sie hörte es nicht ...

Aber das hörte sie, daß jenseits des Hofes, vor dem Tor, Geschrei und Rufen sich erhob und wütende Tritte das Tor summen machten.

Auch Kyrill hatte es gehört. Er wandte das hochrote, schweißtriefende Gesicht Dmitri zu.

Er schrie etwas ...

Dmitri machte einen Sprung und riß Beate vorwärts.

»Hinauf —!«

Sie kletterte — vergaß sich zu bücken, rannte mit der Stirn gegen stählernes Gestäng, daß ihr der Kopf dröhnte — fiel auf einen schmalen Sitz.

Der Lärm vor dem Tore steigerte sich zum Geheul. Die Bohlen waren nicht von Eisen; sie mußten schließlich nachgeben, wenn Fäuste, Fußtritte und Kolbenstöße weiter gegen sie anstürmten.

Beate zitterte vor Erregung, daß ihr die[S. 349] Zähne gegeneinanderschlugen. Sie klammerte sich mit beiden Händen rechts und links am stählernen Leib der Maschine fest. Das Brüllen der Einlaßbegehrenden vor dem Tore wurde übertönt von dem jäh einsetzenden, tosenden Brummen des Motors. Kyrill Petulikow tauchte neben ihr auf; er hatte die Fliegerkappe über den Kopf gezogen. Sein Anzug triefte von Öl. Er streckte eine Hand aus und schrie Dmitri etwas zu. Beate hörte die Worte nicht, sie erriet ihren Sinn; er hatte nach dem Hofe gewiesen.

»Halte sie auf!« hießen Wort und Gebärde.

Dmitri fiel auf die Knie. Er bückte sich, raffte sich wieder auf.

Kyrill Petulikow schwang sich in den Führersitz. Er blickte vorwärts und rückwärts, seine griffsicheren Hände packten zu. Das Brummen des Motors legte sich wie eine Maske über die Ohren ... Beate schloß die Augen — riß sie wieder auf ...

Das tote Geschöpf hatte Leben bekommen.

Es rannte geradeaus, wie blind, nahezu wie wahnsinnig, holperte, stieß und sprang — die irrwitzige Angst eines Wesens, das von Feuer gepeitscht wird, lag über dieser hemmungslosen Vorwärtsbewegung ...

Aber mit einem Male hatte es sich auf sich[S. 350] selbst besonnen. Es löste sich von der Erde, deren Rauheit und spröde Gesetze nicht für ein Wesen solcher Art geschaffen waren. Es hob sich; es schwebte ...

Es flog mit der Kraft und dem weitausholenden Schwunge des Triumphes. Die Stimme des sausenden Stahls wurde zum Siegesgesang. Die Träume armer Jahrtausende warfen sich — unsterblich durch die Sehnsucht, deren Kinder sie waren — unter die breiten Schwingen des brausenden Menschengeschöpfs.

Beate wagte nicht, in die Tiefe zu blicken, deren Feindseligkeit gegen das beschwingte Wesen sie fühlte. Sie rang minutenlang mit dem schnürenden Gefühl tödlichster Übelkeit, das ihr den Magen und den Schlund zerwürgte. Der Schweiß brach ihr aus allen Poren. Sie preßte Zähne und Lippen übereinander und krallte sich die Nägel ins Fleisch. Mit einer ungeheuren Anstrengung gelang es ihr, den Aufruhr des Körpers und der Nerven zu überwinden. Tiefatmend öffnete sie die Augen.

Und nun empfand sie, daß sie flog ...

Sie blickte seitwärts in die Dunkelheit der Erde hinab, die unter ihnen wegzutaumeln schien — wie von einem ungeheuren Schlund eingesogen. Und sie bemerkte, daß sie weniger vorwärts kamen, nur daß sich die Flugmaschine in weiten Spiralen höher und höher schraubte ...

[S. 351]

Der dunkle Fleck im weißen Schneefeld unter ihnen — war das Gut?

Noch während sie es fragend dachte, gewann das Bild unter ihr eine fremde Farbe. Es rötete sich. Die bläuliche Bleichheit des Schnees schien wegzuschmelzen, als sei die Erde unter ihr in Brand geraten. Aber nicht die Erde brannte, sondern das Gut.

Beate Hoyermann wollte schreien: »Kyrill! Kyrill —!« Aber es wäre sinnlos gewesen; er hätte sie nicht gehört. Und dann — was hätte er tun können? Vielleicht sah er alles viel besser als sie, gewohnt, die Erde aus mehr als Berghöhe zu betrachten. Sie schwieg und starrte auf das rote Glosten unter sich. Die Lautlosigkeit des irdischen Geschehens unter ihnen war grausiger als das Brüllen der menschlichen Tiere, deren Tun sie gestern miterlebt.

Nun stiegen sie nicht mehr; mit einem Schwung stieß sich die Maschine in die Luft hinein, vorwärts — und nahm den Flug nach Westen.

Beate beugte den Kopf bis fast auf ihre Knie; sie konnte nicht atmen, so pfiff ihr der Wind entgegen, nicht fühlbar als etwas, das glitt und strich, sondern wie ein Brett — wie ein gepreßter Sack — unteilbar und unbeweglich. Sie fühlte eine Faust auf ihrem Kopf ... Sie hatte nicht gewußt, daß Wind wie schweres Wasser sein[S. 352] kann. Sie bückte sich, um nicht Widerstand leisten zu müssen; er hätte ihr die Halswirbel verdreht.

Aber nun, da sie sich bückte, schlug ihr der Öldunst stinkend entgegen ... sie rang sich wieder hoch ... das war unmöglich, unmöglich ... Sie hielt sich nicht mehr fest; sie nutzte die Hände, sich gegen den Wind zu schützen und hinter ihnen Atem zu holen. Sie fühlte die kleine Erleichterung wie ein Geschenk und gab sich ihr hin — aaah —!

Allmählich löste sich die Taubheit von allen Sinnen. Sie horchte auf das unentwegte brausende Brummen des Motors und gewann ein großes Vertrauen zu seiner Kraft und Ausdauer. Sie konnte ein sehr persönliches Verhältnis zu Maschinen gewinnen. Lokomotiven und Schiffsturbinen wurden ihr zu wesenhaften Dingen, mit denen man Zwiesprache halten konnte. Und sie tat es auch mit dem Motor, dem sausenden Herzen des Flugkörpers ...

Wirst du aushalten? Wirst du gehorsam sein bis zum Ende? Wirst du mir dienen und die Luft beherrschen? ... Die Maschine donnerte und heulte ein einziges erschütterndes Ja ...

Und Beate glaubte ihr.

Je ruhiger sie wurde, desto stärker wurde sie sich des Erlebnisses dieser Stunde bewußt. Sie schaute.

Da waren dunkle und lichte Flecken in der[S. 353] ungeheuren Leere des Raums vor ihr. Wolken? Sie rasten darauf zu ... Nun spülte es um sie her, wehende Nebel ... Nässe, eisige Kälte ... Was war das —? Sie bekam den Wind nicht mehr von vorn — seitwärts drückte er sich gegen sie an ... Der Apparat zitterte heftig, er schwankte ...

Die Todesangst krallte sich um das Herz der Frau; sie öffnete die Lippen zu einem Schrei des Entsetzens ... Aber sie hatte keinen Atem zum Schreien ... Sie klammerte die Hände um den federnden Stahl, der ihr als Stütze diente, schloß die Augen und überließ sich dem Sterben ...

War es nur das Gefühl ihrer Ohnmacht, der körperlichen Schwäche — oder war es Wirklichkeit, daß der riesige Stahlvogel um sich selbst gewirbelt wurde wie ein Stein, der in einen Strudel fällt —? Tanzte das donnernde, heulende Menschengeschöpf auf den schiefen Wänden dieses Luftwirbels den grausigen Todestanz —?

Das Flugzeug schwebte nicht mehr auf seinen weitgespannten Flügeln — es taumelte, es rollte wie ein schlechtgeladenes Schiff herüber, hinüber ... Wie die Saiten einer übergewaltigen Harfe summten und schwangen die Drähte ... Aber sie hielten — sie hielten sich gut ...

Und plötzlich ... sank es nicht, nein — es fiel, fiel wie ein Sack, lotrecht hinunter, als fiele[S. 354] es in einem luftleeren Raum ... Die Luft trug es nicht mehr — sie war gleichsam nicht mehr da ... nicht die Zeit noch die Tiefe dieses Fallens ließen sich messen ...

Beate hatte ein Gefühl, als sollte ihr der Sturz die Eingeweide aus dem Halse jagen. Sie biß die Zähne tief hinein in ihre Lippen; in eisigen Strömen rann ihr der Schweiß über das verzerrte Gesicht ... Sie dachte: Gott ist nicht in der Welt ... nirgends ist Gott ...

Und dann schwebten sie wieder.

Nach der gräßlichen Leerheit des Luftloches war es nun, als glitte das Flugzeug auf tragenden Wellen Wassers dahin ...

Triumphierend brüllte die Maschine ...

Beate brach in Tränen aus. Sie machte nicht die geringste Bewegung, sich diese Tränen abzuwischen — mochten sie laufen! Es war schön, zu weinen — es war wunderschön, ganz einfach loszuheulen ... Alles war schön — das Leben, das Atmen, das Fliegen ... Sogar die Kälte, der Wind und der Ölgestank waren schön ... Alles wirkte so unsagbar versöhnlich, zum Lächeln und Weinen lockend. Ja, mein Gott — Nathan Löb hatte Unrecht ... deine Welt ist ein herrliches Geschöpf ...

Eine Menschenstimme gröhlte hinter ihr ... Ja so, der Kyrill —! Der Kyrill Iwanowitsch Petulikow! Der sorgte sich um sie und wollte[S. 355] wissen, ob sie noch lebte! Keine Angst, du lieber, guter Kerl —! Ich lebe! Und ob ich lebe! Jauchzend, jauchzend lebe ich —! Hei —!

Sie winkte mit der Hand nach rückwärts. Sie verspürte eine sehr ausgeprägte Lust zum Singen. Aber es singt sich schlecht mit einem Wollschal von drei Meter Länge und entsprechender Breite rund um den Kopf gewickelt. Also ließ sie es bleiben. Sie würde noch Zeit zum Singen haben — noch viel, viel Zeit ... Wie alt war sie? Vierundzwanzig Jahre kaum — noch viele tausend Tage lang konnte sie singen ...

Wie lange flogen sie nun schon? Sie konnte die Zeit nicht raten. Und die Winternacht war unendlich lang ... Wo waren sie? Hatten sie sich trotz des wütenden Kampfes mit der Luft in gerader Richtung halten können? Flogen sie nach Westen, nach Deutschland — Herrgott in deiner blauen Höhe! — nach Deutschland zu —?!

Wieviel Kilometer durchrasten sie in einer Stunde? Würden sie unterwegs landen müssen, um Benzin zufassen — oder trug die Maschine Kyrill Iwanowitschs genug von ihrer Nahrung bei sich, um achthundert Kilometer zu überwinden?

Übrigens — Nahrung ... Es war schon eine gute Weile her, seit sie zum letzten Mal gegessen hatte. Das fiel ihr jetzt ein — keineswegs zur rechten Zeit, wie sie meinte. Aber zum Kuckuck, das fehlte noch, daß sie nicht einmal vierundzwanzig[S. 356] Stunden fasten konnte, wenn es nach Hause — nach Hause ging ...

Sie flogen so hoch, daß sie die Erde nicht erkennen konnte; sie waren über den Wolken, manchmal versanken sie ganz darin. Dann tauchten sie wieder auf und erblickten den reineren Himmel. Es war sehr viel stiller geworden. Die Heftigkeit des Windes flaute mehr und mehr ab; nur tief unter ihnen jagte er Schneelasten vor sich her; das war schön anzusehen ...

Alle Märchen aus Tausendundeine Nacht, alle erfüllten Sehnsüchte der Kindheit des Menschen drängten sich zusammen in diesem königlichen Schweben eines Geschöpfes aus stählernstem Stahl, von Menschen geschaffen. Beate beugte den Kopf zurück und sah in den Himmel hinauf, dessen bläuliche Schwärze alle Sterne verschluckt zu haben schien. Er war ganz lichtlos und unbeschreiblich ernst ...

Sieh mich nicht streng an, dachte Beate. Ich gehe nach Hause ... nach Hause ...

Mit einem Male weiteten sich ihre Augen. Was war das — was war das —?!

»Kyrill! Kyrill, was ist das —? Oh — oooh!«

Vor ihnen, über dem wallenden Ziehen der Schneewolken, erhob sich etwas — ein Berg? Ein Riesenfelsen —? Nein, nein, es hätte denn ein Wunder geschehen müssen, das den gewaltigsten[S. 357] Giganten des Himalaja hierhergezaubert hätte ... Noch schien es grenzenlos fern und füllte dennoch aufragend allen Raum zwischen Erde und Himmel. Es ruhte in unerschütterlicher, erhabenster Gelassenheit mit seiner Grundfläche tief unter den ziehenden Wolken und hob einen Gipfel — einen einzigen, doch war er von zackiger Krone gekrönt — in das verblassende Dunkelblau des Himmels hinauf.

Und dieser gekrönte Gipfel, der so weiß war wie die Brustfedern eines weißen Schwans, begann zu glühen — er wurde ganz Glut, goldenste Glut. Und über ihm der Himmel tönte sich lichter und lichter, bis er zu einer Kuppel wurde, die aus einem einzigen Türkis geschnitten schien. Von dem Gipfel des fernen Riesen floß das helle Glühen breit ausgegossen über seine Hänge, und Hunderte, Tausende von zarten Wolken lösten sich gleich einem Schwarm von Flamingos aus dem Meer der tiefer ziehenden, bis der stählerne Vogel unter dem Himmel aus Türkis in einem Lichte schwamm, das seinesgleichen auf der Welt nicht hatte, außer in der Farbe milder Rosen.

Die Sonne war aufgegangen und warf den Schatten des Flugzeugs in weichstem Blau über die durchglühten Wolken.

Der Schneeriese der Ferne löste sich auf und verschwand. Die Offenbarung der Schönheit[S. 358] zerstörte sich selbst. Das Flugzeug stieg abermals und suchte die höheren Höhen mit der Kraft und Sicherheit des Adlers.

Beate schloß die Augen und neigte den Kopf auf die Seite. Eine große Müdigkeit kam über sie; die Erschöpfung des Grauens, der Verzweiflung und der Angst des Fliehens hatte der süßeren und beinahe tieferen des Erlöstseins Platz gemacht. Das gleichmäßige, sehr tiefe Brummen des Motors verklang immer ferner und ferner. — Sie schlief ein ...

Was sie weckte, war ein Schuß.

Sie öffnete die Augen, doch nur, um sie gleich wieder geblendet zu schließen. Denn die Sonne stand ihr gerade im Gesicht. Sie brauchte einige Minuten, um sich zurechtzufinden. Sie blickte sich um —: wo waren sie —?

Das Meer von Schneewolken unter ihr war verschwunden; sie konnte die Erde sehen; doch flog ihr stählerner Vogel noch viel zu hoch, als daß sie mehr zu unterscheiden vermocht hätte als dunklere und hellere Flächen, zumal die Sonne schräge, blitzende Bänder dazwischen spann.

Aber eines sah sie ... von der Erde unter ihr löste sich eine winzige weiße Wolke — und Sekunden später vernahm sie den Knall eines Schusses ... galt das ihnen? Hatte man sie entdeckt —? Und wenn: kam der Schuß aus[S. 359] russischem oder — lieber, lieber Gott! — kam er aus einem deutschen Geschütz —?!

Sie machte eine Kopfbewegung zur Seite hin — im gleichen Augenblick hörte sie die brüllende Stimme Kyrill Petulikows, der sie anrief.

Sie gab ihm mit der Hand ein Zeichen, daß sie ihn hörte, und wandte ihm so weit als möglich das rechte Ohr zu.

Er brüllte: »Nehmen Sie das weiße Tuch, das zu ihren Füßen liegt, und lassen Sie es seitwärts flattern ... Wir sind über der deutschen Grenze und werden beschossen und von deutschen Fliegern verfolgt ...!«

Beate bückte sich und riß das Tuch empor; es war aus leichter, weißer Wolle und flog ihr fast aus der Hand, als sie sich damit über den Rand ihres Sitzes beugte.

Gleichzeitig spürte sie, wie das Flugzeug sich tiefer schraubte, und als sie unwillkürlich nach der Höhe zurückblickte, aus der sie kamen, entdeckte sie über sich, so nahe, daß sie die Gesichter des Fahrers und des Beobachters im Gestänge des Apparats erblicken konnte, ein anderes Flugzeug — und an den Enden seiner starren Schwingen das Zeichen des Eisernen Kreuzes ...

Da lachte Beate Hoyermann aus ihrem tiefsten Herzen auf und ließ ihre weiße Fahne flattern ...

[S. 360]

O, schön war das anzusehen, wie sich über ihr, unter ihr, neben ihr die deutschen Stößer sammelten, schwebten und wachten, daß ihnen die Beute nicht entkam.

Kyrill Petulikow drosselte den Motor ab — Beate schloß die Augen — he, wollte sie zum Schluß noch schlapp werden —?! In sausendem Gleitflug glitten sie in die Tiefe ... es war, als sause ihnen die Erde entgegen zu unabwendbarem Zusammenprall ... Aber die Maschine gehorchte der Menschenfaust und schwebte noch einmal, wich und lief ... sprang federnd über die Erdschollen — stand ...

Hunderte von Menschen rannten auf den Apparat zu. Soldaten in fremden, graugrünen Uniformen ... Waren das Deutsche?

Beate versuchte sich aufzurichten; es gelang ihr nicht. Die Knie versagten ihr den Dienst. Kräftig gehoben und geschoben von unbedenklichen Fäusten, wurde sie aus ihrer Haft befreit und wußte noch immer nicht, wer sie befreite ...

Bis einer der Soldaten ihr ins Gesicht sah und laut und fröhlich zu seinen Kameraden sagte: »Nu kiek mal, Franz — det is ja 'n Mächen —!!«

Da wußte Beate, wo sie war ...


[S. 361]

10

Beate hatte einen wunderschönen Traum.

Sie stand auf einem Turm — oder der schmalen Spitze eines Berges, schwindelfrei, leicht und glücklich, und fühlte den Wind, der ihr weich um die Schläfen spielte. Unter ihr in grenzenloser Tiefe lagen Wälder, Felder, Wiesen; die Obstbäume blühten. Über einen blanken, blauen See glitt ein weißes Segel — das sah sehr lieblich aus.

Und mit einem Male tauchten aus dem blanken, blauen See Hunderte und Hunderte von weißen Schwänen auf, als würde jede Welle, die das Boot mit dem gleitenden Segel schuf, zu einem weißen Schwan. Und die weißen Schwäne hoben sich aus dem Wasser und flogen mit einem weiten, starken Flügelschwung aufwärts und der Höhe entgegen, auf der Beate stand. Es waren ihrer so viele, daß sie zusammen wie eine einzige schimmernde Wolke erschienen, und sie flogen einmütig und schön zu einem Ziele.

Aber als sie näher kamen, verwandelten sie sich abermals und wurden zu Hunderten und[S. 362] Hunderten von Flamingos, deren Gefieder die Farbe von milden Rosen hatte. Und sie erreichten Beate und schwebten um sie her, immer engere Kreise ziehend — und endlich waren sie ihr so nahe, daß ihre Schwingen Beatens Füße streiften.

Und in diesem Augenblick schien der Berg oder der Turm, auf dem sie gestanden, unter ihr wegzusinken, und sie schwebte frei in der Luft, getragen und gehütet von den rosenroten Schwingen der Wundervögel. Und sie ließ sich ruhig sinken und lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken und fühlte die ganze tiefentzückte Seligkeit des Fliegens, das die Vögel selber haben, wenn sie die Luft mit ihrem klingenden Schrei erfüllen ...

Und dann erwachte sie ...

Sie war nicht ohnmächtig gewesen, o nein; sie hatte ganz einfach geschlafen. Köstlich geschlafen wie ein Kind ... Es war ihr nur nicht ganz klar, wie sie in das Bett geraten war, in dem sie diesen kostbaren Schlaf vollbracht hatte ... Sie hob den Kopf und sah sich um.

Das war nicht so leicht. Sie mußte über einen Berg von Federbetten hinweg — oha! was für Federbetten! Jedes wog einen Viertelzentner, schlecht gerechnet. Und dann hatte sie einen Wärmkrug an den Füßen; das war sehr mollig. Im übrigen konnte sie von ihrem Asyl[S. 363] nichts entdecken als den spielenden Feuerschein an der niedrigen, schneeweißen Decke, als die rosenroten Rosen und die himmelblauen Vergißmeinnicht, die, von sinnigen Sprüchen umrahmt, im Innern der mächtig hohen Bettstatt gemalt waren, als ein Fenster, das die Eisblumen in funkelndes Kristall verwandelt hatten — und einen Riesenschrank, gleichfalls herzerfrischend bemalt und mit einem Schlüssel abgeschlossen, der dem St. Peters an der Himmelspforte an Gewicht wenig nachgab.

All das war schön; aber das Schönste war, daß draußen vor der Türe jemand in scharfem Flüsterton sich folgendermaßen äußerte: »Damliches Kamel, mußt du mit deinen Riesenlatschen auftrampeln wie'n Nilpferd —?!«

Herrgott, war das schön ...

Mit einem schluchzenden Lachen wandte Beate den Kopf zur Wand. Ach —! sie war glücklich! Sie war glücklich! Daheim war sie ... daheim ...

Liebes damliches Kamel, trample du ruhig auf, soviel es dir Freude macht ... Wenn du mich zu solchem Erwachen weckst, dann soll dich keiner darum schelten ...

Sie war so munter, als hätte sie vierundzwanzig Stunden geschlafen; nur die Glieder schmerzten sie und hingen an ihr wie taub. Nun, man macht nicht umsonst einen Flug von tausend[S. 364] Kilometern, vom Herzen Rußlands bis nach Deutschland hinein. Aber das schadete nichts. Sie war auf ihre Schmerzen so stolz, als seien die ihre Erfindung ...

Sollte sie rufen? Nein ... Sie war sehr geneigt, die Dinge auf sich zukommen zu lassen. Alles, was kam, mußte schön sein ... Denn sie war daheim — sie war daheim ... Wenn sie ein Vogel gewesen wäre — sie hätte sich aus den drei Worten ein Liedchen gemacht und es unaufhörlich gesungen.

Noch eine kleine Weile — nur noch eine kleine Weile in diesem lässigen Hingegebensein ...

Dann wollte sie fort. Es konnte sie ja keiner mehr hindern, in ihrer Heimat zu wandern, wohin sie wollte. Wohin wollte sie? Nach Berlin ... Da gab es Menschen, die ihr sagen würden, wo Gerhard war ... Und wenn sie ihr sagen mußten, daß er nicht nach Deutschland gelangt sei ... Nun, dann würde sie auf ihn warten und in der Zwischenzeit beide Hände kräftig rühren. Arbeit gab es genug ... Und sie war nicht umsonst zwei schwere Jahre lang die beste Kraft in Doktor Heßreuters Klinik gewesen.

Und wenn sie hören würde, Gerhard sei zurückgekommen und ins Feld — und sei gefallen ...

Ja so ... ja ...

Es war noch nicht die Zeit, von weißen[S. 365] Segeln und Schwänen zu träumen; noch nicht die Zeit der sieghaften Gewißheit. Nur des Hoffens — nur des Hoffens. Und der Arbeit und der Zuversicht ...

Leise und noch ein wenig mit zerschlagenen Knochen stand sie auf, flocht sich das Haar und tauchte mit halbem Leibe hinein in ein Ungetüm von Waschschüssel, deren herzerfrischender Inhalt sie völlig munter machte. Sie kleidete sich an und öffnete die Stubentür. Der Gang davor war mit roten Ziegeln ausgelegt, und es duftete im Hause nach Holzbrand und frischem Kaffee.

Ihr gegenüber war ein weißes Schild über der Türe angebracht, darauf stand: Gastzimmer. Sie war also in einem kleinen Wirtshaus. Sehr schön! Dann würde sie ja wohl auch endlich etwas in den Magen bekommen. Das hatte sie redlich verdient.

Sie trat in das Gastzimmer; eine kleine vergnügte Glocke über der Tür verkündigte ihren Eintritt mit lang anhaltendem Gebimmel. Die Stube war leer; aber ein breites Fenster, das von ihr nach der Küche zu führte, wurde schleunigst aufgeschoben, und eine kleine, dicke Wirtin mit Backen wie die blankgeriebenen Weihnachtsäpfel, einem blonden Ringelzöpfchen hoch droben auf dem Kopf und dem gutmütigsten Lächeln von der Welt fragte aufmunternd, ob die gnädige Frau was zu essen haben wollte.

[S. 366]

»Und ob!« antwortete Beate.

Die beiden Frauen lachten sich an; warum Beate lachte, das wußte sie. Aber die liebevolle Fröhlichkeit der Wirtin konnte sie sich nicht recht erklären. Doch sie tat ihr zu wohl, als daß sie sich versucht gefühlt hätte, nach ihrer Ursache zu forschen.

Während sie auf das Essen wartete, kniete sie auf der Bank am Fenster und hauchte ein Guckloch in die Eisblumen hinein. Sie wußte nicht, wo sie war. Das brauchte sie vorläufig auch noch nicht zu wissen. Innerhalb der deutschen Grenze — das war genug. Sie kam sich vor wie eine Prinzessin, die durch die Luft entführt wurde und im Unbekannten landete. Doch war der Empfang ein zu liebevoller gewesen, als daß sie sich um das Weitere hätte sorgen müssen.

Sie dachte an Kyrill Petulikow; wo der wohl stecken mochte. Sie hatte ihm noch nicht einmal gedankt. Und sie schüttelte den Kopf über sich selbst, weil sie fühlte, daß dieser Mann, der sein Leben für sie gewagt hatte, der sie mit einem kleinen Vermögen freikaufte und sein Besitztum um ihretwillen der Plünderung und dem Brande überließ — der sie liebte mit einer großen Liebe, ehrfürchtig und ernst, — daß der nun aus ihrem Leben gehen würde — und es schmerzte sie nicht.

[S. 367]

Das Gefühl, das sie für ihn hegte und über das sie sich klar werden wollte, war nicht frei von einem schmerzlichen und ungeduldigen Zorn. Wie alle glücklichen Menschen hielt sie das Glück für eine Willenssache und vergaß, daß es eine Eigenschaft ist wie jede andere auch.

Über ihrem Grübeln hatte sie nicht gehört, daß die Türe aufgegangen war, und wandte sich erst, als sie angerufen wurde.

»Guten Morgen, Mascha!«

Sie streckte ihm die Hand entgegen.

»Guten Morgen, guten Morgen, Kyrill Iwanowitsch! Wie geht es Ihnen?«

»Wie geht es Ihnen, Mascha?« fragte er lächelnd dagegen und hielt ihre Hand fest.

»O Kyrill Iwanowitsch — ich bin in Deutschland ... Was soll ich Ihnen weiter sagen?«

»Nichts, nichts — das ist genug, nicht wahr? Sie sehen wohl aus, Gott sei Dank! Und Sie haben rund zwanzig Stunden geschlafen ...«

»Nein!«

»Ja ... Sie taten recht daran. Sie haben wahrhaftig genug hinter sich, Mascha, meine liebe Schwester ...«

Sie sah ihn an. Nun ergriff er sie doch mit seinem russischen glücklosen Lächeln, das voller Güte war. Aber Beate Hoyermann hatte eine ehrliche Seele.

»Seien Sie nicht so freundlich zu mir, Kyrill[S. 368] Iwanowitsch,« sagte sie und rüttelte leise seinen Arm. »Kurz ehe Sie kamen, war ich in meinen Gedanken ungerecht gegen Sie.«

»Das können Sie nicht sein, Mascha.«

»Doch, doch, doch —! Kommen Sie mir jetzt nur nicht mit Ihrer russischen Gottähnlichkeit aus der Karwoche! Ich war ungerecht, denn niemand kann aus seiner Haut heraus — und obwohl ich das weiß, hatte ich eine kleine Wut auf Sie ...«

»Warum, Mascha?«

»Warum ... Weil Sie unglücklich sind, Kyrill Iwanowitsch — darum!«

Sein Lächeln verstärkte sich.

»Machen Sie mir daraus einen Vorwurf?« fragte er und setzte sich ihr gegenüber.

»Ja — gewiß! Lieber Kyrill, manchmal habe ich Sie im Verdacht, daß Sie in Ihre Traurigkeit verliebt sind.«

Er wiegte den Kopf. Er lächelte, und seine rechte Hand, die auf dem Tische lag, zeichnete die Maserung des Holzes nach.

»Vielleicht haben Sie da gar nicht Unrecht, Mascha,« antwortete er. »Es liegt dem Russen vielleicht im Blute. Was können wir dafür? Wir sind kein fröhliches Volk und haben gute Gründe. Aber wir haben uns daran gewöhnt und lieben unsere Schwermut, wie andere Völker ihre Laster lieben. Das heißt, wir haben aus der[S. 369] Not eine Tugend gemacht ... Vielleicht kommt für uns einmal eine Zeit, in der wir von uns selbst erlöst werden ... Dann werden wir glücklich sein und unser Glück lieben. Jetzt sind wir noch sehr weit davon entfernt ... Lassen Sie uns nur, Mascha, liebe Schwester — und vor allem: lassen Sie mich. Es ist alles gut, wie es ist ... Und das Maß meiner Traurigkeit, die Sie mir zum Vorwurf machen, geht nicht über die Grenze hinaus, an der die Schönheit verletzt wird. Wenn ich mich nie in schlechterer Gesellschaft befinde als in der meiner Schwermut, so will ich ganz zufrieden sein ...«

»Ich habe Sie verletzt,« sagte sie leise. Die Tränen traten ihr in die Augen.

»Gott im Himmel, Mascha — nein! Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?«

»Ich bin ungeschickt, ich weiß es,« fuhr sie fort und senkte den Kopf mit der Betrübtheit eines Kindes. »Ich möchte Ihnen helfen und weiß nicht, wie ich es anfangen soll. Ich möchte Sie fröhlich sehen und finde den Weg nicht dazu.«

Er beugte sich über den Tisch und nahm ihre Hand, die er mit einer sanften und schönen Bewegung an seine Stirn hob, wo er sie festhielt.

»Sie wissen den Weg wohl, aber Sie gehen ihn nicht und werden ihn nie gehen,« sagte er mild. »Und das ist herrlich an Ihnen, Mascha,[S. 370] daß Sie auch die kleinste Gebärde der Liebe nicht an das Mitleid oder die Freundschaft — oder die Dankbarkeit verzetteln ... Ich liebe Sie darum — ich liebe Sie um dieses leisen Zuckens willen, mit dem Sie Ihre Hand aus meiner befreien wollen ... Nun gebe ich sie frei — und Sie nehmen sie fast eilig zurück, wie das anvertraute und gefährdete Eigentum eines Dritten. Warum weinen Sie, Mascha, meine liebe Schwester? ... Sie sind sehr schön, so wie Sie sind ... und unverletzlich in Ihrer Schönheit ... Darum liebe ich Sie ...«

Beate hatte den Kopf auf die Hände gesenkt und ihre Augen geschlossen.

»Seien Sie still, Kyrill Petulikow,« sagte sie flüsternd.

Er schwieg.

In dem warmen, weiten Zimmer tickte die Uhr eilfertig. Der Kuckuck sprang aus dem Häuschen und rief zwölfmal. Kyrill Petulikow schaute und horchte ihm zu und lächelte.

Die Wirtin kam herein und brachte die Teller und Schüsseln auf einem Brett, auf dem ein Kalb Platz gehabt hätte. Und während sie ihre Schätze vor den zweien ausbreitete, strahlten ihre wasserblauen Augen mit einem Ausdruck unverkennbar mütterlichen Stolzes auf Beate Hoyermann.

»Gesegnete Mahlzeit!« wünschte sie, strich[S. 371] mit der flachen Hand über das schimmernde Tischtuch und ging davon.

»Wenn ich nur wüßte,« fing Beate an und füllte die Suppe auf, »warum mich die gute Frau so verklärt anguckt ...«

»Darüber dürfen Sie sich nicht wundern,« antwortete Kyrill Iwanowitsch. »Sie sind hierzulande eine Berühmtheit geworden, Mascha ...«

»Nein!« sagte Beate in großer Verblüffung.

»... und Sie haben alle Aussicht, es immer mehr zu werden.«

»Gott soll mich bewahren,« sagte die Frau. »Wie kommen Sie auf die Vermutung?«

»Lesen Sie!«

Er stand auf und holte aus seinem Mantel eine schon ziemlich verwitterte Zeitung — eine Nummer der »B. Z.« vom Anfang November.

»Was soll ich damit?« fragte Beate kopfschüttelnd.

»Lesen Sie nur, Sie werden schon finden, worauf es ankommt ... Außerdem war der Herr, der mir die Zeitung überließ, so freundlich, den Artikel anzustreichen ...«

Beate entfaltete das Zeitungsblatt mit aller gebotenen Vorsicht, denn es war gewiß schon durch mehr als hundert Hände gegangen und hielt nur noch durch gütige Unterstützung von Briefmarkenschnitzeln. Auf der dritten Seite stand ein rot angemerkter Aufsatz. Er trug die[S. 372] Überschrift »Als Heizer und Stewardeß nach Deutschland zurück« und war unterzeichnet Chr. Ty.

»Tystendal!« rief Beate und ließ die Zeitung fallen vor Überraschung. »Christian Tystendal, der Schwede!«

»Richtig.«

»Ja aber ...« Beate überlas die ersten Zeilen und unterbrach sich von neuem. »Wie kommt diese Schilderung unserer Flucht aus Japan in die ›B. Z.‹? Und wie kommt Tystendal dazu, unsere allerprivateste Angelegenheit in die Öffentlichkeit zu bringen?«

»Nun, Mascha — eine Tat, die einer Gesinnung entspringt, auf die ein ganzes Volk stolz sein kann, die darf man wohl getrost in die Öffentlichkeit bringen; außerdem sind Ihre Namen nicht ausgeschrieben, wie Sie bemerken werden ...«

»Gut. Aber Tystendal selbst — was hat er mit der Berliner Presse zu tun?«

»Er ist Berichterstatter einer führenden schwedischen Zeitung, meine liebe Mascha, und als solcher im Hauptquartier des Ostens wohl bekannt und gelitten.«

»Sie scheinen sich sehr geschwind in deutschen Verhältnissen zurechtgefragt zu haben,« meinte Beate, mehr erstaunt als erfreut.

»Das war nicht schwierig,« antwortete Kyrill[S. 373] Petulikow. »Man kam mir mit soviel Liebenswürdigkeit entgegen, als sei ich Ihr Bruder. Wir haben — das heißt, meine Begleiter und ich — eine ebenso interessante wie schöne Autofahrt gemacht, und ich bin mit dem Bescheid entlassen worden, daß mein Flugzeug zwar bis zum Friedensschluß in deutschem Gewahrsam bleiben wird — daß meiner eigenen Abreise aber durchaus nichts im Wege steht ... Nur hat man mir in meinem Interesse geraten, den Weg über ein neutrales Land zu nehmen. Ich glaube, die Herren haben Recht. Die Eisenbahnen der russischen Westgrenze dürften in der nächsten Zeit nicht eben zu den sicheren Verkehrsmitteln gehören.«

»Sie reisen also über Schweden?«

»Ja.«

»Und wann, Kyrill Iwanowitsch?«

»Sobald ich weiß, daß Sie meiner nicht weiter bedürfen ...«

Er wartete, ob sie eine Bemerkung machen würde, aber Beate schwieg.

»Ich habe den Herren, die uns hier — gleichsam — aufgenommen haben, Ihre Geschichte erzählt,« fuhr der Russe fort. »Ich glaube, keiner ist darunter, der es sich nicht zur Ehre rechnen würde, Ihnen zu Diensten zu sein ...«

»Danke,« sagte Beate. »Ich bedarf keines Dienstes mehr, als daß man mir zur nächsten[S. 374] Bahnstation verhilft und mich gewissermaßen auf Reichskosten nach Berlin befördert. Vorläufig bin ich mit Tystendal noch überquer. Ich mag mich nicht anstarren lassen wie ein Kalb mit zwei Köpfen ... Er hätte seinen Schnabel halten können! Was eine Tat der Liebe zu meinem Mann und meinem Vaterlande war, wird dadurch ein wenig zum Abenteuer. Das hätte er bedenken müssen. Und — das habe ich nicht verdient ...«

»Seien Sie nicht kleinlich, Mascha,« sagte der Russe freundlich. »Wenn ich an Tystendals Stelle wäre, würde ich es ebenso machen. Was schön ist, das soll man bei Namen nennen — und laut genug, daß die Menschen darauf hören. Tapferkeit steckt an. Das wissen Sie, nicht wahr? Daß Sie die Tapferkeit Ihrer Liebe hatten, wird vielleicht bei vielen, die davon hören, zur Hilfe werden in einem guten Kampf. Das kann Sie nicht kränken ...«

»Wenn man's so betrachtet ...«

»So betrachten es alle, mit denen ich von Ihnen sprach.«

Kyrill Petulikow war aufgestanden und blickte auf die Frau hinab. Sie sah ihn mit zurückgebogenem Nacken an und hatte feuchte Augen.

»Mein guter Freund,« sagte sie.

Es war eine Weile still zwischen ihnen.

»Nun will ich Ihnen Lebewohl sagen,[S. 375] Mascha,« sprach er dann mit einer ganz verhaltenen Stimme, und sein sanftes Lächeln blieb ihm treu. »Ich nehme zum zweiten Male Abschied von meiner Schwester. Aber Sie leben und werden glücklich sein, Gott sei Dank ... Leben Sie wohl ...«

»O Kyrill — nicht so schnell!« sagte Beate erschrocken und heiser. Sie hielt ihn zurück. Ganz plötzlich empfand sie die Unerträglichkeit des Gefühls, mit leeren Händen vor einem Menschen zu stehen, der gibt und gibt, ohne je zu empfangen.

»Was sollte ich länger bleiben, Mascha? Sie bedürfen meiner nicht mehr. Und — man hat mir sehr viel Vertrauen erwiesen. Das will ich nicht mißbrauchen. Ich reise noch heute in der Begleitung einiger verwundeter Offiziere, die auf Urlaub ins Innere des Landes fahren. Sehr bald werde ich Deutschland verlassen haben, und sehr wahrscheinlich auf immer. Wir werden uns nicht wiedersehen; und das ist gut ...«

»Kyrill, Kyrill, wie soll ich Ihnen jemals danken!« flüsterte Beate. Jetzt hielt sie seine beiden Hände und sah ihn durch Tränen hindurch unablässig an. Aber es waren keine bitteren Tränen; das fühlte er.

»Würden Sie mir danken, wenn ich das große Los gewonnen hätte?« fragte Kyrill Petulikow lächelnd.

[S. 376]

»Ach nein, mein Freund ...«

»Nun, warum danken Sie mir dann? Ich habe Sie in Ihre Heimat bringen dürfen. Mein Leben hat seinen Zweck erfüllt. Er war sehr schön und seine Erfüllung vollkommen. Ich bedarf nichts mehr. Leben Sie wohl ...«

Beate erwiderte nichts. Ihre Lippen zitterten sehr.

»Eins möchte ich wissen,« fuhr Kyrill Iwanowitsch etwas verträumt fort. »Ich möchte wissen, wie Sie in Wahrheit heißen ...«

»Beate ...«

»Beate ... — heißt das nicht: die Glückselige?«

»Ich glaube, mein Freund ...«

»Das ist sehr schön ... Glückselige — Beate ... leben Sie wohl.«

Er küßte ihre Hände und wandte sich zum Gehen.

»Sie werden mir schreiben, Kyrill Iwanowitsch?« fragte die Frau sehr bittend.

Er lächelte.

»Vielleicht, Beate ...«

Ihre Hände lösten sich von den seinen. Er ging. Die Türe schloß sich hinter ihm. Und Beate wußte, während sie seine Schritte sich entfernen hörte, daß Kyrill Iwanowitsch Petulikow ihr niemals schreiben würde und daß dieser Mensch, der ein Russe war und ein Geschöpf[S. 377] der unerfüllbaren Träume, aus seinem Leben gehen würde, wie andere Menschen aus dem Zimmer gehen. Sie hielt ihn nicht zurück; denn sie fühlte, daß sie dazu kein Recht besessen hätte ...

Ihre Trauer um ihn war ganz gelind und würde keine Narben hinterlassen. Sie war wie ein starker junger Vogel und ließ sich auf ihrem Flug ans Ziel nicht niederholen durch Mitleid mit den Flügellahmen. Sie schüttelte ihre Schwingen und flog und liebte die Sonne ...

Am Abend des nächsten Tages kam sie nach Berlin.

Und während sie mit dem Kraftwagen durch die Straßen fuhr — nach der Wohnung ihres Onkels —, las sie die Zeitungen und sah sich um, und das Herz lachte ihr im Leibe.

Und sie lachte übers ganze Gesicht, als sie vor dem alten Herrn stand, der die feldgraue Generalsuniform trug, geradeswegs aus dem Kriegsministerium kam und den Kopf so voll hatte, daß er den Besuch, den der Bursche meldete, ohne weiteres hinauswerfen lassen wollte. Aber Beate hatte bereits größere Schwierigkeiten überwunden. Sie nahm die Festung im Sturm.

»Guten Abend, Onkel,« sagte sie. »Für eine Nacht mußt du mir schon Quartier geben — morgen früh gehe ich von ganz allein —«

Sie wollte noch weiter sprechen, kam aber[S. 378] nicht dazu. Exzellenz von Köstmer, der beim ersten Wort, das sie in der Türe stehend sprach, einen Ruck bekommen hatte, machte jetzt drei Schritte auf sie zu, nahm sie in seine Arme und quetschte sie an seine Brust, daß ihr grün und blau vor den Augen wurde.

»Die Japanerin!« brüllte er entzückt. »Die Stewardeß von der ›Princeß of India‹!«

Er hielt sie auf Armeslänge von sich ab, betrachtete sie, der der Hut vom Kopfe gefallen war, mit herzlicher Begeisterung und fuhr fort: »Mädel, Mädel, was mich das gefreut hat! — Was mich das gefreut hat, wie ihr den Schweinepriestern eine Nase gedreht habt! — Ihr famose Bande, ihr —! Komm her! Ich muß dir, hol' mich der und jener — und ich muß dir noch 'nen Kuß geben!«

»Da hast du ihn!« sagte Beate ohne Zögern und küßte den begeisterten alten Herrn etwas eilig und ziellos mitten in sein rosiges Gesicht hinein. »Und jetzt sage mir, Onkel Gustav, woher du um unsere Flucht auf der ›Princeß of India‹ weißt —?«

»Wenn du mich noch mal Onkel Gustav nennst, liebes Kind, fliegst du zweimal in Arrest — erstens für den Onkel, zweitens für den Gustav. Man sagt jetzt nicht mehr Onkel, sondern Oheim in Preußisch-Berlin und Umgebung, das mußt du dir merken! Und Gustav ist scheußlich — einfach[S. 379] scheußlich —! Habe nie begriffen, wie meine gute Mutter es überleben konnte, mich mit diesem Namen behaftet auf Erden herumlaufen zu lassen ... Na, sie ist tot, die gute alte Haut — ich hab' es ihr vergeben, auch ohne es begriffen zu haben ...«

»Du wolltest mir erzählen, lieber Oheim — (uff!) — wie du zu der Kenntnis von unserer Flucht aus Japan gekommen bist,« mahnte Beate zurückrufend.

»Eure Flucht aus Japan —?« Exzellenz von Köstmer betrachtete seine Nichte über den Kneifer weg mit leichtem Erstaunen. »Aber liebes Kind, das hat doch in der ›B. Z.‹ gestanden — warte, ich hole dir die Nummer! Ich hab' sie mir aufgehoben, die Sache hat mir zu viel Spaß gemacht ...«

»Brauchst dich nicht zu bemühen — ich kenne sie schon,« sagte Beate etwas trocken. »Dieser verflixte Tystendal — dem wünsche ich den Kuckuck über den Hals ...«

»Tystendal — wer ist das?«

»Der Verfasser dieses unglückseligen Artikels!«

»Erlaube mal — was hast du gegen den Mann?!« Exzellenz von Köstmer ereiferte sich. »Das scheint mir im Gegenteil ein sehr netter junger Mensch zu sein! Und ein recht begabter auch noch! Der Artikel ist ganz famos geschrieben — wirklich ganz famos!«

[S. 380]

»Das bestreite ich nicht!« warf Beate ein. »Aber ich wünschte doch, er hätte es nicht so weit gebracht, daß ich von sämtlichen Menschen, die mich kennenlernen oder wiedersehen, als die Stewardeß von der ›Princeß of India‹ abgestempelt werde! Das ist Reklame! Und Reklame kann ich nicht leiden!«

»Es heißt nicht Reklame, sondern Anpreisung!« sagte Exzellenz von Köstmer geschwind. »Und außerdem, meine liebe Beate, bist du nicht recht gescheit! Ob es sich dabei um dich handelt oder nicht — darauf kommt es nicht im geringsten an! In dem Aufsatz heißt es wortwörtlich: ›Auf die Gesinnung dieser beiden Menschen, die alles daran setzten und alles wagten, um in der Stunde, da ihr Vaterland in Gefahr war, zu ihm zurückzukehren und ihm ihre Kräfte darzubieten — auf die kann das ganze deutsche Volk stolz sein!‹ — Und so ein Beispiel deutscher Gesinnung soll im Mustopp bleiben, bloß weil du eine beschränkte junge Dame bist? Nee, mein Mädel! Das muß in die weite Welt — so weit als irgend möglich! Wenn's irgend geht, bis nach Amerika und Asien hinüber! Damit sie die Augen aufsperren lernen, die Herren Feinde und Neutralen, soweit es noch welche gibt! Das schafft viel mehr Segen als aller andere Quatsch, der über Deutschland geschrieben wird und den doch kein Mensch glaubt! Laß du mir[S. 381] den Herrn Tystendal, oder wie er heißt, in Ruhe! Das ist ein ganz vortrefflicher Mann, dem meine volle Hochschätzung gehört! Und nun setze dich! Setze dich und erzähle! Wo kommst du her?!«

»Von Rußland.«

»Wieso?«

»Mit dem Flugzeug von Rußland ...«

»Schwerebrett noch mal!« Exzellenz von Köstmer rieb sich den blanken Schädel. »Das mußt du mir etwas näher erklären.«

Beate sah ein, daß sie nicht um einen ausführlichen Bericht herumkommen würde. Sie ergab sich und handelte ihre Erzählung herunter, so geschwind und knapp, als es nur irgend ging; aber die Zwischenrufe ihres Zuhörers verdoppelten die Geschichte. Endlich war sie fertig, holte tief Atem und sah den alten Herrn mit verwirrten Augen lächelnd an. Der schüttelte anhaltend den Kopf.

»Junge, Junge,« sagte er, »was habt ihr zwei für einen fabelhaften Dusel gehabt — einen ganz fabelhaften Dusel!«

»Wer — ihr zwei?« fragte Beate.

»Du und dein Mann.«

»Mein Mann?« Beate stand auf, als würde sie hochgezogen. »Onkel Gustav, was weißt du von meinem Mann?«

»Du sollst mich nicht Onkel Gustav nennen, zum Teufel —!«

[S. 382]

»Das ist mir jetzt vollständig egal, hörst du —! Sage mir! Sage mir, was weißt du von meinem Mann?«

»Aber geliebtes Kind, ich begreife gar nicht, warum du weinst!« Exzellenz von Köstmer sah unglücklich und geärgert aus. »Es ist ihm doch bisher ganz ausgezeichnet gegangen, Himmelelement —! Es ist doch nicht der geringste Grund zum Weinen vorhanden! Da auf demselben Stuhl, auf dem du gerade gesessen hast, hat er auch gesessen — vor zwei, drei Wochen ... und hat mir erzählt — gerade wie du: wie er nach der Versenkung der ›Princeß of India‹ von dem deutschen Kreuzer aufgenommen worden ist — dann später mit einem Dutzend anderer Fahrgäste von einem Norweger nach Rotterdam gebracht — netten Unsinn hat er den Kerls vorgeschwindelt, die das Schiff durchsucht haben — einen herzerfreuenden Unsinn, sage ich dir! — und dann nach Hause gefahren ... Ein bißchen ausgehöhlt erschien er mir — freilich, es war nicht einfach, was er erlebt hat ... aber die Augen haben ihm nur so gelacht ... Mädel, du kannst dir was einbilden auf deinen Mann! Wahrhaftig, das kannst du!«

»Das tu' ich auch!« sagte Beate und weinte heftig. »Und wo ist er jetzt? Wo ist er jetzt —?!«

»Wo er hingehört, mein Mädel — bei seinem alten Regiment!«

[S. 383]

»Und wo ist sein Regiment?«

»Da fragst du mich zuviel, mein Kind ... Wir leben in der Zeit der großen Truppenverschiebungen. Ob er im Westen oder Osten ist und ob er morgen noch an derselben Front ist wie heute, das kann ich dir nicht sagen. Aber gewiß ist, daß er bis zum heutigen Tage noch heile Knochen hat und ein tüchtiger Soldat und ein ganzer Kerl ist, daß seine Leute sich für ihn vierteilen ließen, wenn es darauf ankäme, und daß man höheren Orts bereits auf ihn aufmerksam zu werden beginnt. Das muß dir einstweilen genügen, mein Mädel ... Seine Adresse will ich dir geben; kannst ihm schreiben und ihm einen schönen Gruß von mir bestellen. Und im übrigen, Kind — warten, warten und hoffen ... Es ist die ganze Weisheit, die ich dir geben kann ...«

»Die taugt nichts, mein alter Freund,« sagte Beate und hob das Gesicht von den Händen. Sie richtete sich auf und sah sich um. »Wo hab' ich meinen Hut? Ich will noch heute abend zu Doktor Heßreuter. Der soll mir ein Zeugnis geben und mir einen Platz anweisen, wo ich die Hände rühren kann. Es ist mir gleichgültig, ob ich in einer Lazarettküche Kartoffeln schäle oder im Laboratorium Salben quirle oder Binden aufwickle oder sonst was. Ich will nur arbeiten; helfen will ich. Er wird mir schon sagen können, wo's am meisten not tut.«

[S. 384]

»Wie ich den Heßreuter kenne,« meinte Exzellenz von Köstmer, »wird er wissen, daß man Frauen wie dich nicht zum Kartoffelschälen oder Bindenwickeln verwendet; er wird dich dahin stellen, wo's hart auf hart geht, Beate. Hast du das bedacht?«

»Ich hoffe, daß er das tut,« antwortete Beate still.

»Dann Gott befohlen, mein Kind! Und laß mich von dir hören.«

Beate versprach es. Aber sie schrieb nicht eher an ihren alten Freund, als bis sie ihm melden konnte, daß sie als Vollschwester dem Pflegepersonal im Osten zugeteilt worden sei und die Reise nach ihrem Posten anzutreten im Begriff stehe.

»Der Dienst wird schwer sein,« schrieb sie, »aber ich freue mich auf ihn. Er wird mir helfen, mich selbst zu vergessen, und die Zeit des Wartens und Hoffens zu einer gesegneten machen. Von Gerd habe ich keine Nachricht. Ich habe ihm geschrieben — Gott weiß, ob er den Brief erhält. Sobald du etwas von ihm erfährst — mittelbar oder unmittelbar: schreibe es mir gleich. Auch das Schlimme. Auch das Schlimmste. Ich teile meine Not mit Tausenden und will von Tausenden nicht die Schwächste sein ...« —

Beate hatte Recht gehabt, als sie sagte, ihr Dienst werde schwer sein. Sie hatte sich sehr[S. 385] bald eine Stellung errungen, die ein Beweis höchsten Vertrauens ihrer ärztlichen Vorgesetzten war, aber auch an ihre seelischen und körperlichen Kräfte die äußersten Anforderungen stellte. Sie versagte niemals. Sie wurde sehr schmal und hatte sich das Schlafen abgewöhnt. Aber sie hielt stand.

Sie war dem Osten zugeteilt worden, weil sie Russisch verstand und genügend sprach, um den Schmerzen und Wünschen ihrer slawischen Pfleglinge ein Dolmetsch zu sein. Und sie hatte deren viele. Und es wurden immer mehr. Die große Schlacht der Dezembertage wurde geschlagen, und der Sichelwagen schnitt ...

Sie lagen in einem Dorfe. Einem polnischen Dorfe, das kein ganzes Haus mehr hatte. Die Straße, von Schnee, Tauwetter und Frost und wieder Schnee in einen Sumpf verwandelt, quietschte und schlappte unter den Rädern der Geschütze, der Lastautos, der Wagen und Karren — unter den Hufen der Pferde, unter den Stiefeln der durchziehenden Truppen.

Beate horchte auf den Lärm vor ihren Fenstern wie auf eine Musik ...

Da zogen sie nach Osten — immer weiter nach Osten. Der Dezemberwind pfiff ihnen um die Ohren. Aber sie sangen — sie sangen ... Ein Lied tauchte in das andere hinein. Und es klang dennoch schön ...

[S. 386]

Immer, wenn Beate dieses Singen hörte, mußte sie die Zähne übereinanderbeißen. Es war kein Schmerz, den sie fühlte. Oder wenn es ein Schmerz war, dann war er sehr süß ...

Sie stand am Fenster des Spelunkensaales, der zu einem Lazarett umgewandelt worden war, und starrte auf die Straße hinaus. Sie drückte den Kopf gegen die Scheibe, die gesprungen war, und ließ ihre Gedanken wandern.

Aber sie hatte wenig Zeit für sich selbst. Sie rüttelte sich selber hoch und hielt die Hand an der Stirn. Was hatte sie eben noch tun wollen?

Wasser holen — das war's ...

Sie nahm die beiden Eimer auf und ging die Treppe hinunter, nach dem Tor. Sie trat auf die Straße hinaus und drückte sich an den Mauern hin, um rascher vorwärts zu kommen. Sie mußte um die Ecke herum, nach dem Markte, wo der einzige Brunnen stand, der noch Wasser gab. Alle anderen Röhren versagten den Dienst.

Auf dem Markt war ein heilloses Durcheinander von Menschen, Tieren und Gegenständen, Soldaten, Soldaten so weit das Auge blickte — und dazwischen die ehemaligen Herren des Dorfes, jämmerliche Gestalten, die der Schrecken der Beschießung um die Hälfte ihres Verstandes gebracht hatte.

Weiber und Kinder hockten auf den Trümmern ihrer Betten und sonstigen Möbel, ohne den[S. 387] geringsten Versuch zu machen, noch Rettbares zu retten. Sie waren ganz stumm geworden, ergeben wie betäubte Tiere. Sie blickten mit verständnislosen Augen auf die fremden Menschen, die an ihnen vorüberzogen. Die zurückflutenden Truppen der Russen hatten sie gelehrt, Soldaten für Räuber zu halten, und das deutsche Heer hatte noch nicht Zeit gehabt, sie eines Besseren zu belehren.

Beate füllte ihre Eimer am Brunnen und wollte nach dem Lazarett zurück. Aber sie mußte eine kleine Weile warten. Geschütze wateten und knarrten vorbei. Die Pferde und die Bedienungsmannschaften sahen aus wie aus Lehm gebacken. Sie starrten von Dreck. Ihr Zug nahm kein Ende.

Beate wurde unruhig. Sie mußte unbedingt auf ihren Posten zurück. Ihre Augen glitten über die deutschen Reihen, die fünf Schritte von ihr entfernt vorüberkamen. Sie hoffte, daß die Tracht, die sie trug, ihr helfen würde, durchzuschlüpfen.

In dem Augenblick, als sie sich an einen Offizier wenden wollte, hörte sie hinter sich eine Stimme. Die sprach Deutsch und ein sehr verständliches Deutsch ...

»Was ist denn das für eine verdammte Schweinerei da vorn —?! Wollt ihr wohl aufpassen, ihr Himmelhunde — oder soll der ganze Kram zum Teufel gehen —?«

[S. 388]

Der Gegenstand dieser Standpauke war ein Lastauto, das der Fahrer zu weit nach der Seite gelenkt hatte und das, bis an die Achsen im Dreck versinkend, sich langsam, aber unaufhaltsam seitwärts zu neigen begann.

Aber das kümmerte Beate nicht. Sie wandte sich um und starrte — und ließ ihre Eimer fallen, daß ihr das Wasser in die Schuhe floß — und hob die Arme und rief: »Gerd —!!«

Der Mann, den sie angerufen, bekam einen Ruck durch den ganzen Körper. Er wandte ihr den Kopf zu und öffnete den Mund zu einem Rufe, der nicht laut wurde ...

Ja, es war Gerd, der da an der Hauswand, der ganz zerschossenen, stand und die Frau mit der Roten-Kreuz-Binde am Arm anstarrte, als sei sie strahlendes Gold.

»Beate —! Beate —!«

Und da war es so recht Beate Hoyermann, daß sie, die das Meer und die Wüste und den Schnee Rußlands und den Sturm der Luft überwunden hatte, ratlos und verzagt vor dem beispiellosen Dreck einer russisch-polnischen Landstraße stand und sich nicht vorwärts wagte.

Gerd Hoyermann aber besann sich nicht einen Augenblick. Er tat einen Satz mitten in den Schlamm hinein und auf die Frau zu — erreichte sie und nahm sie in seine Arme ... mochten die Menschen ringsum zu Hunderten[S. 389] glotzen und flüstern und lachen — was ging es ihn an? — Er fühlte die Frau seiner Liebe in seinen Armen und trug sie über die Straße fort ins nächste beste Haus hinein und ließ sie auch nicht los, als sie auf steinernen Fliesen standen und auf hölzernen Stufen.

»Beate! — Beate! — Beate ...«

Die Frau hatte die Augen geschlossen. Sie sagte nichts. Sie fühlte seine Lippen auf ihren Lidern, ihrer Stirn, ihren Wangen und Lippen, auf ihrem Haar, von dem die Haube glitt, und auf ihrem Halse. Sie klammerte sich an den Mann, den sie liebte mit der ganzen Kraft und Ausschließlichkeit ihres Herzens, und dachte mitten im Sturm ihres Glücks und seiner Liebe ganz ruhig und still: Alles war nichts ... alles Erlebte, alles Erlittene — alles war nichts ... Nur dies ist etwas — etwas und alles ...

»Weinst du, Beate, liebe, geliebte Frau?«

»Nein, Gerd, nein ...«

Sie hob den Kopf, um ihm ihr Lächeln zu zeigen.

»Wie lange hab' ich dich?«

»Minuten, Beate ... Ich muß weiter — wir sind auf dem Marsch ... Sprich zu mir, Beate! Sage mir ... Nein, sage mir nichts ... Sieh mich an, du Liebe, du Geliebte ... Wie ist es dir ergangen? Wie kommst du hierher?«

»Jetzt nicht,« sagte sie lächelnd. »Ich schreibe[S. 390] dir ... Lange Briefe will ich dir schreiben ... Hast meinen ersten nicht bekommen?«

»Nein, Geliebte, nichts ...«

»Es macht nichts,« antwortete sie mit ihrem gleichsam horchenden Lächeln. »Ich schreib' dir einen schöneren ...«

Menschen stolperten an ihnen vorbei. Sie hielten sich an den Händen und sahen sich an.

»Es ist kein Abschied,« sagte der Mann und preßte ihre Hände. »Es ist ein Wiedersehen ...«

»Ja,« sagte die Frau.

»Ich muß fort ... Auf Wiedersehen, Beate!«

»Auf Wiedersehen, mein Geliebter ...«

Er küßte sie. Er ging. Sie trat in die Haustür und sah ihn schon nicht mehr. Jetzt merkte sie es nicht, daß sie über den Kot der Straße schritt, um an den Brunnen zu gelangen. Sie reckte sich auf den Steinen und spähte nach rechts und links.

Ihre Augen fanden ihn gleich. Er saß auf einem braunen Pferde und suchte nach ihr im langsamen Vorwärtsreiten. Sie winkte mit der Hand, und er winkte wieder.

Ein Lachen lag ihm um die Lippen.

»Auf Wiedersehen, Löwin!«

»Auf Wiedersehen, Bär!«

Und immer wieder: Auf Wiedersehen! — Auf Wiedersehen —!

Die Soldaten sangen.

[S. 391]

An der Ecke der Straße wandte Gerd Hoyermann sich noch einmal um, stützte die Hand auf die Kruppe des Pferdes und suchte die Augen seiner Frau. Auf Wiedersehen! — Auf Wiedersehen —!

Dann war er verschwunden.

Und Beate Hoyermann hob ihre Eimer auf und bückte sich, um Wasser zu schöpfen ...


Druck der
Union Deutsche Verlagsgesellschaft
in Stuttgart


Anzeigen des Cotta'schen Verlages

Gebunden
Althof, Paul (Alice Gurschner), Die wunderbare Brücke und andere Geschichten M.   4.—
—„— Das verlorene Wort. Roman   „    4.—
Andreas-Salomé, Lou, Fenitschka — Eine Ausschweifung Zwei Erzählungen „    3.50
—„— Ma. Ein Porträt. 4. Aufl. „    3.50
—„— Menschenkinder. Novellensammlung. 2. Aufl. „    4.50
—„— Ruth. Erzählung. 6.Aufl. „    4.50
—„— Aus fremder Seele. Eine Spätherbstgeschichte. 3. Aufl. „    3.50
—„— Im Zwischenland. Fünf Geschichten. 3. Aufl. „    5.—
Anzengruber, Ludwig, Letzte Dorfgänge. 2. Aufl. „    4.50
—„— Wolken und Sunn’schein. 6. Aufl. „    3.50
Arminius, W., Der Weg zur Erkenntnis. Roman   „    4.—
—„— Yorcks Offiziere. Roman von 1812/13. 4. Aufl.   „    5.—
Auerbach, Berthold, Barfüßele. 44.-46. Aufl.   „    2.50
—„— Auf der Höhe. Roman. 2 Bände   „    4.20
—„— Das Landhaus am Rhein. Roman. 2 Bände   „    4.20
—„— Spinoza. Ein Denkerleben   „    1.70
—„— Waldfried. Eine vaterländische Familiengeschichte.   „    2.10
Baumbach, Rudolf, Erzählungen und Märchen. 17. Tsd.   „    3.—
—„— Es war einmal. Märchen. 15. u. 16. Tsd.   „    3.80
—„— Aus der Jugendzeit. 10. Tsd.   „    5.20
—„— Neue Märchen. 9. Tsd.   „    4.—
—„— Sommermärchen. 40. u. 41. Tsd.   „    4.20
Bertsch, Hugo, Bilderbogen aus meinem Leben. 2. u. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Bob, der Sonderling. Seine Geschichte. 4. Aufl.   „    3.50
—„— Die Geschwister. Mit Vorwort v. Adolf Wilbrandt. 12. Aufl.   „    3.50
Birt, Th., Menedem. Die Geschichte eines Ungläubigen   „    5.—
Böhlau, Helene, Salin Kaliske. Novellen. 2. Aufl.   „    4.—
Boy-Ed, Ida, Die säende Hand. Roman. 5. Aufl.   „    4.50
—„— Stille Helden. Roman. 8. u. 9. Aufl.   „    5.—
—„— Um Helena. Roman. 3. Aufl.   „    4.50
—„— Ein königlicher Kaufmann. Hanseat. Roman 18. u. 19. Aufl.   „    5.—
—„— Das Martyrium der Charlotte v. Stein. 1. u. 2. Aufl.   „    3.—
—„— Die Lampe der Psyche. Roman. 3. Aufl.   „    4.50
—„— Nur wer die Sehnsucht kennt. Roman. 8. Aufl.   „    4.50
—„— Die große Stimme. Novellen. 3. Aufl.   „    3.—
Bülow, Frieda v., Kara. Roman   „    5.—
Burckhard, Max, Simon Thums. Roman. 2. Aufl.   „    4.—
Busse, Carl, Federspiel. Westliche und östliche Geschichten   „    4.50
—„— Flugbeute. Neue Erzählungen. 2. Aufl.   „    4.20
—„— Die Schüler von Polajewo. 3. u. 4. Aufl.   „    4.—
—„— Im polnischen Wind. Ostmärkische Geschichten. 2. Aufl.   „    4.50
Dove, A., Caracosa. Historischer Roman. 2 Bände. 2. Aufl.   „    9.—
Ebner-Eschenbach, Marie v., Die erste Beichte
Miniatur-Ausgabe. Mit Porträt. 2. Aufl.
  „    2.—
—„— Božena. Erzählung. 12. Aufl.   „    4.—
—„— Erzählungen. 6. Aufl.   „    4.—
—„— Margarete. 8. Aufl.   „    3.—
Ebner-Eschenbach, Moritz v., Hypnosis perennis — Ein Wunder des heiligen Sebastian. Zwei Wiener Geschichten   „    3.—
Eckstein, Ernst, Nero. Roman. 9. Aufl.   „    6.—
El-Correï, Das Tal des Traumes. Roman. 2. Aufl.   „    5.—
Enderling, Paul, Zwischen Tat und Traum. Roman.   „    5.—
—„— Der Hungerhaufen und andere Novellen   „    3.—
Engel, Eduard, Paraskewúla und andere Novellen   „    4.50
Fontane, Theodor, Ellernklipp. 4. Aufl.   „    4.—
—„— Grete Minde. 8. Aufl.   „    3.50
—„— Quitt. Roman. 6. Aufl.   „    4.—
—„— Vor dem Sturm. Roman. 17. u. 18. Aufl.   „    5.—
—„— Unwiederbringlich. Roman. 8. Aufl.   „    4.50
Franzos, K. E., Der Gott des alten Doktors. Erzählung. 2. Aufl.   „    3.—
—„— Die Juden von Barnow. Geschichten. 10. Aufl.   „   4.—
—„— Ein Kampf ums Recht. Roman. 2 Bände. 7. Aufl.   „    7.50
—„— Mann und Weib. Novellen. 2. Aufl.   „    3.50
—„— Moschko von Parma. Erzählung. 5. Aufl.   „    3.50
—„— Neue Novellen. 2. Aufl.   „    3.—
—„— Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten. 9. u. 10. Aufl.   „    5.50
—„— Der Präsident. Erzählung. 4. Aufl.   „    3.—
—„— Die Reise nach dem Schicksal. Erzählung. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Judith Trachtenberg. Erzählung. 6. Aufl.   „    4.—
—„— Der Wahrheitsucher. Roman. 2 Bände. 3. Aufl.   „    8.—
—„— Leib Weihnachtskuchen und sein Kind. Erzählung. 3. Aufl.   „    3.50
Frei, Leonore, Das leuchtende Reich. Roman   „    5.—
Frey, Adolf, Die Jungfer von Wattenwil Historischer Schweizerroman. 5. Aufl.   „    6.—
Fulda. L., Lebensfragmente. Novellen. 3. Aufl.   „    3.—
Gleichen-Rußwurm, A. v., Vergeltung. Roman   „    4.50
Grimm, Herman, Unüberwindliche Mächte. Roman. 2 Bde. 3. Aufl.   „  10.—
Grisebach, Ed., Kin-ku-ki-kuan. Chinesisches Novellenbuch   „    4.—
Harbou, Thea v., Der unsterbliche Acker. Ein Kriegsroman 7. u. 8. Aufl.   „    3.50
—„— Die nach uns kommen. Roman. 4. u. 5. Aufl.   „    4.—
—„— Die Flucht der Beate Hoyermann. 9.-20. Aufl.   „    4.—
—„— Der Krieg und die Frauen. Novellen. Neue wohlfeile Ausgabe. 76.-85. Tausend M. 1.80 u.   „    3.—
—„— Die Masken des Todes. Sieben Geschichten in einer. 2.-8. Aufl.   „    3.50
Hartmann, Alfred Georg,, Die Fahrt ins Himmelreich Ein Künstlerroman aus Holland   „    3.50
Haushofer, Max, Geschichten zwischen Diesseits und Jenseits Ein moderner Totentanz. 2. Aufl.   „    4.50
—„— Planetenfeuer. Ein Zukunftsroman   „    4.50
Heer, J. C., Der lange Balthasar. Dorfroman. 21.-30. Aufl.   „    3.—
—„— Da träumen sie von Lieb’ und Glück! Drei Schweizer Novellen. 26. u. 27. Aufl.   „    4.50
—„— Joggeli. Geschichte einer Jugend. 23.-25. Aufl.   „    4.50
—„— Der König der Bernina. Roman. 91.-95. Aufl.   „    4.50
—„— Laubgewind. Roman. 61.-65. Aufl.   „    4.50
—„— Felix Notvest. Roman. 26.-28. Aufl.   „    4.50
—„— Was die Schwalbe sang. Geschichten für Jung und Alt. 13.-20. Aufl.   „    3.50
—„— An heiligen Wassern. Roman. 86.-90. Aufl.   „    4.50
Heer, J. C., Der Wetterwart. Roman. 86.-90. Aufl.   „    4.50
Heilborn, Ernst, Kleefeld. Roman   „     3.—
Herzog, Rudolf,. Der Abenteurer. Roman. 41.-45. Aufl.   „    5.—
—„— Der Adjutant. Roman. 13. u. 14. Aufl.   „    3.50
—„— Die Burgkinder. Roman. 101.-105. Aufl.   „    5.—
—„— Der Graf von Gleichen. Ein Gegenwartsroman. 29.-33. Aufl.   „    4.50
—„— Es gibt ein Glück ... Novellen. 34.-36. Aufl.   „    4.—
—„— Hanseaten. Roman. 81.-85. Aufl.   „    5.—
—„— Das große Heimweh. Roman. 81.-90. Aufl.   „    6.—
—„— Das Lebenslied. Roman. 76.-80. Aufl.   „    5.—
—„— Die vom Niederrhein. Roman. 61.-65. Aufl.   „    5.—
—„— Der alten Sehnsucht Lied. Erzählungen. 13. u. 14. Aufl.   „    3.50
—„— Die Welt in Gold. Novelle. 16.-20. Aufl.   „    2.50
—„— Die Wiskottens. Roman. 111.-120. Aufl.   „    5.—
—„— Das goldene Zeitalter. Roman. 11. u. 12. Aufl.   „    3.50
Heyse, Paul, L’Arrabbiata. Novelle. 14. Aufl.   „    2.40
—„— L’Arrabbiata und andere Novellen. 10. Aufl.   „    4.50
—„— Buch der Freundschaft. Novellen. 7. Aufl.   „    4.50
—„— Das Ewigmenschliche. Erinnerungen aus einem Alltagsleben — Ein Familienhaus. Novelle. 2.-4. Aufl.   „    5.—
—„— Die Geburt der Venus. Roman. 5. Aufl.   „    5.—
—„— In der Geisterstunde und andere Spukgeschichten. 4. Aufl.   „    3.50
—„— Über allen Gipfeln. Roman. 9. u. 10. Aufl.   „    4.50
—„— Das Haus zum ungläubigen Thomas und andere Novellen   „    4.50
—„— Kinder der Welt. Roman. 2 Bände. 29. u. 30. Aufl.   „    6.80
—„— Helldunkles Leben. Novellen. 2.-4. Aufl.   „    5.—
—„— Himmlische und irdische Liebe und andere Novellen. 2. Aufl.   „    4.50
—„— Neue Märchen. 4. Aufl.   „    5.—
—„— Martha’s Briefe an Maria. 2. Aufl.   „    2.—
—„— Melusine und andere Novellen. 5. Aufl.   „    5.—
—„— Menschen und Schicksale. Charakterbilder. 2.-4. Aufl.   „    5.—
—„— Merlin. Roman. 12. Aufl. 2 Bände in 1 Band   „    5.80
—„— Ninon und andere Novellen. 4. Aufl.   „    5.—
—„— Novellen. Auswahl fürs Haus. 3 Bände. 14. u. 15. Aufl.   „   10.—
—„— Letzte Novellen. Mit Begleitwort von E. Petzet. 2.-4. Aufl.   „    3.50
—„— Novellen vom Gardasee. 8. u. 9. Aufl.   „    3.40
—„— Meraner Novellen. 12. Aufl.   „    4.50
—„— Neue Novellen. 6. Aufl.   „    4.50
—„— Im Paradiese. Roman. 2 Bände. 16. Aufl.   „    6.80
—„— Plaudereien eines alten Freundespaars. 2.-4. Aufl.   „    4.50
—„— Das Rätsel des Lebens und andere Charakterbilder. 4. Aufl.   „    6.—
—„— Der Roman der Stiftsdame. 15. u. 16. Aufl.   „    3.40
—„— Der Sohn seines Vaters und andere Novellen. 3. Aufl.   „    4.50
—„— Crone Stäudlin. Roman. 5. u. 6. Aufl.   „    3.40
—„— Gegen den Strom. Eine weltliche Klostergeschichte. 5. u. 6. Aufl.   „    3.40
—„— Moralische Unmöglichkeiten und andere Novellen. 3. Aufl.   „    5.50
—„— Victoria regia und andere Novellen. 2.-4. Aufl.   „    5.—
—„— Villa Falconieri und andere Novellen. 2. Aufl.   „    4.50
—„— Vroni und andere Novellen   „    4.50
—„— Weihnachtsgeschichten. 4. Aufl.   „    5.—
—„— Xaverl und andere Novellen   „    4.50
Hillern, W. v., Der Gewaltigste. Roman. 5. u. 6. Aufl.   „    4.50
—„— ’s Reis am Weg. 3. Aufl.   „    2.50
—„— Ein Sklave der Freiheit. Roman. 3. Aufl.   „    6.—
—„— Ein alter Streit. Roman. 3. Aufl.   „    4.—
Hirschfeld, Georg, Nachwelt. Der Roman eines Starken 4. u. 5. Aufl.   „    5.—
Höcker, Paul Oskar, Väterchen. Roman. 2. Aufl.   „    4.—
Hofer, Klara, Alles Leben ist Raub Der Weg Friedrich Hebbels. 2.Aufl.   „    5.—
—„— Das Schwert im Osten. Erzählung. 2. u. 3. Aufl.   „    3.—
Hoffmann, Hans, Bozener Märchen und Mären. 3.Aufl.   „    3.50
—„— Ostseemärchen. 3. Aufl.   „    4.—
Hopfen, Hans, Der letzte Hieb. Eine Studentengeschichte. 6. Aufl.   „    3.50
Huch, Ricarda, Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren Roman. 15. u. 16. Aufl.   „    5.—
Jugenderinnerungen eines alten Mannes, siehe Kügelgen
Junghans, Sophie, Schwertlilie. Roman. 2. Aufl.   „    5.—
Kaiser, Isabelle, Seine Majestät! Novellen. 2. Aufl.   „    3.50
—„— Wenn die Sonne untergeht. Novellen. 3. Aufl.   „    3.50
Keller, Gottfried, Der grüne Heinrich. Roman 3 Bände. 81.-85. Aufl.   „  11.40
—„— Die Leute von Seldwyla. 2 Bände. 89.-94. Aufl.   „    7.60
—„— Züricher Novellen. 83.-87. Aufl.   „    3.80
—„— Martin Salander. Roman. 49.-53. Aufl.   „    3.80
—„— Das Sinngedicht. Novellen - Sieben Legenden. 71.-75. Aufl.   „    3.80
—„— Sieben Legenden. Miniatur-Ausgabe. 8. Aufl.   „    3.—
—„— Romeo und Julia auf dem Dorfe. Erzählung. Miniatur-Ausgabe. 9. Aufl.   „    3.—
Knudsen, J., Angst. Der junge Martin Luther. Berechtigte Übersetzung von Mathilde Mann. 2. Aufl.   „    5.—
Krauel, Wilhelm, Von der andern Art. Roman   „    4.—
—„— Das Erbe der Väter. Ein Lebensbericht   „    4.50
Kügelgen, Wilhelm v., Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Original-Ausgabe. 26. u. 27. Aufl.   „    2.40
Kurz, Hermann (Der Schweizer), Sie tanzen Ringel-Ringel-Reihn. Roman. 2. u. 3. Aufl.   „    5.—
Kurz, Isolde, Unsere Carlotta. Erzählung   „    3.—
—„— Italienische Erzählungen. 2. Aufl.   „    4.50
—„— Frutti di Mare. Zwei Erzählungen   „    3.—
—„— Genesung-Sein Todfeind-Gedankenschuld. Erzählungen.   „    5.—
—„— Lebensfluten. Novellen. 2. Aufl.   „    4.—
—„— Florentiner Novellen. 6. u. 7. Aufl.   „    4.50
—„— Phantasieen und Märchen   „    3.—
—„— Die Stadt des Lebens. Schilderungen aus der Florentinischen Renaissance. 7. Aufl.   „    3.50
Langmann, Philipp, Leben und Musik. Roman   „    4.50
Lilienfein, Heinrich, Von den Frauen und einer Frau Erzählungen und Geschichten. 2. Aufl.   „    3.—
—„— Ideale des Teufels. Eine boshafte Kulturfahrt. 2. Aufl.   „    3.50
—„— Der versunkene Stern. Roman. 2. u. 3. Aufl.   „    6.—
—„— Die große Stille. Roman. 4. Aufl.   „    5.50
—„— Ein Spiel im Wind. Roman. 1.-3. Aufl.   „    5.—
Lindau, Paul, Die blaue Laterne. Berliner Roman. 2 Bände 7. Aufl.   „    7.50
—„— Arme Mädchen. Roman. 11. Aufl.   „    5.—
—„— Spitzen. Roman. 11. u. 12. Aufl.   „    5.—
—„— Der Zug nach dem Westen. Roman. 12. Aufl.   „    5.—
Mahn, Paul, Der Kamerad. Roman   „    4.—
Mauthner, Fritz, Aus dem Märchenbuch der Wahrheit. Fabeln und Gedichte in Prosa. 2. Aufl. von »Lügenohr«   „    4.—
Meyer-Förster, Wilh., Eldena. Roman. 2. Aufl.   „    4.—
Meyerhof-Hildeck, Leonie, Das Ewig-Lebendige Roman. 2. Aufl.   „    3.50
—„— Töchter der Zeit. Münchner Roman   „    4.—
Moreck, Curt, Büßer des Gefühls. Novellen   „    4.50
Moersberger, Felicitas Rose, Pastor Verden. Ein Heideroman. 2.-5. Aufl.   „    4.50
Muellenbach, E. (E. Lenbach), Abseits. Erzählungen   „    4.—
—„— Aphrodite und andere Novellen   „    4.—
—„— Vom heißen Stein. Roman   „    4.—
Niessen-Deiters, Leonore, Leute mit und ohne Frack. Erzählungen u. Skizzen. Buchschmuck von Hans Deiters. 2. Aufl.   „    4.—
—„— Im Liebesfalle. Buchschmuck von Hans Deiters   „    4.—
—„— Mitmenschen. Buchschmuck von Hans Deiters   „    4.—
Olfers, Marie v., Neue Novellen.   „    4.50
—„— Die Vernunftheirat und andere Novellen.   „    4.—
Pietsch, Otto, Das Gewissen der Welt. Roman. 8. Aufl.   „    6.—
—„— Taten und Schicksale. Erzählungen. 1. u. 2. Aufl.   „    3.50
Prel, Karl du, Das Kreuz am Ferner. Roman. 4. Aufl.   „    6.—
Riehl, W. H., Aus der Ecke. Novellen. 5. Aufl.   „    5.—
—„— Am Feierabend. Novellen. 4. Aufl.   „    5.—
—„— Geschichten aus alter Zeit. 1. Reihe. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Geschichten aus alter Zeit. 2. Reihe. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Lebensrätsel. Novellen. 4. Aufl.   „    5.—
—„— Ein ganzer Mann. Roman. 4. Aufl.   „    7.—
—„— Kulturgeschichtliche Novellen. 7. Aufl.   „    5.—
—„— Neues Novellenbuch. 3. Aufl.   „    5.—
Rittberg, Gräfin Charlotte, Der Weg zur Höhe. Roman   „    4.—
Rommel-Hohrath, Clara, Im Banne Roms. Roman   „    5.—
Roquette, Otto, Das Buchstabierbuch der Leidenschaft. Roman. 2 Bände   „    5.—
Rosner, Karl, Der deutsche Traum. Ein Wiener Roman aus der Revolutionszeit. 1.-5. Aufl.   „    5.50
Seidel, HeinrichLeberecht Hühnchen. Gesamt-Ausgabe. 12. Aufl. (61.-65. Tsd.)   „    5.—
—„— Vorstadtgeschichten. Gesamt-Ausgabe. 1. Reihe. 2. Aufl. (4. u. 5. Tsd.)   „    5.—
—„— Vorstadtgeschichten. Gesamt-Ausgabe. 2. Reihe. (4. Tsd.)   „    5.—
—„— Heimatgeschichten. Gesamt-Ausg. 1. Reihe. 2. Aufl. (3. Tsd.)   „    5.—
—„— Heimatgeschichten. Gesamt-Ausgabe. 2. Reihe   „    5.—
—„— Von Perlin nach Berlin. Aus meinem Leben. Gesamt-Ausgabe   „    5.—
—„— Phantasiestücke. Gesamt-Ausgabe   „    5.—
Seidel, Heinrich,Reinhard Flemmings Abenteuer zu Wasser und zu Lande. 3 Bände. 10. Tsd. je  „    M.4.—
—„— Wintermärchen. 2 Bände. 4. Tsd. je  „    4.—
—„— Ludolf Marcipanis und Anderes. Aus dem Nachlasse herausgegeben von H. W. Seidel. 2. Tsd. je  „    4.—
Seidel, H. Wolfgang, Erinnerungen an Heinrich Seidel. 2. Aufl.   „    5.—
Skowronnek, R., Der Bruchhof. Roman. 5. Aufl.   „    4.—
Speidel, Felix, Hindurch mit Freuden. Novellen   „    4.—
Stegemann, Hermann, Der Gebieter. Roman   „    3.50
—„— Stille Wasser. Roman   „    4.—
Steinart, Armin, Der Hauptmann. Eine Erzählung aus dem Weltkriege. 6.-10. Aufl.   „    3.50
Stratz, Rudolph, Alt Heidelberg, du Feine ... Roman einer Studentin. 15.-17. Aufl.   „    5.—
—„— Buch der Liebe. Sechs Novellen. 4. Aufl.   „    3.50
—„— Die ewige Burg. Roman. 8. Aufl.   „    4.50
—„— Der du von dem Himmel bist. Roman. 8. u. 9. Aufl.   „    4.50
—„— Du bist die Ruh’. Roman. 9. u. 10. Aufl.   „    4.50
—„— Es war ein Traum. Berliner Novellen. 6. Aufl.   „    4.50
—„— Seine englische Frau. Roman. 36.-40. Aufl.   „    5.50
—„— Für Dich. Roman. 26.-28. Aufl.   „    5.—
—„— Gib mir die Hand. Roman. 12.-14. Aufl.   „    5.—
—„— Herzblut. Roman. 22. u. 23. Aufl.   „    5.—
—„— Ich harr’ des Glücks. Novellen. 6. Aufl.   „    4.50
—„— Der arme Konrad. Roman. 5. u. 6. Aufl.   „    4.50
—„— Liebestrank. Roman. 16.-20. Aufl.   „    5.—
—„— Montblanc. Roman. 10. Aufl.   „    4.—
—„— Du Schwert an meiner Linken Ein Roman aus der deutschen Armee. 41.-45. Aufl.   „    5.50
—„— Stark wie die Mark. Roman. 28.-30. Aufl.   „    6.—
—„— Die zwölfte Stunde. Novellen. 1.-5. Tsd.   „    3.—
—„— Der weiße Tod. Roman. 24. u. 25. Aufl.   „    4.—
—„— Die letzte Wahl. Roman. 7. u. 8. Aufl.   „    5.—
Sudermann, Hermann, Es war. Roman. 56.-58. Aufl.   „    6.—
—„— Geschwister. Zwei Novellen. 35.-37. Aufl.   „    4.50
—„— Jolanthes Hochzeit. Erzählung. 31.-33. Aufl.   „    3.—
—„— Der Katzensteg. Roman. 101.-105. Aufl.   „    4.50
—„— Das Hohe Lied. Roman. 61.-65. Aufl.   „    6.—
—„— Die indische Lilie. Sieben Novellen. 21.-25. Aufl.   „    4.—
—„— Frau Sorge. Roman. 156.-160. Aufl. Mit Jugendbildnis   „    4.50
—„— Im Zwielicht. Zwanglose Geschichten. 37. u. 38. Aufl.   „    3.—
Telmann, Konrad, Trinacria. Sizilische Geschichten   „    5.—
Trojan, Johannes, Das Wustrower Königsschießen und andere Humoresken. 4. u. 5. Aufl.   „    3.—
Uxkull, Gräfin Lucy, Rote Nelken. Ein sozialer Roman   „    5.—
Vockeradt, Emma, Wanderer im Dunkeln. Roman   „    4.—
Vogt, Martha, An schwarzen Wassern. Zwei Novellen   „    3.50
Vollert, Konrad, Sonja. Roman   „    5.50
Voß, Richard, Alpentragödie. Roman. 5. u. 6. Aufl.   „    5.50
—„— Römische Dorfgeschichten. 5. vermehrte Aufl.   „    4.50
—„— Erdenschönheit. Ein Reisebuch. 2. Aufl.   „    3.50
Voß, RichardDu mein Italien. Aus meinem römischen Leben 2. u. 3. Aufl..   „    5.50
—„— Der Polyp und andere römische Erzählungen. 2. Aufl.   „    5.—
—„— Richards Junge (Der Schönheitssucher). Roman. 3. Aufl.   „    6.—
Watzdorf-Bachoff, E. v., Maria und Yvonne Geschichte einer Freundschaft. 2. Aufl.   „    4.50
Wilbrandt, Adolf, Adams Söhne. Roman. 3. Aufl.   „    5.50
—„— Adonis und andere Geschichten. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Meister Amor. Roman. 3. Aufl.   „    4.50
—„— Das lebende Bild und andere Geschichten. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Dämonen und andere Geschichten. 3. u. 4. Aufl.   „    4.—
—„— Der Dornenweg. Roman. 5. Aufl.   „    5.—
—„— Erika — Das Kind. Erzählungen. 3. Aufl.   „    4.50
—„— Fesseln. Roman. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Franz. Roman. 3. Aufl.   „    4.50
—„— Die glückliche Frau. Roman. 4. Aufl.   „    4.—
—„— Fridolins heimliche Ehe. 4. Aufl.   „    3.50
—„— Schleichendes Gift. Roman. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Hermann Ifinger. Roman. 7. Aufl.   „    5.—
—„— Irma. Roman. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Hildegard Mahlmann. Roman. 4. Aufl.   „    4.50
—„— Ein Mecklenburger. Roman. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Novellen   „    4.—
—„— Opus 23 und andere Geschichten. 2. Aufl.   „    4.—
—„— Die Osterinsel. Roman. 6. Aufl.   „    5.—
—„— Vater Robinson. Roman. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Familie Roland. Roman. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Die Rothenburger. Roman. 9.-11. Aufl.   „    4.—
—„— Der Sänger. Roman. 4. Aufl.   „    5.—
—„— Die Schwestern. Roman. 2. u. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Sommerfäden. Roman. 2. u. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Am Strom der Zeit. Roman. 2. u. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Die Tochter. Roman. 2. u. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Vater und Sohn und andere Geschichten. 2. Aufl.   „    4.—
—„— Villa Maria. Roman. 3. Aufl.   „    4.—
—„— Große Zeiten und andere Geschichten. 3. Aufl.   „    4.—
Wildenbruch, E. v., Schwester-Seele. Roman. 20. u. 21. Aufl.   „    5.—
Wohlbrück, Olga, Die neue Rasse. Roman. 2.-5. Aufl.   „    6.—
Worms, C., Aus roter Dämmerung. Baltische Skizzen. 2. Aufl.   „    3.50
—„— Du bist mein. Zeitroman. 2. Aufl.   „    5.—
—„— Erdkinder. Roman. 4. Aufl.   „    4.50
—„— Die Stillen im Lande. Drei Erzählungen. 2. Aufl.   „    4.—
—„— Überschwemmung. Eine baltische Geschichte. 2. Aufl.   „    3.50

Für geheftete Exemplare beträgt der Preis 1 Mark weniger