The Project Gutenberg eBook of Sämtliche Werke 21

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Title: Sämtliche Werke 21

Der Spieler. Der ewige Gatte : Zwei Romane

Author: Fyodor Dostoyevsky

Contributor: Dmitriĭ Vladimirovich Filosofov

Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky

Editor: Arthur Moeller van den Bruck

Translator: E. K. Rahsin

Release date: September 7, 2025 [eBook #76832]

Language: German

Original publication: Muenchen: Piper, 1910

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 21 ***

F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke

Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski,
Dmitri Philossophoff und anderen
herausgegeben von Moeller van den Bruck

Übertragen von E. K. Rahsin

Zweite Abteilung: Einundzwanzigster Band

F. M. Dostojewski

Der Spieler.
Der ewige Gatte

Zwei Romane

München und Leipzig
R. Piper u. Co.
1910

R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1910

Druck von Mänicke & Jahn, Rudolstadt.

Inhalt

Vorwort V
Der Spieler 1
Der ewige Gatte 269

Vorwort

Der Spieler“ gehört seinem Erscheinen nach in das Jahr 1867, steht also in der zeitlichen Folge zwischen „Rodion Raskolnikoff“ und „Idiot“.

Zu der Übersetzung einige Bemerkungen. Im russischen Original kommen Brocken von verschiedenen Sprachen vor, die beibehalten wurden, da sie zur Charakterisierung russischer Westler dienen und dem ganzen „Spieler“-Milieu den internationalen Anstrich geben. Ferner wurden einige schwer oder eigentlich überhaupt unübersetzbare Worte in russischer Form beibehalten, wie Franzusischka und Polatschki – Diminutive, bzw. Hohnformen mit einer sonst gar nicht wiederzugebenden Portion Verachtung. Das Bestimmende war dafür, daß Dostojewski gerade in diesem Roman mit seiner kosmopolitisch gefärbten Gesellschaftssphäre so überaus selbstbewußt, fast könnte man sagen verbissen national, nationalstolz, russenstolz auftritt. Endlich blieben auch hier wieder Babuschka und Matuschka unübersetzt, die ja wohl wörtlich Großmütterchen, bezw. Mütterchen heißen, aber doch ganz allgemein im Sprachgebrauch als Anrede für alte Frauen benutzt, bezw. zur Bezeichnung eines ganz allgemein mütterlichen Verhältnisses verwandt werden.

Der „Ewige Gatte“ fällt in der Chronologie der Werke Dostojewskis in das Jahr 1870, steht also in der zeitlichen Folge zwischen „Idiot“ und „Dämonen“.

E. K. R.

Der Spieler

I.

Endlich bin ich nach vierzehntägiger Abwesenheit wieder hier eingetroffen. Die Unsrigen sind schon seit drei Tagen in Roulettenburg. In meiner Annahme, daß sie mich Gott weiß wie sehnsüchtig erwarteten, täuschte ich mich sehr. Der General blickte höchst selbstbewußt drein, als er mich empfing, sprach mit mir nur in herablassendem Ton und schickte mich dann zu seiner Schwester. Jedenfalls ist es klar, daß sie inzwischen irgendwo Geld aufgetrieben haben. Dennoch wollte es mir scheinen, daß der General sich trotz all seines Selbstbewußtseins ein wenig vor mir schämte und meinem Blick auswich. Marja Filippowna war sehr beschäftigt und sprach nur flüchtig mit mir. Das Geld nahm sie jedoch in Empfang, zählte es nach und hörte sogar meinen ganzen Bericht an. Zu Tisch wurden Mesenzoff und der jämmerliche Franzose erwartet, und außer ihnen noch ein Engländer. Natürlich: haben sie Geld, so muß doch sofort ein Diner gegeben werden. Sie werden doch nicht die Moskowiter verleugnen! Polina Alexandrowna fragte mich nur en passant, weshalb ich so lange fortgeblieben sei, worauf sie, ohne meine Antwort abzuwarten, an mir vorüberging. Selbstverständlich lag Absicht in diesem Benehmen. Wir sind uns übrigens noch Erklärungen schuldig. Es hat sich mit der Zeit zu viel angesammelt.

Für mich war im vierten Stockwerk des Hotels ein kleines Zimmer reserviert worden. Hier weiß man, daß ich zur „Suite“ des Generals gehöre. Aus allem ist zu ersehen, daß sie bereits zu imponieren verstanden haben. Der General wird hier für einen der reichsten russischen Aristokraten gehalten. Vor Tisch bat er mich, für ihn zwei Tausendfrankennoten zu wechseln. Ich wechselte sie im Büro des Hotels. Jetzt wird man uns wenigstens eine Woche lang für Millionäre halten. Darauf wollte ich mit Mischa und Nadjä einen Spaziergang machen, wurde jedoch auf der Treppe zurückgerufen: der General ließ mich zu sich bitten. Es fiel ihm plötzlich ein, sich bei mir zu erkundigen, wohin ich die Kinder führen wolle. Nein, dieser Mensch ist entschieden nicht imstande, mir offen in die Augen zu sehen! Er würde es ja mehr als gern tun, doch erwidere ich seinen Blick jedesmal so offen und kühl, d. h. so unehrerbietig, daß er sogleich verwirrt zur Seite blicken muß. In sehr hochtrabenden Ausdrücken, eine Phrase an die andere gereiht – weshalb er sich denn zum Schluß total verwirrte – gab er mir zu verstehen, daß ich mit den Kindern möglichst weit weg vom Kurhaus spazieren solle, am besten wohl irgendwo in den entlegeneren Teilen des Parks. Plötzlich ärgerte er sich über sich selbst und fügte schroff hinzu:

„Sonst bringen Sie sie womöglich noch in die Spielsäle und spielen mit ihnen Roulette ... Das heißt, pardon,“ unterbrach er sich, „Sie entschuldigen wohl meine Bemerkung, aber Sie sind ja als junger Mann noch ziemlich leichtsinnig und am Ende gar fähig, zu spielen. Jedenfalls habe ich, obschon ich nicht Ihr Mentor bin und diese Rolle auch durchaus nicht zu übernehmen wünsche, wohl das Recht, wenigstens den Wunsch zu äußern, daß Sie mich hier nicht etwa kompromittieren ...“

„Zum Spielen gehört Geld,“ versetzte ich ruhig „und da ich das nicht habe ...“

„Sie werden es im Augenblick erhalten,“ sagte er, leicht errötend, und wandte sich sogleich zum Schreibtisch, um nach seinem Notizbuch zu suchen. Es zeigte sich, daß ich noch hundertundzwanzig Rubel bei ihm zugute hatte.

„Wie berechnen wir denn das?“ fragte er stirnrunzelnd. „Wir müssen es in Taler übersetzen ... Hm! ... Nun, nehmen Sie hier hundert Taler, eine runde Summe – das übrige wird natürlich nicht verloren gehen.“

Schweigend nahm ich das Geld.

„Übrigens ... bitte sich durch meine Worte nicht gekränkt zu fühlen ... Sie sind so leicht verletzt ... Wenn ich diese Bemerkung gemacht habe, so tat ich es gewissermaßen nur, um vorzubeugen, um Sie zu warnen, und dieses Recht werden Sie mir doch wohl zugestehen ...“

Als ich, noch am Vormittage, mit den Kindern vom Spaziergang zurückkehrte, begegnete mir unterwegs eine ganze Kavalkade: es waren die Unsrigen, die eine Ausfahrt machten, um irgendwelche berühmte Ruinen zu besichtigen. Die Damen, Mademoiselle Blanche, Marja Filippowna und Polina, fuhren in einem schönen Wagen, den unsere drei Herren, der Franzose, der Engländer und der General, hoch zu Roß begleiteten. Die Vorübergehenden blieben stehen, um die elegante Gesellschaft anzustaunen. Also hatten sie wieder einmal Aufsehen erregt! Nur wird der General seinem Schicksal doch nicht entgehen können. Zusammen mit den viertausend Franken, die ich ihm gebracht und mit allem, was sie hier augenscheinlich noch aufgetrieben haben, können sie jetzt höchstens sieben- bis achttausend Franken besitzen. Das aber ist viel zu wenig für Mademoiselle Blanche.

Mademoiselle Blanche ist gleichfalls in unserem Hotel abgestiegen, zusammen mit ihrer Mutter. Und auch der Franzusischka soll sich hier irgendwo niedergelassen haben. Die Bedienten nennen ihn „Monsieur le comte“ und die Mutter der Mademoiselle Blanche heißt „Madame la comtesse“. Nun, wer kann’s schließlich wissen, vielleicht sind sie auch wirklich comte et comtesse.

Ich wußte es im voraus, daß dieser Monsieur le comte mich nicht erkennen würde, wenn wir uns in Gegenwart anderer begegnen sollten. Dem General fiel es natürlich nicht ein, uns miteinander bekannt zu machen oder wenigstens mich ihm vorzustellen; Monsieur le comte aber ist in Rußland gewesen und weiß daher ganz genau, wie gering der Vogel ist, den sie „un outchitel[1] nennen. Übrigens kennt er mich sehr gut. Doch um die Wahrheit zu gestehen: ich erschien völlig unaufgefordert zum Diner. Ich glaube, der General hatte mich ganz vergessen, denn sonst hätte er mich sicherlich an die Table d’hote geschickt. Ich erschien also ungebeten und fing daher einen sehr erfreuten Blick des Generals auf. Die gute Marja Filippowna wies mir sogleich einen Platz an. Und die Anwesenheit Mister Astleys rettete mich vollends: ich gehörte nun ohne mein Zutun gleichfalls zur Gesellschaft.

Diesen seltsamen Engländer habe ich in Preußen kennen gelernt. Wir saßen im Kupee einander gegenüber, als ich den Unsrigen nachreiste. Und dann bin ich ihm nachher noch einmal in der Schweiz begegnet, gleichfalls auf der Reise, unweit der französischen Grenze. Ich war aber nicht wenig überrascht, ihn plötzlich hier in Roulettenburg anzutreffen.

Noch nie in meinem Leben habe ich einen so schüchternen Menschen gesehen! Er ist bis zur Unglaublichkeit, geradezu bis zur unglaublichsten Dummheit schüchtern, was er natürlich selbst ganz genau weiß; denn daß er nicht dumm ist, sieht man ihm auf den ersten Blick an. Im übrigen ist er ein sympathischer, stiller Mensch. Bei unserer ersten Begegnung hatte ich ihn sogar zum Reden gebracht: er hatte mir erzählt, daß er in diesem Sommer am Nordkap gewesen sei und sehr gern die Messe in Nishnij Nowgorod besucht hätte. Wie er mit dem General bekannt geworden ist, weiß ich nicht. Jedenfalls scheint er in Polina grenzenlos verliebt zu sein. Als sie eintrat, wurde er feuerrot. Offenbar war er sehr froh darüber, mich zum Tischnachbar zu haben und wie es scheint, hält er mich bereits für seinen besten Freund.

Bei Tisch führte der Franzusischka das große Wort; er benahm sich allen gegenüber nachlässig, wenn nicht gar geringschätzig, und zeigte wieder mal unverhohlen, wie sehr er von sich eingenommen ist. In Moskau, entsinne ich mich, blies er noch auf einer ganz anderen Flöte. Diesmal sprach er unendlich viel von Finanzen und von der russischen Politik. Der General wagte mitunter, ihm zu widersprechen, doch tat er es nur sehr vorsichtig und bescheiden, offenbar nur deshalb, um seine vermeintliche Autorität nicht gänzlich einzubüßen.

Ich war ziemlich verstimmt. Natürlich stellte ich mir schon nach dem ersten Gang wie gewöhnlich die Frage: „Wozu plagst du dich überhaupt mit diesem General, weshalb hast du ihm und ihnen allen nicht schon längst den Rücken gekehrt?“

Hin und wieder blickte ich zu Polina Alexandrowna hinüber: sie übersah mich jedoch vollkommen. Das Spiel endete damit, daß ich wütend wurde und mich entschloß, einfach – frech zu werden. Ich wollte mich ungebeten in ihr Gespräch einmischen, nur um mit dem Franzosen anzubändeln. So wandte ich mich plötzlich an den General und bemerkte laut – ich glaube, ich unterbrach ihn sogar –, daß es den Russen in diesem Sommer nahezu unmöglich sei, irgendwo an einer Table d’hote zu speisen. Der General sah mich verwundert an.

„... Wenn Sie sich als Mensch eine gewisse Selbstachtung nicht versagen,“ fuhr ich unbekümmert fort, „so setzen Sie sich damit direkt Beleidigungen aus und müssen sich eine geradezu kränkende Behandlung gefallen lassen. In Paris und am Rhein, ja sogar in der Schweiz sitzen an der Table d’hote unter dem unvermeidlichen Polengesindel soviele Französchen, die mit diesem sympathisieren, daß es einem ganz unmöglich ist, auch nur ein Wort zu sagen, wenn man eben das Unglück hat, bloß Russe zu sein.“

Ich sagte es auf französisch. Der General sah mich an, als wisse er nicht, ob er sich ärgern oder nur wundern sollte: darüber, daß ich mich so vergessen konnte.

„Dann haben Sie wohl schlimme Erfahrungen gemacht,“ warf unser Franzusischka nachlässig und spöttisch hin.

„Ja, aber dafür habe ich dann in Paris einem Polen und einem französischen Offizier, der dem Polen beistand, einmal um so aufrichtiger meine russische Meinung gesagt. Das änderte die Sachlage sogleich bedeutend zu meinen Gunsten. Und als ich dann noch einmal bei Tisch zum besten gab, wie wenig ehrerbietig ich mich über den Kaffee des päpstlichen Prälaten geäußert, ging ein Teil der Franzosen sogar auf meine Seite über.“

„Über den Kaffee? ...“ fragte der General in würdevollem Erstaunen und blickte fast die ganze Tischgesellschaft fragend an. Der Franzose musterte mich mißtrauisch.

„Ja, über den Kaffee,“ bestätigte ich. „Da ich zwei Tage lang überzeugt war, daß ich in unserer Angelegenheit auf kurze Zeit nach Rom würde reisen müssen, begab ich mich in die Kanzlei der Gesandtschaft des heiligen Vaters zu Paris, um meinen Paß visieren zu lassen. Dort empfing mich ein kleiner Abbé, ein hageres Kerlchen von etwa fünfzig Jahren, mit frostiger Physiognomie. Er hörte mich höflich an und bat mich darauf nur trocken, etwas zu warten. Ich hatte zwar wenig Zeit, doch setzte ich mich hin, zog die ‚Opinion nationale‘ hervor und begann zu lesen. Der Leitartikel war ein einziges großes Geschimpf über Rußland. Inzwischen hörte ich, wie durch das Nebenzimmer jemand zum Monseigneur geführt wurde; ich sah, wie der Abbé ihn begrüßte. Ich wandte mich zum zweitenmal mit meiner Bitte an ihn; er bat mich in noch trockenerem Tone, mich zu gedulden. Nach kurzer Zeit trat wieder ein Unbekannter ins Zimmer – es schien ein Österreicher zu sein. Der Abbé hörte ihm aufmerksam zu, während dieser sein Anliegen vorbrachte und ließ ihn dann sogleich nach oben führen. Das ärgerte mich nicht wenig. Ich erhob mich, trat auf ihn zu und sagte in nicht mißzuverstehendem Tone, daß Monseigneur, da er doch augenscheinlich empfange, wohl auch mein Anliegen ohne Aufschub erledigen könne. Mein Abbé aber prallte förmlich zurück vor Verwunderung und maß mich mit einem unbeschreiblichen Blick. Er konnte es einfach nicht fassen, daß ein nichtswürdiger Russe sich mit den anderen, die sein Monseigneur empfing, gleichstellen wollte! Er maß mich mit unendlicher Verachtung vom Kopf bis zu den Füßen und sagte in einem Tone, dem man die Freude, mich verletzen zu können, sehr deutlich anhörte:

‚Ja, glauben Sie denn etwa, daß Monseigneur Ihretwegen seinen Kaffee wird kalt werden lassen?‘

Da wurde ich wütend und sagte zu ihm, daß der Teufel seinen Kaffee holen könne, ich schere mich nicht drum, ‚und wenn Sie mir nicht im Augenblick meinen Paß mit der Visa zurückbringen, so gehe ich selbst zum Monseigneur,‘ schloß ich.

‚Was! Während bei ihm der Kardinal sitzt!‘ schrie das Kerlchen, entsetzt vor mir zurückweichend, und plötzlich stürzte er zur Tür, vor der er sich mit ausgebreiteten Armen wie ein Kreuz hinstellte und eine Miene aufsetzte, die mir sagen sollte, daß er eher zu sterben gewillt sei als von seinem Platz zu weichen.

Da sagte ich ihm, ich sei ein Ketzer und Barbar und alle seine Erzbischöfe, Kardinäle, Monseigneurs und wie sie da hießen, gingen mich absolut nichts an. Kurz ich gab ihm zu verstehen, daß ich meinen Willen unbedingt durchsetzen würde. Er blickte mich haßerfüllt an, riß mir meinen Paß aus der Hand und brachte ihn nach oben zum Monseigneur. Nach einer Minute kam er zurück: der Paß war visiert. Hier, wenn’s gefällig ist, sich davon zu überzeugen ...“ Ich nahm den Paß aus meiner Brusttasche und zeigte die römische Visa.

„Sie haben indes ...“ begann der General, doch der Franzose unterbrach ihn halb lachend:

„Was Sie rettete, war, daß Sie sich für einen hérétique und barbare ausgaben. Cela n’était pas si bête.

„Ja, wie sollte es denn auch anders sein, wer könnte denn hier unsere Russen achten?“ fuhr ich fort. „Die wagen ja hier, wenn sie an einer Table d’hote sitzen, kein Wort zu sagen, und sind womöglich sofort bereit, falls jemand es wünschte, ihre Nationalität zu verleugnen und sich von ganz Rußland loszusagen! In Paris wenigstens begann man, sich viel aufmerksamer zu mir zu verhalten, nachdem ich ihnen von meinem Streit mit dem Abbé erzählt hatte. Ein dicker polnischer Pan, der bis dahin die erste Rolle an der Table d’hote gespielt hatte, mußte sich hinfort mit der zweiten Rolle begnügen. Ja, die Franzosen nahmen es nachher sogar ruhig hin, daß ich ihnen von einem Menschen erzählte, auf den ein französischer Chasseur im Jahre 1812 geschossen hatte, einzig um sein Gewehr zu entladen. Dieser Mensch war damals ein zehnjähriger Knabe und seine Familie hatte Moskau nicht rechtzeitig vor dem Einzug der Franzosen verlassen können.“

„Das kann nicht wahr sein,“ brauste mein Französchen auf. „Ein französischer Soldat wird nicht auf ein Kind schießen!“

„Indessen war es so,“ versetzte ich unbeirrt. „Mein Gewährsmann war ein ehrwürdiger verdienstvoller Hauptmann a. D. und ich habe selbst die Schramme auf der Wange des Betreffenden gesehen, den die Kugel zum Glück nur gestreift hat.“

Der Franzose begann sehr schnell und sehr erregt zu sprechen. Der General wollte ihm bereits beipflichten, ich schlug ihm aber vor, doch wenigstens die Auszüge aus den Memoiren des 1812 in französische Gefangenschaft geratenen Generals Perowskij zu lesen. Da unterbrach uns endlich Marja Filippowna, die von etwas anderem zu sprechen begann, um dieses Gespräch zu beenden. Der General war sehr unzufrieden mit mir, denn das Französchen und ich hatten unsere Stimmen zum Schluß mehr als nötig erhoben. Doch Mr. Astley schien mein Streit mit dem anderen sehr gefallen zu haben; nach Tisch lud er mich zu einem Glase Wein ein.

Gegen Abend gelang es mir, mit Polina Alexandrowna unter vier Augen zu sprechen. Es war das auf dem Spaziergang. Wir gingen alle in den Park zum Kurhaus. Polina setzte sich auf eine Bank gegenüber dem Springbrunnen und erlaubte Nadenjka, in der Nähe mit anderen Kindern zu spielen. Auch ich erlaubte meinem Mischa, zum Springbrunnen zu gehen, und so blieben wir endlich allein.

Natürlich begannen wir sogleich von Geschäftlichem zu sprechen. Polina war einfach empört, als ich ihr im ganzen nur siebenhundert Gulden einhändigte. Sie hatte mit aller Bestimmtheit erwartet, daß ich ihr für ihre in Paris versetzten Brillanten wenigstens zweitausend Gulden, wenn nicht noch mehr, bringen würde.

„Ich brauche vor allen Dingen und unter allen Umständen Geld,“ sagte sie, „und ich muß es mir verschaffen, ich muß! Sonst bin ich verloren!“

Ich begann zu fragen, was in meiner Abwesenheit geschehen war.

„Nichts weiter, als daß wir aus Petersburg zwei Depeschen erhalten haben: zuerst die Nachricht, daß es der Babuschka sehr schlecht gehe; und nach zwei Tagen, daß sie, glaube ich, im Sterben liege. Diese Nachricht stammt von Timofei Petrowitsch,“ fügte Polina hinzu, „er aber ist ein pedantisch gewissenhafter Mensch. Und jetzt erwarten wir die endgültige Nachricht.“

„So sind denn jetzt alle voll Hoffnung?“ fragte ich.

„Versteht sich, alle und alles; haben wir doch ganze sechs Monate nur noch darauf gewartet.“

„Sie gleichfalls?“ fragte ich.

„Ich bin ja doch als Stieftochter des Generals gar nicht verwandt mit ihr ... Aber ich weiß, daß sie mich in ihrem Testament nicht übergehen wird.“

„Ich glaube, Sie werden sehr viel erben,“ sagte ich überzeugt.

„Möglich; sie liebte mich; aber weshalb scheint es denn Ihnen so?“

„Sagen Sie,“ fragte ich, ohne auf ihre Frage zu antworten, „unser Marquis ist doch gleichfalls in alle Familiengeheimnisse eingeweiht?“

„Weshalb interessiert Sie das?“ fragte Polina trocken und sie sah mich streng an.

„Auch eine Frage! Wenn ich nicht irre, hat der General bereits Geld von ihm geborgt.“

„Wie kommt es, daß Ihre Vermutungen heute so merkwürdig richtig sind?“

„Nun, würde er ihm wohl das Geld geliehen haben, wenn er vom Zustand der Großtante nichts wüßte? Und ist es Ihnen nicht aufgefallen, wie er bei Tisch, als von ihr die Rede war, sie etwa dreimal ‚la baboulenka[2] nannte? Welch nahe, freundschaftliche Beziehungen!“

„Ja, Sie haben recht. Sobald er erfährt, daß auch mir etwas zugefallen ist, wird er sich sogleich um mich bewerben. War es das, was Sie erfahren wollten?“

„Erst ‚wird‘? Ich dachte, er tue es schon längst.“

„Sie wissen nur zu gut, daß er es nicht tut!“ sagte Polina geärgert. „Wo haben Sie diesen Engländer kennen gelernt?“ fragte sie nach kurzem Schweigen.

„Ich wußte es, daß Sie mich jetzt nach ihm fragen würden.“

Ich erzählte ihr von meinen früheren Begegnungen mit Mr. Astley.

„Er ist schüchtern und sehr verliebter Natur und ... hat sich natürlich in Sie verliebt?“

„Ja, er ist in mich verliebt,“ antwortete Polina ruhig.

„Und natürlich ist er zehnmal reicher als der Franzose. Wie, hat denn der Franzose tatsächlich etwas? Ist das so gar keinem Zweifel unterworfen?“

„Nein, das ist keinem Zweifel unterworfen. Er hat irgendwo ein château. Noch gestern sagte es mir der General ganz positiv. Nun, genügt Ihnen das?“

„Ich würde an Ihrer Stelle unbedingt den Engländer nehmen.“

„Warum?“ fragte Polina.

„Der Franzose ist ja hübscher, aber dafür ist er auch ein gemeiner Kerl. Der Engländer aber hat, ganz abgesehen davon, daß er grundehrlich ist, mindestens zehnmal mehr,“ versetzte ich trocken.

„Ja; aber dafür ist der Franzose Marquis und klüger,“ sagte sie kühl mit gleichmütigster Miene.

„Nur ... stimmt das auch wirklich?“ fragte ich im selben Tone.

„Vollkommen.“

Meine Fragen mißfielen ihr sehr, doch ich merkte nur zu gut, daß sie mich mit ihrer Ruhe und ihren unmöglichen Antworten ärgern wollte. Ich sagte ihr das.

„Nun ja, es amüsiert mich, zu sehen, wie Sie sich ärgern,“ meinte sie. „Denn ... wie werden Sie mir schon das allein, daß ich Ihnen solche Fragen und Äußerungen gestatte, bezahlen müssen!“

„Ich fühle mich allerdings im Recht, jede beliebige Frage an Sie zu richten,“ versetzte ich ruhig, „und zwar schon deshalb, weil ich zu jeder Bezahlung bereit bin und überhaupt mein ganzes Leben für ein Nichts erachte.“

Polina begann zu lachen.

„Sie sagten mir das letztemal auf dem Schlangenberge, Sie seien sogar bereit, sobald ich es nur wünschte, sich mit dem Kopf voran von der Terrasse hinabzustürzen, der Weg aber ist dort, glaube ich, an tausend Fuß hoch. Nun, irgend einmal werde ich diesen Wunsch aussprechen, und zwar einzig um zu sehen, wie Sie ihn erfüllen. Und, ich versichere Sie, daß ich charakterfest sein werde. Sie sind mir verhaßt, sind es mir geworden deshalb, weil ich Ihnen so viel erlaubt habe, und sind mir noch verhaßter, weil ich Ihrer Hilfe so dringend bedarf. Doch so lange das der Fall ist – muß ich Sie noch am Leben lassen.“

Sie erhob sich. Die letzten Worte hatte sie geradezu gereizt gesagt. Überhaupt war es mir aufgefallen, daß sie in der letzten Zeit unsere Gespräche regelmäßig sehr gereizt abbrach.

„Gestatten Sie noch eine Frage,“ hielt ich sie auf, um sie nicht ohne Erklärung fortgehen zu lassen, „wer ist Mademoiselle Blanche?“

„Das wissen Sie doch ebenso gut wie ich, wer Mademoiselle Blanche ist. Sie hat weder ihre alten Eigenschaften verloren noch neue hinzubekommen. Mademoiselle Blanche wird ganz gewiß Generalin werden. Das heißt, vorausgesetzt natürlich, daß sich die Nachricht vom zu erwartenden Tode der Großtante bewahrheitet, denn sowohl Mademoiselle Blanche wie ihre Mutter und ihr Cousin, le marquis, wissen alle sehr gut, daß wir ruiniert sind.“

„Und der General ist unrettbar verliebt?“

„Das gehört jetzt nicht zur Sache. Doch hören Sie und behalten Sie, was ich Ihnen sage: hier sind die siebenhundert Gulden, nehmen Sie sie und spielen Sie Roulette, und gewinnen Sie so viel als möglich; ich gebrauche jetzt unter allen Umständen Geld und Sie müssen es mir verschaffen.“

Damit wandte sie sich von mir ab, rief Nadenjka und ging mit ihr zum Kurhaus, wo sie sich den Unsrigen anschloß. Ich aber bog in den ersten Seitenpfad nach links ein, noch ganz verwundert über den Auftrag, der mir so plötzlich zuteil geworden war, und demgemäß recht nachdenklich gestimmt. Eigentlich war mir zumut als hätte ich einen Schlag auf den Kopf erhalten: ich, ich sollte Roulette spielen! Doch sonderbar: obschon ich jetzt über etwas Wichtiges nachzudenken hatte, versenkte ich mich doch ganz in eine Analyse meiner Gefühle für Polina. In der Tat, ich muß gestehen, daß ich mich in den zwei Wochen meiner Abwesenheit freier gefühlt hatte und glücklicher gewesen war als jetzt am Tage meiner Rückkehr, obschon ich unterwegs vor Sehnsucht fast wahnsinnig zu werden fürchtete und sie mir sogar Nacht für Nacht im Traum erschien. Einmal – es war im Kupee auf der Reise durch die Schweiz – begann ich, überwältigt von Müdigkeit, im Schlaf von Polina zu sprechen, womit sich meine Reisegefährten so erheiterten, daß sie in lautes Lachen ausbrachen, was mich zum Glück aufweckte ... Und wieder stellte ich mir die Frage: liebst du sie? – Und wieder wußte ich mir darauf nichts zu antworten, oder richtiger, ich sagte mir wieder einmal – wohl zum hundertsten Mal –, daß ich sie haßte. Ja, sie war mir verhaßt! Es gab Augenblicke – namentlich zum Schluß unserer Gespräche – in denen ich mein halbes Leben dafür hingegeben hätte, sie erwürgen zu können! Ich schwöre es: wenn es möglich gewesen wäre, ein scharfes Messer ihr langsam in die Brust zu stoßen, so hätte ich es – davon bin ich überzeugt – mit Wonne getan. Doch andererseits schwöre ich bei allem, was es Heiliges gibt, daß ich, wenn sie mir dort auf dem Schlangenberge wirklich gesagt hätte: ‚Stürzen Sie sich hinab‘ – ich mich sogleich hinabgestürzt haben würde, und zwar gleichfalls mit Wonne. Das weiß ich. Aber so geht das nicht weiter, es muß etwas Entscheidendes geschehen! Sie begreift natürlich mit bewundernswerter Richtigkeit die ganze Situation, und der Gedanke, daß ich mir ihrer Unnahbarkeit und Unerreichbarkeit für mich, der ganzen Unmöglichkeit der Erfüllung meiner phantastischen Träume vollkommen bewußt bin – dieser Gedanke muß ihr, meiner Überzeugung nach, eine unendliche Genugtuung gewähren, muß ihr geradezu ein Genuß sein. Denn wie könnte sie sonst so unbekümmert offen und ungeniert im Verkehr mit mir sein, sie, die doch vorsichtig und klug ist? Ich glaube, sie hat bisher ungefähr ebenso auf mich herabgesehen wie jene Kaiserin im Altertum, die sich in Gegenwart ihres Sklaven entkleidete, da sie ihn ja doch nicht für einen Menschen hielt. Sie hat mich schon mehr als einmal nicht für einen Menschen gehalten.

Aber wie dem auch war, einstweilen hatte sie mich beauftragt, unbedingt für sie Geld zu gewinnen. So hatte ich nicht einmal zu fragen, wozu sie das Geld brauchte, wie bald ich es verschaffen mußte, und welche neuen Berechnungen in ihrem ewig berechnenden Kopfe wohl wieder entstanden sein mochten ... Offenbar war auch in diesen letzten zwei Wochen eine Unmenge neuer Fakta, von denen ich noch nichts ahnte, hinzugekommen. Da gab es nun viel zu raten, zu kombinieren und nachzudenken, und das mußte schnell geschehen. Doch vorläufig hatte ich keine Zeit dazu: ich mußte zum Roulette.

II.

Offen gestanden: dieser Auftrag war mir sehr unangenehm; denn, wenn ich auch fest beschlossen hatte, zu spielen, so wollte ich es doch für mich und nicht für andere tun. Diese plötzliche Durchkreuzung meiner Pläne machte mich eigentlich ganz konfus und ich betrat die Spielsäle mit einem höchst widerwärtigen Gefühl. Dort mißfiel mir auf den ersten Blick ausnahmslos alles. Nicht ausstehen kann ich dieses Lakaientum der Feuilletonschreiber der ganzen Welt, namentlich aber unserer russischen, die fast in jedem Frühjahr immer wieder von zwei Dingen erzählen: erstens, von der ungeheueren Pracht und dem fabelhaften Luxus der Spielsäle gewisser internationaler Städte am Rhein, und zweitens, von den Goldhaufen, die dort – nach ihrer Schilderung – auf den Tischen liegen. Man zahlt ihnen doch nichts für diese Lügen, es geschieht von ihnen einfach aus Gefallsucht, glaube ich, oder übrigens vielleicht auch aus ganz uneigennütziger Nächstenliebe. In Wirklichkeit kann aber in diesen elenden Sälen von Pracht überhaupt nicht die Rede sein, und Gold liegt auf den Tischen nicht nur nicht in „Haufen“, sondern ist so gut wie gar nicht zu sehen. Freilich kommt es mitunter vor – in jeder Saison höchstens einmal – daß plötzlich irgendein Sonderling auftaucht, ein Engländer oder irgendein Asiat, etwa ein Türke, wie in diesem Sommer, und daß dieser entweder sehr viel verspielt oder sehr viel gewinnt. Die übrige Gesellschaft spielt aber nur mit kleinen Summen, setzt gewöhnlich silberne Münzen, und so liegt durchschnittlich immer nur sehr wenig Gold auf den Tischen.

Als ich den Spielsaal betrat – zum erstenmal im Leben – nahm ich mir vor, eine Zeitlang noch nicht zu spielen. Das Gedränge war auch so groß, daß ich kaum hätte ankommen können. Doch selbst wenn ich allein im Saal gewesen wäre, hätte ich nicht zu spielen begonnen; wenigstens scheint es mir so; ich glaube sogar, daß ich eher fortgegangen wäre. Um die Wahrheit zu sagen: mein Herz klopfte nicht wenig, und ich muß offen gestehen, daß ich nicht gleichmütig blieb. Ich wußte mit tödlicher Sicherheit, daß ich Roulettenburg nicht so verlassen, daß vielmehr hier etwas geschehen würde, das mein Schicksal entschied. Und so muß es, und so wird es auch sein! Wie lächerlich es aber auch erscheinen mag, vom Roulette etwas zu erwarten, so finde ich doch die landläufige Meinung, daß es direkt dumm und unsinnig sei, auf das Spiel irgendeine Hoffnung zu setzen, noch viel lächerlicher. Inwiefern ist denn das Spiel schlechter als irgendeine andere Art Geldgewinn, als zum Beispiel – nun, sagen wir der Gewinn im Handel? Allerdings gewinnt hier von hundert nur einer und neunundneunzig verlieren ... doch was geht das mich an?

Ich sagte mir, daß es wohl das beste sei, zunächst dem Spiel der anderen zuzusehen und selbst vorläufig noch nicht zu beginnen, wenigstens nicht ernstlich. Wenn ich aber an diesem Abend dennoch spielen sollte, so würde ich es eben nur versuchsweise tun, – das war mein fester Entschluß. Hinzu kam, daß ich noch nicht einmal zu spielen verstand; denn, ungeachtet der zahllosen Beschreibungen des Roulette, die ich stets mit so großem Interesse gelesen hatte, war mir das Spiel doch noch ein Rätsel. Das wurde nun freilich anders, als ich mit eigenen Augen spielen sah.

Der erste Eindruck, den ich empfing, war ein sehr unangenehmer: es erschien mir alles so schmutzig – gewissermaßen moralisch schmutzig und gemein. Ich rede nicht von den gierigen, unruhigen Gesichtern, die dutzendweis oder gar zu Hunderten die Spieltische umringten. – Übrigens vermag ich in dem Wunsche, möglichst viel Geld in möglichst kurzer Zeit zu gewinnen, nichts Schmutziges zu sehen, und der Ausspruch eines bekannten, natürlich satten und wohlhabenden Moralpredigers, der auf irgend jemandes Einwendung, man spiele ja nur um „kleinen Gewinn“ geantwortet: „Um so schlimmer, dann ist es kleinliche Habgier“, erscheint mir ziemlich dumm. Als wäre kleinliche Habgier und große Habgier nicht ein und dasselbe! Die Begriffe klein und groß sind doch hier ganz relativ: was für einen Rothschild eine kleine Summe ist, ist für meinen Beutel eine sehr große Summe. Was aber den Gewinn betrifft, so sind ja doch die Menschen nicht nur am Roulettetisch, sondern überall und zu jeder Zeit nur darauf bedacht, wie sie etwas gewinnen oder sonstwie ergattern könnten. Ob nun Gewinn überhaupt und im allgemeinen etwas Schlechtes ist – das ist eine Frage für sich, auf die ich hier nicht weiter eingehen will. Da aber auch ich, als ich den Spielsaal betrat, im höchsten Grade von dem Wunsche erfüllt war, möglichst viel und möglichst schnell zu gewinnen, so war mir diese allgemeine Habgier, dieser Schmutz der Habgier, wenn man will, gewissermaßen vertraut. Es gibt ja nichts Netteres als wenn man sich untereinander nicht geniert, nicht ziert und Verstecken spielt, sondern sich offen und sans gêne benimmt. Ja und wozu sich schließlich selber betrügen? Das wäre doch eine ganz überflüssige, leere Beschäftigung ohne die geringste Berechnung ...

Ganz besonders unschön war aber an diesem Spielerpack jene Hochachtung vor dem Spiel, jener Ernst – ein Ernst, der fast sogar an Ehrfurcht grenzt – mit dem es sich an die Spieltische drängte. Deshalb wird hier auch ein großer Unterschied gemacht zwischen dem Spiel, das man „mauvais genre“ nennt, und dem Spiel, das einem anständigen Menschen erlaubt ist: das eine ist gentlemanlike, das andere plebejisch, habgierig, das Spiel solcher Leute, die man mit „Spielsaalgesindel“ bezeichnet. Wie gesagt: der Unterschied ist groß, aber – wie ist dieser Unterschied im Grunde doch verächtlich! Ein Gentleman kann z. B. fünf oder sechs Louisdor setzen, selten mehr – übrigens, wenn er sehr reich ist, auch tausend Franken – aber er setzt sie einzig um des Spieles willen, nur so zu seinem Vergnügen, nur um dem Prozeß des Verlierens oder Gewinnens zuzusehen und ohne sich im geringsten speziell für den Gewinn zu interessieren. Gewinnt er zufällig, so kann er z. B. amüsiert lächeln, sich mit einer scherzhaften Bemerkung an einen der Nebenstehenden wenden, er kann sogar noch einmal setzen und den Einsatz wieder verdoppeln, doch alles nur aus Neugier, nur zu seinem „Amüsement“, um den Wechsel der Chancen zu beobachten, also gewissermaßen um zu experimentieren, doch beileibe nicht um des Gewinnes willen! – ein so plebejischer Beweggrund ist absolut ausgeschlossen! Kurz, er darf dieses Spiel nicht anders auffassen denn als amüsanten Zeitvertreib, der nur zu seiner Unterhaltung inszeniert wird. Alle Berechnungen und Fallen, auf denen das Spiel beruht, ohne die es überhaupt nicht existieren würde, darf er nicht einmal vermuten. Und einen äußerst vorteilhaften Eindruck macht es, wenn er z. B. ganz naiv voraussetzt – oder sich den Anschein gibt, als setze er es voraus –, daß auch alle übrigen Spieler, dieses ganze Gesindel, das um jeden Gulden zittert, ebensolche Krösusse und Gentlemen seien wie er, und gleichfalls nur zu ihrer Belustigung das Geld auf den Tisch setzten. Diese vollkommene Unkenntnis der Wirklichkeit und naive Auffassung der Menschen waren sehr aristokratisch. Ich sah, wie viele Mütter ihre unschuldig aussehenden und elegant gekleideten fünfzehn- oder sechzehnjährigen Töchter vorschoben, ihnen einige Goldstücke in die Hand drückten und dann erklärten, wie man spielt. Und die junge Miß, die dann gewann oder verlor, lächelte unbedingt sehr zufrieden, wenn sie den Tisch verließ. Einmal sah ich auch, wie unser General spielte. Würdevoll und langsam, wie in gleichmütiger Ruhe trat er an den Tisch; ein Lakai eilte herbei, um ihm einen Stuhl zu reichen, doch er übersah den Lakai und den Stuhl; langsam, ohne jede Hast und Erregung, zog er seine Börse hervor, langsam, sehr langsam entnahm er ihr dreißig Franken und setzte sie auf Schwarz: Er gewann. Doch er rührte den Gewinn nicht an, er ließ ihn liegen, wo er lag. Und er gewann wieder; und er rührte auch diesmal den Gewinn nicht an. Und als dann statt Schwarz plötzlich Rot gewann, verlor er mit einem Schlage eintausend und zweihundert Franken. Mit einem Lächeln ging er fort, ohne sich auch nur einen Augenblick zu vergessen. Ich bin überzeugt, daß sein Herz zum Zerspringen schmerzte und daß er, wenn der Verlust zwei- oder dreimal größer gewesen wäre, seine Selbstbeherrschung wohl kaum bewahrt hätte. Übrigens stand ich einmal neben einem Franzosen, der dreißigtausend Franken gewann und verlor und dabei doch seine unbekümmert heitere Miene beibehielt. Ein richtiger Gentleman darf sich nie beim Spiel aufregen, und sollte er auch sein ganzes Vermögen verspielen. Er muß auf das Geld so herabsehen, als sei es für ihn kaum der Mühe wert, sich darum zu kümmern. So ist es denn sehr aristokratisch, den Schmutz sowohl dieses Spielgesindels wie der ganzen Umgebung gar nicht zu bemerken. Mitunter aber ist auch das Gegenteil nicht minder vornehm: dieses ganze Gesindel in seinem Treiben zu beobachten, ja es sogar ostentativ zu betrachten – etwa durch ein Lorgnon – jedoch nicht anders, als indem man zu verstehen gibt, daß man das Betrachten dieses Pöbels und der allgemeinen, doch ängstlich cachierten Habgier nur als originelle Zerstreuung auffasse, als interessantes Schauspiel, das ebenfalls nur zur Unterhaltung des Beobachters vor seinen Augen sich abspielt. Man kann sich sogar selbst in das Gewühl drängen, doch muß man dabei in Blick und Miene die vollkommene Überzeugung ausdrücken, daß man nur sich allein für den einzigen Beobachter halte und selbst keineswegs zu dieser Gesellschaft gehöre. Übrigens ist ein gar zu interessiertes Beobachten doch wieder nicht zu empfehlen. Das wäre wiederum nicht ganz gentlemanlike, denn im Grunde steht doch dieses Schauspiel zu tief unter der Würde eines Aristokraten, als daß er ein so großes Interesse dafür empfinden könnte, – wie es ja überhaupt wenig Schauspiele gibt, die in den Augen eines Gentleman besonderer Aufmerksamkeit wert sind. Mir persönlich aber wollte es nichtsdestoweniger scheinen, daß alles dies sehr wohl der Mühe wert sei, mit größter Aufmerksamkeit beobachtet zu werden, und zwar namentlich für den, der nicht nur Studien halber gekommen ist, sondern sich selbst gewissenhaft und aufrichtig zu diesem ganzen Gesindel zählt. Was jedoch meine privaten sittlichen Überzeugungen betrifft, so sind sie natürlich hier unter diesen meinen Betrachtungen nicht am Platz. Mag es denn dabei bleiben, daß es so ist; ich rede zur Erleichterung meines Gewissens. Doch eines ist mir dabei aufgefallen: daß es mich in der ganzen letzten Zeit eigentümlich angewidert hat, meine Gedanken und Handlungsweisen gleichviel mit welch einem moralischen Maßstäbchen zu messen. Etwas ganz anderes beherrschte mich ...

Das Spielgesindel spielt in der Tat sehr schmutzig. Ich bin sogar nicht abgeneigt, anzunehmen, daß dort an den Tischen sehr oft ganz gewöhnlicher Diebstahl betrieben wird. Die Croupiers – von denen nur je einer an einem Tisch sitzt – die nach den Einsätzen sehen und die Gewinne berechnen müssen, haben ohnehin schon viel zu viel zu tun, als daß sie auf alle Hände aufpassen könnten. Das ist nun mal so ein Pack, diese Croupiers! Größtenteils sind es Franzosen. Übrigens mache ich hier alle diese Bemerkungen nicht etwa, um das Roulette zu beschreiben; ich beobachtete nur so für mich selbst und merke mir dieses und jenes, damit ich dann weiß, wie ich mich späterhin beim Spiel zu verhalten habe. Unter anderem ist mir dort aufgefallen, daß sich sehr oft eine Hand ausstreckt, die nicht zu den in der ersten Reihe Sitzenden gehört, und das fortnimmt, was ein anderer gewonnen hat. Es entsteht ein Streit, nicht selten kommt es sogar zu beträchtlichem Lärm, doch – nun bitte gefälligst zu beweisen und Zeugen dafür zu suchen, wem der Einsatz gehört!

Anfangs war mir das ganze Spiel so unverständlich wie eine arabische Grammatik. Nach und nach erriet ich mehr als ich begriff, daß die Einsätze nach der Zahl, nach der Farbe und auf Paar oder Unpaar gemacht wurden. Ich beschloß, von dem Gelde, das Polina mir gegeben hatte, nur hundert Gulden „aufs Spiel zu setzen“. Der Gedanke, daß ich nun doch nicht für mich begann, machte mich gewissermaßen unsicher. Jedenfalls war es ein sehr unangenehmes Gefühl, das ich schnell loswerden wollte. Es schien mir die ganze Zeit, daß ich, indem ich für Polina mein Glück versuchte, damit das eigene Glück untergrub.

Sollte man wirklich mit dem grünen Tisch nicht in Berührung kommen können, ohne sogleich vom schlimmsten Aberglauben befallen zu werden?

Ich begann damit, daß ich fünf Friedrichsdor, also fünfzig Gulden, herausnahm und sie auf Paar setzte. Das Rad drehte sich und es kam dreizehn – ich hatte verloren. Mit einer gewissen krankhaften Empfindung, nur um mich irgendwie loszumachen und mit Anstand fortgehen zu können, setzte ich noch fünf Friedrichsdor auf Rot. Es kam Rot. Ich setzte alle zehn Friedrichsdor auf Rot – wieder kam Rot. Und ich ließ wieder alles stehen und wieder kam Rot. Von den erhaltenen vierzig Friedrichsdor setzte ich zwanzig auf die zwölf mittleren Ziffern, ohne zu wissen, was daraus werden würde. Man gab mir das Dreifache. So hatte ich anstatt der zehn Friedrichsdor auf einmal achtzig. Es wurde mir aber von einer ungewohnten, seltsamen Empfindung so unerträglich zumut dort am Tisch, daß ich beschloß, sogleich fortzugehen. Es schien mir, daß ich ganz anders gespielt haben würde, wenn ich für mich gespielt hätte. Doch plötzlich setzte ich alle achtzig Friedrichsdor noch einmal auf Paar. Diesmal kam vier: ich gewann noch achtzig Friedrichsdor. Da nahm ich den ganzen Haufen von hundertundsechzig Friedrichsdor vom Tisch und ging, um Polina Alexandrowna aufzusuchen.

Sie spazierten alle zusammen im Park und so gelang es mir erst nach dem Abendessen, unter vier Augen mit ihr zu sprechen. Diesmal war der Franzose nicht zugegen und der General wurde gesprächig. Unter anderem fand er es für nötig, mir nochmals zu sagen, daß er es eigentlich nicht wünschte, mich am Spieltisch zu sehen. Seiner Ansicht nach würde es ihn sehr kompromittieren, wenn ich einmal gar zu viel verspielte, – „doch selbst wenn Sie sehr viel gewinnen sollten, würde ich auch dann noch stark kompromittiert sein,“ fügte er bedeutsam hinzu. „Ich habe allerdings nicht das Recht, Ihnen für Ihr Tun und Lassen Vorschriften zu erteilen, aber Sie werden doch selbst zugeben, daß ...“

Nach seiner alten Gewohnheit sprach er den Satz wieder nicht zu Ende. Ich erwiderte darauf nur trocken, daß ich sehr wenig Geld habe und folglich nicht auffallend viel verlieren könne, falls ich überhaupt spielen sollte. Als ich zu mir hinaufging, konnte ich Polina noch ihren Gewinn übergeben, bei welcher Gelegenheit ich ihr erklärte, daß ich fernerhin nicht mehr für sie spielen werde.

„Warum nicht?“ fragte sie beunruhigt.

„Weil ich für mich und nicht für andere spielen will,“ antwortete ich, sie etwas verwundert betrachtend, daß sie es nicht von selbst erriet, „und das stört mich nur.“

„So sind Sie immer noch überzeugt, daß das Roulette Ihre Rettung sein wird?“ fragte sie spöttisch.

„Ja,“ erwiderte ich sehr ernst. „Was jedoch meine Überzeugung, daß ich unfehlbar gewinnen werde, betrifft, so mag sie vielleicht sehr lächerlich sein, meinetwegen, doch wünsche ich, in Ruh gelassen zu werden.“

Polina Alexandrowna bestand darauf, daß ich den Gewinn mit ihr teilen müsse, und wollte mir unbedingt achtzig Friedrichsdor aufdrängen, mit dem Vorschlag, auch fernerhin das Spiel unter dieser Bedingung fortzusetzen. Ich weigerte mich jedoch mit aller Entschiedenheit, das Geld anzunehmen, und erklärte ihr, daß ich für andere nicht nur deshalb nicht spielen werde, weil ich nicht wolle, sondern weil ich ganz gewiß verlieren würde.

„Und doch setze auch ich, wie dumm es auch sein mag, meine ganze Hoffnung fast nur noch auf das Spiel,“ sagte sie nach einer Weile wie in Gedanken versunken. „Nein, Sie müssen das Spiel unbedingt fortsetzen und den Gewinn mit mir teilen, und – natürlich werden Sie es tun.“

Damit verließ sie mich, ohne meine weiteren Einwendungen anzuhören.

III.

Gestern sprach sie, ganz wider meine Erwartung, kein Wort zu mir vom Spiel. Und überhaupt vermied sie es gestern, mit mir zu sprechen. Ihr Benehmen gegen mich hat sich nicht im geringsten verändert. Im Verkehr wie überhaupt bei jeder kurzen Begegnung immer dieselbe Geringschätzung, in die sich mitunter sogar so etwas wie Verachtung und Haß mischt. Ja, sie scheint sogar die Abneigung, die sie doch augenscheinlich für mich empfindet, nicht einmal verbergen zu wollen. Das sehe ich. Dabei gibt sie sich aber gar keine Mühe, zu verbergen, daß sie meiner bedarf und mich zu irgendeinem Zweck „noch am Leben läßt“, d. h. also, mich noch „aufspart“. Es haben sich zwischen uns seltsame Beziehungen gebildet, die mir in mancher Hinsicht unverständlich sind – wenn ich ihren Stolz und Hochmut gegen alle in Betracht ziehe.

Sie weiß zum Beispiel, daß ich sie bis zum Wahnsinn liebe, sie erlaubt mir sogar, von meiner Leidenschaft zu sprechen – und, versteht sich, könnte mir ihre Verachtung durch nichts deutlicher zu verstehen geben, als durch diese gleichgültige Erlaubnis, so viel und wie immer ich nur will, mit aller Zensurfreiheit, von meiner Liebe zu ihr zu sprechen. Was kann sie damit anders sagen wollen, wenn nicht: „Deine Gefühle schätze ich viel zu gering, als daß es mich nicht vollkommen gleichgültig ließe, was du da zu mir sprichst oder für mich fühlst.“

Von ihren eigenen Angelegenheiten hat sie auch früher schon viel mit mir gesprochen, aber doch niemals mit ganzer Offenherzigkeit. Ja, mehr noch als das: in ihrer Geringschätzung für mich kam mitunter noch eine ganz besondere Raffiniertheit zum Ausdruck, wie zum Beispiel:

Sie weiß, sagen wir, daß mir irgendein Umstand aus ihrem Leben bekannt ist, oder irgend etwas, was sie sehr beunruhigt, sie erzählt mir sogar selbst einiges davon – wenn ich ihr etwa wie ein Sklave oder Laufbursche einen Dienst erweisen kann – erzählt mir dann aber nur genau so viel, wieviel ein Sklave oder Laufbursche zu wissen braucht, um den Dienst erweisen zu können. Und wenn sie auch sehr gut sieht, daß es mich quält, nicht den ganzen Zusammenhang der Dinge erraten zu können, wenn sie auch tausendmal sieht, wie ihre Unruhe und ihre Sorgen mich quälen und aufregen, so wird sie mich doch nie dessen würdigen, daß sie mich durch volle Offenheit beruhigt. Und sie hat mir oft genug nicht nur schwierige, sondern direkt mit Gefahr verbundene Aufträge gegeben, was ihr doch, wenigstens meiner Meinung nach, geradezu zur Pflicht machen müßte, vollkommen aufrichtig zu sein. Doch ... lohnt es sich denn, sich überhaupt um meine Gefühle zu kümmern, und darum, daß ich gleichfalls besorgt und unruhig bin, und daß ihre, nur ihre Sorgen und ihr Mißgeschick mich vielleicht noch dreimal mehr quälen als sie selbst?

Ich wußte schon drei Wochen vorher um ihre Absicht, Roulette zu spielen. Sie hatte mich darauf vorbereitet, daß ich für sie werde spielen müssen, da es sich für sie selbst nicht schicke. Und aus dem Ton ihrer Worte glaubte ich schon damals zu erraten, daß eine wirklich ernste Sorge sie bedrücke und aus ihr nicht etwa der Wunsch sprach, nur so für sich Geld zu gewinnen. Was ist ihr denn Geld! Nein, sie muß eine ganz besondere und ernste Absicht haben, es muß etwas geschehen sein, was ich nur halb erraten kann, ohne deshalb den ganzen Zusammenhang auch nur zu ahnen. Natürlich kann ich diese Sklaverei, in der sie mich hält, sehr wohl insofern ausnutzen, als sie mir doch gewissermaßen erlaubt, ganz ungeniert und ohne Umschweife Fragen zu stellen: wenn ich in ihren Augen so nichtswürdig bin, so darf sie sich doch durch meine unhöfliche Neugier nicht verletzt fühlen. Und so habe ich sie bisweilen ganz unumwunden gefragt. Nun war aber die Sache die, daß sie mir zwar diese Fragen erlaubte, doch deshalb noch lange nicht auf dieselben zu antworten geruhte. Mitunter aber überhörte sie sie einfach. Das ist nun unser Verhältnis zueinander!

Gestern wurde viel von einem Telegramm gesprochen, das schon vor vier Tagen nach Petersburg abgegangen und auf welches seltsamerweise noch keine Antwort eingetroffen war. Dies regte den General nicht wenig auf, weshalb er denn recht wortkarg und nachdenklich wurde. Natürlich handelt es sich um die Babuschka. Auch der Franzose ist aufgeregt. Gestern zum Beispiel hatte er gleich nach Tisch eine sehr lange und ernste Unterredung mit dem General. Das Benehmen des Franzosen gegen uns alle läßt viel zu wünschen übrig, da er mit jedem Tage hochmütiger wird und immer geringschätziger auf uns herabblickt. Auf ihn paßt vorzüglich das Sprichwort: „Setzt du ihn an den Tisch, so setzt er auch schon die Füße auf den Tisch.“ Sogar gegen Polina benimmt er sich bis zur Unhöflichkeit nachlässig, doch hindert ihn das nicht, mit Vergnügen an den gemeinsamen Spaziergängen im Kursaal oder an den Ausfahrten in die Umgegend und den Spazierritten teilzunehmen. Einzelne Motive der soi-disant-Freundschaft, die den General mit dem Franzosen verknüpft, sind mir bekannt. In Rußland wollten sie zusammen eine Fabrik gründen, nur weiß ich nicht, ob das Projekt bereits endgültig vergessen ist oder ob von ihm mitunter noch gesprochen wird. Außerdem habe ich zufällig noch ein gewisses Familiengeheimnis erfahren: der Franzose hat nämlich im vorigen Jahr dem General wirklich einmal aus der Verlegenheit geholfen, und zwar, indem er ihm mit dreißigtausend unter die Arme griff, als dieser bei Übergabe seines Amtes auch die ihm anvertrauten Staatsgelder übergeben mußte, von denen rund dreißigtausend abhanden gekommen waren. Selbstverständlich hat er den General jetzt am Gängelbande. Doch jetzt, gerade jetzt spielt die Hauptrolle in der ganzen Geschichte nur Mademoiselle Blanche – darin täusche ich mich gewiß nicht.

Wer Mademoiselle Blanche ist? Nun, hier bei uns heißt es, sie sei eine vornehme Französin, die in Begleitung ihrer Mutter reist und ein kolossales Vermögen besitzt. Bekannt ist ferner, daß sie mit unserem Marquis verwandt ist, oder sein soll, jedoch nur ziemlich entfernt: Kusine oder noch um einen Grad weiter, oder so ungefähr. Man sagt aber, daß der Franzose und Mademoiselle Blanche vor meiner Fahrt nach Paris im Verkehr miteinander bedeutend zeremonieller gewesen seien, sich wenigstens weit rücksichtsvoller und diskreter vor der Gesellschaft gegeben hätten, während sich ihre Bekanntschaft, Freundschaft und Verwandtschaft jetzt viel plumper und gewissermaßen intimer äußerte. Vielleicht erscheint ihnen unsere finanzielle Lage bereits so schlecht, daß sie sich die Mühe größerer Zeremonien sparen.

Schon vorgestern fiel es mir auf, wie kritisch Mister Astley Mademoiselle Blanche und deren Mutter betrachtete. Es ist fast anzunehmen, daß er sie früher gekannt hat. Und plötzlich schien es mir, daß er sogar unserem Franzosen bereits früher irgendwo begegnet sein müsse. Übrigens ist Mister Astley so schüchtern, menschenscheu und schweigsam, daß man sich wohl unter allen Umständen auf ihn verlassen kann, – der wird nichts auf die Straße tragen! Wenigstens grüßt ihn der Franzose kaum und sieht ihn auch kaum an, folglich fürchtet er ihn nicht. Das Benehmen des Franzosen ist noch begreiflich, aber warum beachtet auch Mademoiselle Blanche den Engländer kaum? Das ist noch um so verwunderlicher, als der Franzose gestern im allgemeinen Gespräch – ich entsinne mich nicht mehr, wovon gerade die Rede war – die Bemerkung machte, daß Astley kolossal reich sei, er, der Marquis, wisse es ganz genau. Da hätte doch Mademoiselle Blanche den Mister ansehen müssen!

Kurz, der General fühlt sich sehr beunruhigt. Na, es ist ja begreiflich, wenn man bedenkt, was für ihn ein Telegramm mit der Nachricht vom Tode der Tante im Augenblick bedeuten würde!

Obschon ich mit Sicherheit zu bemerken glaubte, daß Polina absichtlich ein Gespräch mit mir zu vermeiden suchte, als verfolge sie damit einen bestimmten Zweck, so trug doch vielleicht auch ich einen Teil der Schuld, indem ich möglichst kühl und gleichgültig tat. Im geheimen aber hoffte ich die ganze Zeit, daß sie sich im nächsten Augenblick an mich wenden werde. Dafür habe ich gestern und heute meine Aufmerksamkeit hauptsächlich Mademoiselle Blanche zugewandt. Der arme General! Jetzt ist er doch so gut wie verloren. Im fünfundfünfzigsten Lebensjahr sich mit solch einer brennenden Leidenschaft zu verlieben – das ist natürlich mehr als ein Unglück. Und jetzt füge man noch hinzu, daß er als Witwer Kinder hat, daß sein Gut über und über verschuldet ist, und denke dann an das Frauenzimmer, in das er sich – ausgerechnet – verlieben mußte!

Mademoiselle Blanche ist hübsch. Nur ... ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke, wenn ich sage, daß sie eines jener Gesichter hat, die einem unheimlich werden können. Ich wenigstens habe solche Frauenzimmer von jeher etwas gefürchtet. Sie wird mindestens ihre fünfundzwanzig Jahre alt sein, ist hoch gewachsen, mit breiten, vollen Schultern; ihr Hals und ihre Büste sind wundervoll. Ihre Gesichtsfarbe hat den gelblich-bräunlichen Schimmer der Südländerin, ihr Haar ist schwarz wie Tusche und in solcher Überfülle vorhanden, daß es für zwei Frisuren ausreichen würde. Ihre Augen sind braunschwarz und das Weiße im Auge ist etwas gelblich. Ihr Blick ist frech. Die Zähne sind blendend weiß und die Lippen stets geschminkt. Ihr Lieblingsparfüm ist musc, das ihre Gestalt immer als leise Duftwolke umgibt. Sie kleidet sich sehr effektvoll, chic, doch zugleich mit viel Geschmack. Ihre Hände und Füße sind wundervoll. Sie hat eine Altstimme, die mitunter etwas belegt klingt. Wenn sie lacht, sieht man fast ihr ganzes Gebiß, doch lacht sie eigentlich selten. Gewöhnlich sitzt sie schweigend da und blickt frech die Anwesenden an, – wenigstens pflegt sie in Polinas und Marja Filippownas Gegenwart nur äußerst wenig zu sprechen. Übrigens, eine seltsame Neuigkeit: es heißt, Marja Filippowna werde nach Rußland zurückreisen. Mir scheint, daß Mademoiselle Blanche ganz ungebildet ist, wenigstens was ihr Wissen betrifft, und vielleicht ist sie auch nicht mal von Natur klug, wenn man so sagen darf, doch dafür ist sie argwöhnisch und folglich vorsichtig, und außerdem scheint sie über viel instinktive Schlauheit zu verfügen. Ich glaube, ihr bisheriges Leben wird nicht ganz ohne Abenteuer abgelaufen sein. Ja, wenn ich aufrichtig sein soll, so glaube ich sogar, daß der Marquis überhaupt nicht ihr Cousin oder sonstwie ein Verwandter von ihr ist, und ihre Mutter auch nicht ihre leibliche Mutter. Doch wie man hört, sollen beide Damen in Berlin, wo wir sie kennen lernten, ziemlich vornehme Bekannte besitzen. Und was den Marquis betrifft, so scheint es doch wahr zu sein, obschon ich es immer noch stark bezweifle, daß er wirklich ein Marquis ist. Jedenfalls soll seine Zugehörigkeit zur anständigen Gesellschaft, wenigstens bei uns in Moskau und in einzelnen Städten Deutschlands, keinem Zweifel unterworfen sein. Nur weiß ich nicht, wie es sich damit in Frankreich verhält. Es heißt, er habe dort ein château.

Ich dachte, während dieser zwei Wochen werde viel Wasser den Fluß hinabfließen, wollte sagen, es werde vieles geschehen, doch erscheint es mir heute noch immer sehr fraglich, ob es zwischen Mademoiselle Blanche und dem General endlich zu einer entscheidenden Aussprache gekommen ist. Wie gesagt, es hängt jetzt alles von unserem Vermögensstande ab, d. h. wieviel Geld der General ihnen zeigen kann. Wenn jetzt z. B. die Nachricht käme, die alte Dame sei nicht gestorben und werde voraussichtlich nicht so bald sterben, so wird Mademoiselle Blanche – davon bin ich überzeugt – binnen kürzester Zeit verschwinden.

Wirklich, ich muß mich selbst darüber wundern, was für eine Klatschbase ich doch geworden bin. Wie lächerlich! Und wie mich das doch alles anekelt! Mit welchem Vergnügen würde ich hier allen und allem den Rücken kehren, oh! mit welch einem erlösenden Wonnegefühl ich es täte! Aber – kann ich mich denn von Polina trennen, kann ich es denn lassen, um sie herumzuspionieren? Zur Spionage gehört natürlich immer eine gewisse Gemeinheit, doch – was kümmert das mich?

Sehr interessiert hat mich gestern und heute auch Mister Astley. Ja, ich bin positiv überzeugt, daß er in Polina verliebt ist! Es ist ganz merkwürdig und sogar zum Lachen, wieviel mitunter der Blick eines verschämten und fast schon krankhaft keuschen Menschen, den plötzlich die Liebe gepackt hat, zu verraten vermag, und zwar gerade dann, wenn dieser Mensch lieber in die Erde versinken als durch einen Blick oder ein Wort etwas von seinen Gefühlen verraten möchte. Mister Astley begegnet uns sehr oft auf unseren Spaziergängen. Er grüßt und geht vorüber, äußerlich wie ein gleichgültiger Fremder, doch innerlich, versteht sich, vergeht er fast vor Verlangen, sich uns anzuschließen. Fordert man ihn aber dazu auf, so lehnt er es mit einer Entschuldigung sofort ab. An allen Ruhepunkten, im Kursaal, beim Springbrunnen oder vor dem Musikpavillon, kurz, wo wir uns gerade befinden, wird er unfehlbar irgendwo in unserer Nähe stehen bleiben; und wo wir auch sonst sein mögen, im Walde, auf der Promenade, im Park oder auf dem Schlangenberge – man braucht nur einmal aufzuschauen oder sich umzuschauen und mit tödlicher Sicherheit wird man in nächster Nähe oder hinter einem Gebüsch oder auf einem Nebenwege einen Zipfel von Mister Astley erblicken. Mir scheint, er sucht eine Gelegenheit, unter vier Augen mit mir zu sprechen. Heute morgen begegneten wir uns zufällig nicht in Gegenwart der anderen und wechselten ein paar Worte. Mitunter spricht er förmlich in abgerissenen Brocken. Noch hatte er mir nicht guten Tag gesagt, als er schon ohne Einleitung von Mademoiselle Blanche zu sprechen begann – wohl im Anschluß an die Gedanken, die ihn gerade beschäftigt haben mochten.

„Ja, Mademoiselle Blanche! ... Ich habe viele solche Damen gesehen! ... und ähnliche! ...“

Ein bedeutsamer Seitenblick sollte wohl als Erläuterung dienen, doch bin ich wahrscheinlich dieser Redeweise gegenüber etwas schwer von Begriff, denn was er damit sagen wollte, habe ich mir noch immer nicht ganz zu erklären vermocht. Auf meine Frage, was er damit meine, erwiderte er nur mit listigem Lächeln und mit dem Kopfe nickend:

„Das ist schon so.“

Und nach kurzer Pause fragte er plötzlich ganz unvermittelt:

„Liebt Miß Polina Blumen?“

„Das weiß ich nicht. Keine Ahnung,“ erwiderte ich.

„Wie? Auch das wissen Sie nicht?“ rief er höchst verwundert aus.

„Nein, in der Tat, ich weiß es nicht. Es ist mir nicht aufgefallen,“ sagte ich lachend.

„Hm! Das bringt mich auf einen besonderen Gedanken.“

Und damit nickte er mir zu und ging weiter. Er sah übrigens sehr zufrieden aus. Wir sprachen Französisch miteinander, obwohl er diese Sprache sehr schlecht spricht.

IV.

Heute war es wirklich ein lächerlicher, ein unsinniger, ein geradezu blödsinniger Tag! Jetzt ist es elf Uhr nachts. Ich sitze in meinem Zimmer – von dem ich eigentlich nur im Diminutiv sprechen sollte – sitze am Tisch und durchlebe in Gedanken nochmals den ganzen Tag.

Er begann damit, daß mich Polina Alexandrowna am Morgen doch zu zwingen wußte, nochmals für sie Roulette zu spielen. Ich nahm alle ihre hundertsechzig Friedrichsdor wieder mit, doch hatte ich zwei Bedingungen gestellt: erstens, daß ich den Gewinn nicht mit ihr teilen würde, d. h. wenn ich gewänne, so behielte ich nichts für mich; und zweitens, daß sie mir erklären müsse, wieviel und wozu sie das Geld zu gewinnen wünsche. Ich kann es mir nicht denken, daß sie einfach nur Geld gewinnen will, nur Geld! Nein, hier handelt es sich um etwas Ernstes, sie braucht das Geld und sie möchte es sich möglichst bald verschaffen, und zwar zu einem ganz bestimmten Zweck. Nun, sie versprach, mir das zu erklären und ich ging.

In den Spielsälen war ein furchtbares Gedränge. Wie rücksichtslos sie doch alle sind und wie geldgierig! Ich drängte mich glücklich bis zu einem Tisch durch und stellte mich neben den Croupier. Ich begann etwas zaghaft zu spielen, setzte nur zwei bis drei Geldstücke auf einmal. Dabei machte ich meine Beobachtungen und merkte mir verschiedenes. Es scheint mir, daß alle diese Spielberechnungen sehr wenig wert sind, oder zum mindesten nicht den Wert haben, den viele Spieler ihnen beilegen. Da sitzen sie mit ihren bekritzelten Papierstückchen, notieren sorgfältig, was herausgekommen ist, rechnen und berechnen, wägen die Chancen ab, rechnen nochmals nach, bevor sie endlich setzen und – verlieren, ganz ebenso wie die gewöhnlichen Sterblichen, die ohne Berechnung spielen. Dafür aber habe ich eine Beobachtung gemacht, die mir richtig scheint. In der Reihenfolge, in der die verschiedenen Farben und Zahlen gewinnen, liegt wirklich, wenn nicht gerade ein System, so doch ein gewisser Anklang an eine Regel, – was natürlich sehr seltsam ist. So pflegten zum Beispiel nach den zwölf mittleren Ziffern gewöhnlich die zwölf ersten herauszukommen; zweimal, nehmen wir an, trifft es die zwölf ersten, dann geht es auf die zwölf letzten über. Nach den zwölf letzten folgen wieder die zwölf mittleren, die es drei- oder viermal nach der Reihe trifft, um dann wieder zu den zwölf ersten überzugehen, von denen es, nachdem es sie etwa zweimal getroffen hat, wieder zu den zwölf letzten zurückkehrt. Die letzten trifft es, sagen wir, nur einmal, dann kommen dreimal wieder die zwölf mittleren an die Reihe, und so geht es weiter, anderthalb oder gar zwei Stunden lang. Immer eins, drei und zwei; eins, drei und zwei. Das ist sehr merkwürdig. – An einem andern Tage oder nur Vormittage kommt es dagegen vor, daß Rot immer mit Schwarz abwechselt, bald dies, bald jenes, es wechselt alle Augenblicke, und eine Regel besteht dann höchstens insofern, als es weder die eine noch die andere Farbe mehr als zwei- oder dreimal nach der Reihe trifft. Doch an einem anderen Tage oder Abend wiederum kommt nur die eine Farbe, Rot zum Beispiel, Schlag auf Schlag heraus, mehr als zweiundzwanzigmal nach der Reihe, dann tritt plötzlich eine kleine Unterbrechung ein und – wieder folgt Rot, Rot, Rot. Und das dauert mitunter lange Zeit, zuweilen sogar einen ganzen Tag. Einige dieser Beobachtungen hat mir Mister Astley erzählt. Er scheint viel beobachtet zu haben. Heute stand er den ganzen Morgen über am Spieltisch, hat aber selbst nicht ein einziges Mal gesetzt. Was nun mich betrifft, so habe ich heute alles verspielt, alles bis aufs Letzte, und das ging sehr schnell.

Ich begann damit, daß ich sogleich zwanzig Friedrichsdor auf Paar setzte und gewann, nochmals setzte und nochmals gewann, und so noch drei oder vier Mal. Wenn ich nicht irre, hatte ich in einigen Minuten zirka vierhundert Friedrichsdor gewonnen. Da wäre es richtig gewesen, fortzugehen. In mir aber stieg etwas Seltsames auf – ich glaube, es war das Verlangen, das Schicksal herauszufordern, ihm ein Schnippchen zu schlagen, ihm einfach die Zunge zu zeigen! Ich setzte die größte Summe, die den Spielern gestattet wird, viertausend Gulden, und verlor. Das erregte mich, ich nahm alles heraus, was ich bei mir hatte, und setzte es auf dieselbe Zahl und verlor wieder. Wie betäubt verließ ich den Tisch. Ich begriff zunächst nicht einmal, was geschehen war, und teilte Polina Alexandrowna erst kurz vor Tisch mit, daß ich alles verspielt hatte. Bis dahin irrte ich die ganze Zeit im Park umher.

Bei Tisch lebte ich wieder auf und wurde gesprächig, ähnlich wie vorvorgestern. Der Franzose und Mademoiselle Blanche speisten wieder mit uns. Es stellte sich heraus, daß Mademoiselle Blanche am Morgen gleichfalls im Spielsaal gewesen war und meine Heldentat gesehen hatte. Sie verhielt sich diesmal etwas aufmerksamer zu mir. Der Franzose ging offener vor und fragte mich ohne Umschweife, ob es denn wirklich mein eigenes Geld gewesen sei, das ich verspielt habe. Mir schien es, als habe er Polina in Verdacht. Jedenfalls muß etwas dahinter stecken. Ich beschloß natürlich sofort, nicht die Wahrheit zu sagen und bestätigte, daß es mein eigenes Geld gewesen sei.

Der General war darob höchst verwundert: wie war ich in den Besitz einer so hohen Summe gelangt? Ich erklärte, daß ich mit zehn Friedrichsdor das Spiel begonnen, und Schlag auf Schlag den Einsatz verdoppelt, bis ich nach etwa sieben Sätzen fast sechstausend Gulden gewonnen und dann in zwei Einsätzen wieder verloren hatte.

Das klang alles ziemlich wahrscheinlich. Während ich dieses erzählte, blickte ich flüchtig zu Polina hinüber, wurde aber nicht klug aus ihrem Gesichtsausdruck. Aber sie ließ mich doch ruhig lügen; daraus schloß ich, daß ich das Richtige tat, indem ich nicht die Wahrheit sagte und es verheimlichte, für wen ich gespielt hatte.

„Jedenfalls ist sie mir jetzt eine Aufklärung des Sachverhalts schuldig,“ dachte ich bei mir, „und sie versprach mir ja, mir noch anderes mitzuteilen.“

Ich erwartete eigentlich, daß der General mir noch eine Bemerkung machen würde, doch schwieg er wohlweislich. Ich sah ihm aber deutlich an, wie aufgeregt und ängstlich er war. Vielleicht fiel es ihm in seiner finanziell so peinlichen Lage einfach nur schwer, ruhig anzuhören, wie ein so großer Haufen Gold einem so unschlauen Dummkopf wie mir in den Schoß gefallen war, und dieser unüberlegte Mensch ihn nicht festzuhalten verstanden.

Ich vermute, daß er und der Franzose gestern abend stark aneinandergeraten sind. Ich weiß, daß sie bei verschlossenen Türen sehr erregt gesprochen haben. Der Franzose verließ ihn darauf ersichtlich gereizt, um sich heute schon früh am Morgen wieder mit ihm einzuschließen und wahrscheinlich das gestrige Gespräch fortzusetzen.

Nachdem ich von meinem Spielerlebnis erzählt hatte, machte der Franzose in beißendem und sogar boshaftem Tone die Bemerkung, daß man vernünftiger sein müsse, und nach kurzer Pause fügte er hinzu – ich weiß nicht, wie er darauf kam – daß von den Russen zwar viele spielten, sie jedoch seiner Meinung nach nicht einmal zu spielen verstünden.

„Meiner Meinung nach ist aber das Spiel speziell für die Russen erfunden,“ sagte ich.

Und als der Franzose als Antwort auf meine Bemerkung nur verächtlich auflachte, äußerte ich mich dahin, daß die Wahrheit doch augenscheinlich auf meiner Seite sei, da ich, wenn ich die Russen als Spieler kritisierte, weit mehr Schlechtes als Gutes von ihnen sagte und man mir folglich glauben könne.

„Womit begründen Sie denn Ihre Meinung?“ fragte mich darauf der Franzose.

„Damit, daß im Katechismus der Tugend- und Ehrbegriffe des zivilisierten Westeuropäers die Fähigkeit, Kapital zu erwerben, in historischer Entwicklung fast zum ersten Hauptstück geworden ist. Der Russe dagegen ist nicht nur unfähig, Kapital zu erwerben, er ist auch im Verschwenden von Geld ganz unbedacht und formlos. Leider können aber auch wir Russen nicht ohne Geld auskommen,“ fuhr ich fort, „wir haben es zuweilen sehr nötig und da sind wir sehr froh über solche Erwerbsmöglichkeiten, wie sie im Spiel, im Roulette zum Beispiel, geboten werden, und gehen mit Vergnügen auf den Leim. Denn, so ohne Arbeit, ohne Mühe und Geduld in zwei Stunden reich zu werden, das ist gerade das, was wir wollen. Und da wir auch im Spiel unbedacht sind und jede Mühe scheuen, so verspielen wir eben, was wir gewinnen.“

„Das ist zum Teil richtig,“ bemerkte der Franzose selbstzufrieden.

„Nein, das ist keineswegs richtig und Sie sollten sich schämen, so von Ihrem Volk und Vaterlande zu sprechen!“ bemerkte der General streng und mit vielsagendem Nachdruck.

„Aber ich bitte Sie,“ versetzte ich schnell, „es ist ja damit noch längst nicht gesagt, was nun eigentlich widerlicher ist, diese russische Neigung zur Unanständigkeit im Erwerb oder die deutsche Methode des Sparens durch anständigen Fleiß.“

„Welch ein schändlicher Gedanke!“ rief der General aus.

„Welch ein russischer Gedanke!“ rief der Franzose.

Ich lachte. Es machte mir Spaß, sie zu foppen.

„Nun, was mich betrifft,“ sagte ich lachend, „so würde ich es vorziehen, mein ganzes Leben nomadisierend nach Kirgisenart zu verbringen, als – den deutschen Götzen anzubeten.“

„Was für einen Götzen?“ fuhr der General auf; er begann sich ernstlich zu ärgern.

„Die deutsche Art und Weise, Geld zu sparen. Ich bin noch nicht lange in Deutschland, doch was ich hier zu beobachten und zu vergleichen Gelegenheit gehabt habe, das empört mein tatarisches Rassegefühl. Bei Gott, ich danke für solche Tugenden! Ich bin hier gestern wohl über zehn Werst weit ins Land hineingegangen. Und ich finde, daß alles genau so ist, wie in den moralpredigenden deutschen Bilderbüchern. Jedes Familienoberhaupt ist hier ein entsetzlich tugendhafter und außerordentlich ehrlicher Vater. Er ist schon so ehrlich, daß einem wider Willen bange wird, wenn man sich ihm nähert. Ich kann aber ehrliche Leute von diesem Schlage nicht ausstehen. Man wagt ihnen kaum näherzutreten. Jeder dieser Väter hat natürlich eine Familie, und abends werden lehrreiche Bücher gelesen. Über dem Hause rauschen Ulmen und Kastanienbäume. Dazu Sonnenuntergang, ein Storchennest auf dem Dach – und alles ist überaus poetisch und rührend ... Ärgern Sie sich nicht, Exzellenz, es lohnt nicht! Erlauben Sie mir, noch Rührenderes zu erzählen. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie mein verstorbener Vater abends unter den Linden in unserem Garten mir und meiner Mutter aus ähnlichen Büchern vorlas ... Ich kann also darüber urteilen. Nun, so lebt eine jede dieser Familien hierzulande in vollständiger Sklaverei und widerspruchslosem Gehorsam beim Familienvater. Alle arbeiten sie wie die Zugochsen, und alle sparen sie Geld wie die Juden. Nehmen wir an, der Vater hat schon so und so viele Taler erspart und beabsichtigt, dem ältesten Sohne, der das Handwerk des Vaters erlernt hat, seine Werkstube mit allem Zubehör oder sein Stück Land dereinst zu übergeben. Deshalb wird der Tochter keine Mitgift ausgesetzt und sie muß ihr Leben als alte Jungfer vollbringen. Deshalb muß auch der jüngere Sohn sich als Knecht verdingen oder als Soldat seinen Lohn suchen, und das Geld, das damit gespart wird, kommt zum Familienerbkapital. Tatsächlich, so wird es hier gemacht, ich habe mich erkundigt. Alles das wird einzig aus Ehrlichkeit getan, fast sogar aus einer Art Überehrlichkeit, die in allem so weit geht, daß sogar der verkaufte jüngere Sohn daran glaubt, daß man ihn nur aus lobesamer Ehrlichkeit sein Leben verkaufen läßt. Das aber ist doch schon einfach ideal, wenn das Opfer sich selbst darüber freut, daß man es schlachtet! Und was nun weiter? Weiter sehen wir, daß der Älteste es deshalb noch nicht leichter hat, denn – es lebt dort irgendwo ein Amalchen, deren Herz sich zu seinem Herzen gefunden hat, doch heiraten darf er sie nicht, da vorher noch soundsoviel Taler gespart werden müssen. Und so warten sie beide sittsam und von Herzen aufrichtig, und sehen beide gleichfalls mit einem Lächeln ihrem Opfer zu. Amalchen beginnt zu welken, die Wangen fallen ein, doch was hat das zu sagen! Endlich, nach etwa zwanzig Jahren, ist der Besitzstand ein wesentlich besserer geworden, die Taler sind ehrlich und tugendsam zusammengespart. Der Vater segnet seinen Vierzigjährigen Ältesten und das fünfunddreißigjährige Amalchen mit der eingefallenen Brust und rotgewordenen Nasenspitze ... Bei der Gelegenheit vergießt er eine Träne, predigt noch Moral und stirbt bald darauf. Der Älteste wird nun seinerseits ein tugendsamer Vater und es fängt wieder dieselbe Geschichte an.

So nach fünfzig oder siebzig Jahren hat dann der Enkel jenes ersten Vaters schon ein ganz ansehnliches Vermögen, das er wieder seinem ältesten Sohne vermacht, dieser hinterläßt es wieder seinem Sohne, dieser wieder seinem und so weiter, bis endlich ein Sproß nach fünf oder sechs Generationen so etwas wie ein zweiter Baron Rothschild wird oder Hoppe und Kompagnie oder der Teufel weiß was sonst. Nun, wie sollte da der Anblick dieser Ahnenreihe kein erhabenes Schauspiel sein! Hundert- oder zweihundertjähriger Fleiß, Geduld, Verstand und Ehrlichkeit, praktische Berechnung, Charakter und Festigkeit, und dazu ein Storchennest auf dem Dach! Was will man mehr? – Das ist doch das Erhabenste, was es gibt ... und von diesem Standpunkt aus beginnen sie selbst die ganze Welt zu beurteilen und die Schuldigen, d. h. solche, deren Lebensweise der ihrigen mehr oder weniger unähnlich ist, ohne weiteres zu verurteilen – und zwar schonungslos. Nun, ich für meine Person wollte nur sagen, daß ich denn doch vorziehe, nach russischer Art das Leben zu verschwelgen und durch das Roulette Vermögen zu erwerben. Ich danke dafür, nach fünf Generationen Hoppe und Co. zu sein! Ich will mein Geld für mich besitzen und mir soll es gehören, nicht ich ihm, denn niemals könnte ich mich als Zugabe zum Kapital, als Nebensache betrachten ... Das heißt, pardon, ich weiß übrigens selbst, daß ich Unsinn zusammengeredet und entsetzlich übertrieben habe, aber mag es nun mal so sein. Ich bleibe dabei, was ich gesagt habe.“

„Ich weiß nicht, ob viel Wahres daran ist, was Sie gesagt haben,“ bemerkte der General nachdenklich, „nur weiß ich dafür sehr genau, daß Sie sich selbst zu überbieten suchen, sobald man Ihnen nur ein bißchen erlaubt, sich zu vergessen ...“

Wie gewöhnlich brach er wieder kurz ab. Wenn unser General irgend etwas Bedeutsameres sagen will, etwas, das ein wenig über dem Niveau der alltäglichen Unterhaltung steht, so spricht er seine Gedanken nie ganz aus. Der Franzose hörte nachlässig zu und machte kalbige Augen. Er hat wohl kaum etwas davon begriffen, was ich sagte. Polina schaute mit einem gewissen hochmütigen Gleichmut drein. Es hatte fast den Anschein, als habe sie nicht nur mich, sondern alles heute bei Tisch Gesprochene überhört.

V.

Ihre Gedanken waren mit etwas ganz anderem beschäftigt; das sah man ihr an; doch sogleich nach Tisch sagte sie zu mir, ich solle sie auf einem Spaziergang begleiten. Wir nahmen die Kinder mit und gingen in den Park zum Springbrunnen.

Da ich in ganz besonders aufgeregter Stimmung war, platzte ich dumm und grob mit der Frage heraus, weshalb denn unser Marquis de Grillet, so hieß mein Franzusischka, sie jetzt weder auf ihren Spaziergängen begleite, noch sich mit ihr wie früher unterhalte. Es war mir aufgefallen, daß er oft tagelang kein Wort mit ihr sprach.

„Weil er ein verächtliches Subjekt ist,“ sagte sie seltsamerweise.

Noch nie hatte ich von ihr eine solche Äußerung über de Grillet gehört und ich schwieg unwillkürlich. Ich fürchtete mich, nach einer Erklärung dieser Gereiztheit zu suchen.

„Haben Sie nicht bemerkt, daß er und der General heute nicht gut aufeinander zu sprechen sind?“

„Damit wollen Sie mich wohl fragen, um was es sich handelt?“ fragte sie trocken und gereizt. „Sie wissen doch, daß der General von ihm Geld geliehen, wofür er ihm Wechsel ausgestellt und das ganze Gut verpfändet hat, so daß de Grillet, falls die Babuschka nicht stirbt, sogleich in den Besitz dessen treten kann, was er als Pfand bereits in der Hand hat.“

„Ah, dann ist es also wirklich wahr, daß alles verpfändet ist? Ich habe davon gehört, nur wußte ich nicht, ob es sich tatsächlich um alles handelte.“

„Um was denn sonst?“

„Nun, dann Adieu, Mademoiselle Blanche,“ bemerkte ich, „dann ist’s nichts mit der Generalin! Aber wissen Sie, mir scheint, der General ist so verliebt, daß er sich womöglich erschießen wird, wenn Mademoiselle Blanche ihn verläßt. In seinen Jahren sich so zu verlieben, ist sehr gefährlich.“

„Ja, auch ich glaube, daß man sich in dem Fall auf etwas Schlimmes wird gefaßt machen müssen,“ sprach Polina Alexandrowna nachdenklich vor sich hin.

„Und wie wundervoll deutlich das wäre!“ lachte ich. „Nicht wahr, deutlicher könnte man es doch nicht gut zeigen, daß sie es nur auf sein Geld abgesehen hat! Hier wird ja nicht einmal der äußere Anstand gewahrt, nicht einmal um den Schein ist es ihr zu tun! Wundervoll! Und was die Babuschka betrifft, was kann es Lächerlicheres und Schmutzigeres geben, als Depesche auf Depesche abzusenden mit ewig derselben gierigen Frage: ist sie tot? – ist sie schon gestorben? – stirbt sie? ... Wie gefällt Ihnen das, Polina Alexandrowna?“

„Lassen Sie doch den Unsinn!“ schnitt sie kurz ab. „Ich wundere mich nur, daß er Sie in so gute Laune versetzt. Worüber freuen Sie sich denn? Etwa darüber, daß Sie mein Geld verspielt haben?“

„Warum gaben Sie es mir zum Verspielen? Ich sagte Ihnen doch, daß ich nicht für andere spielen kann und für Sie am allerwenigsten! Ich werde jeden Ihrer Befehle ausführen, gleichviel welcher Art er sein sollte, doch die Folgen hängen nicht von mir ab. Ich sagte Ihnen im voraus, daß nichts dabei herauskommen würde. Sagen Sie, ist es Ihnen sehr nahe gegangen, daß Sie so viel Geld verloren haben? Wozu haben Sie so viel nötig?“

„Was sollen diese Fragen?“

„Aber Sie haben mir doch selbst versprochen, zu erklären ... Hören Sie: ich bin fest überzeugt, daß ich, wenn ich für mich zu spielen beginne – ich besitze zwölf Friedrichsdor – unfehlbar gewinnen werde. Nehmen Sie dann von mir soviel Sie wollen.“

Sie machte eine verächtliche Miene.

„Ärgern Sie sich nicht über dieses Angebot meinerseits,“ fuhr ich fort. „Ich bin ja doch so durchdrungen von dem Bewußtsein, daß ich vor Ihnen eine Null bin – das heißt, in Ihren Augen – daß Sie sogar Geld von mir annehmen können. Sie können sich durch ein Geschenk von mir nicht beleidigt fühlen. Und außerdem habe ich ja das Ihrige verspielt.“

Sie warf einen raschen Blick auf mich, und als sie sah, daß ich gereizt war und sarkastisch sprach, gab sie dem Gespräch schnell eine andere Wendung, indem sie der Fortsetzung zuvorkam.

„Es ist nichts, was Sie interessieren könnte,“ sagte sie rasch. „Wenn Sie es durchaus wissen wollen – ich schulde es einfach. Ich habe Geld geborgt und würde es gern zurückgeben. Und da kam der dumme und seltsame Einfall, daß ich hier im Spiel unbedingt gewinnen würde. Wie ich auf diesen Gedanken gekommen bin, begreife ich jetzt selbst nicht, aber ich glaubte an ihn, ich war überzeugt, daß es so sein werde. Wer weiß, vielleicht glaubte ich nur deshalb an ihn, weil mir sonst keine andere Rettungsmöglichkeit zur Auswahl blieb.“

„Oder weil Sie es schon gar zu nötig hatten. Das ist ganz wie bei einem Ertrinkenden, der nach einem Strohhalm greift: unter anderen Umständen würde er ihn doch gewiß nicht für einen Balken halten, der ihn retten könnte oder kann.“

Polina schien erstaunt zu sein.

„Wie, ich verstehe Sie nicht – haben Sie denn Ihre Hoffnung nicht auf ganz dasselbe gesetzt?“ fragte sie mich. „Haben Sie mir nicht noch vor zwei Wochen lang und breit erklärt, daß Sie vollkommen überzeugt seien, hier am Roulette zu gewinnen, und sagten Sie nicht, ich solle Sie deshalb nicht für wahnsinnig halten? Oder scherzten Sie damals nur? Soviel ich mich erinnere, sprachen Sie in so ernstem Tone, daß man es unter keinen Umständen als Scherz auffassen konnte.“

„Es ist wahr, ich bin fest überzeugt, daß ich gewinnen werde ... Sonderbar,“ fuhr ich nach kurzem Besinnen fort, „Sie haben mich auf eine naheliegende Frage gebracht: weshalb mein heutiger unsinniger und dummer Verlust diese meine Zuversicht nicht durch den geringsten Zweifel beeinträchtigt? Denn ich bin nach wie vor unerschütterlich überzeugt, daß ich, sobald ich für mich selbst zu spielen beginne, unfehlbar gewinnen werde.“

„Woher denn diese Siegesgewißheit?“

„Wenn ich aufrichtig sein soll – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich gewinnen muß, daß es gleichfalls meine einzige Rettungsmöglichkeit ist. Nun und deshalb scheint es mir denn vielleicht, daß ich unfehlbar gewinnen werde.“

„Also auch Sie haben es ‚schon gar zu nötig‘, wenn Sie so fanatisch daran glauben.“

„Ich wette, daß Sie natürlich daran zweifeln, ich könnte wirklich ein ernst zu nehmendes Bedürfnis haben!“

„Das ist mir ganz gleichgültig,“ sagte sie halblaut, ruhig, gleichmütig. „Wenn Sie wollen – ja, ich bezweifle, daß etwas Ernstes Sie quält. Sie können sich vielleicht quälen, jedoch nicht ernstlich. Sie sind ein zerfahrener und unbeständiger Mensch. Wozu brauchen Sie Geld? Wenigstens habe ich unter all jenen Gründen, die Sie mir damals aufzählten, keinen einzigen gefunden, der wirklich ernst zu nehmen wäre.“

„A propos,“ unterbrach ich sie, „sagten Sie nicht, daß Sie eine Schuld zurückzahlen wollten? Das muß ja ein nettes Sümmchen sein! – Doch nicht etwa dem Franzusischka?“

„Was für Fragen! Sie sind ja heute ganz besonders ... oder sind Sie vielleicht betrunken?“

„Sie wissen, daß ich Ihnen erlaube, mir alles zu sagen, und dafür meinerseits ebenso frei frage. Ich wiederhole Ihnen, ich bin Ihr Sklave, vor einem Sklaven aber schämt man sich nicht und ein Sklave kann auch nicht beleidigen.“

„Reden Sie keinen Unsinn! Ich kann Ihre Sklaventheorie nicht ausstehen!“

„Vergessen Sie nicht, daß ich nicht deshalb von meiner Sklaverei rede, weil ich etwa Ihr Sklave zu sein wünsche, sondern einfach – weil es eine Tatsache ist, die nicht von mir abhängt.“

„Sagen Sie ganz offen – wozu brauchen Sie das Geld?“

„Wozu brauchen Sie das zu wissen?“

„Wie Sie wollen,“ sagte sie schroff und wandte stolz den Kopf ab.

„Die Sklaventheorie sagt Ihnen nicht zu, aber sklavischen Gehorsam verlangen Sie wie etwas Selbstverständliches. ‚Antworten, nicht denken, wenn ich frage!‘ Schön, mag es so sein. Wozu ich das Geld brauche, fragen Sie? Wie denn! Geld ist – alles!“

„Ich verstehe. Aber deshalb braucht man doch nicht irrsinnig zu werden, wenn man es sich bloß wünscht! Sie gehen ja schon bis zum Fanatismus, sogar bis zum Fatalismus. Da kann es nicht anders sein, Sie müssen ein bestimmtes Ziel haben, Sie wollen damit etwas Besonderes bezwecken. Also sprechen Sie es offen aus, ohne Umschweife, ich will es!“

Sie ärgerte sich und mich freute es ungeheuer, daß sie so nachdrücklich darauf bestand. Der Grund interessierte sie doch.

„Selbstverständlich verfolge ich damit ein bestimmtes Ziel,“ sagte ich, „nur verstehe ich nicht, es Ihnen zu erklären. Es ist nichts weiter, als daß ich mit Geld in der Tasche auch in Ihren Augen ein ganz anderer Mensch und nicht mehr ein elender Sklave sein werde.“

„Wie? Wie wollen Sie das erreichen?“

„Wie ich’s erreichen will? ... Halten Sie nicht einmal die Möglichkeit für möglich, daß ich es erreichen könnte, von Ihnen anders denn als Sklave betrachtet zu werden! ... Nun, sehen Sie, gerade das ist es, was ich nicht will: solche Verwunderung und Verständnislosigkeit!“

„Sie haben mir gesagt, diese Sklaverei sei für Sie eine Wonne. Und ich habe es mir selbst auch so gedacht.“

„Sie haben es sich selbst auch so gedacht!“ entfuhr es mir unwillkürlich und ich empfand dabei plötzlich eine seltsame Genugtuung, die mit Schmerz und Wonne gepaart war. „Ach, wie diese Naivität von Ihnen reizend ist! Nun, ja, ja, Ihr Sklave zu sein – ist für mich eine Wonne. Es gibt, glauben Sie mir, es gibt ein Wonnegefühl, das man in dem Bewußtsein, auf der letzten Stufe der Erniedrigung und Nichtigkeit zu stehen, empfinden kann!“ delirierte ich fast wie im Fieber. „Der Teufel weiß, vielleicht empfindet man es auch unter der Knute, wenn der Riemen einem über den Rücken leckt und das Blut wie aus Schnittwunden spritzt ... Ich will aber vielleicht auch andere Genüsse, andere Wonnen auskosten. Der General hat mir vorhin bei Tisch in Ihrer Gegenwart Moral gepredigt ... für siebenhundert Rubel jährlich, die ich vielleicht noch nicht einmal von ihm erhalten werde. Marquis de Grillet betrachtet mich mit hochgezogenen Augenbrauen oder bemerkt mich nicht. Ich aber, nun, ich wünsche vielleicht nichts so sehr und trage vielleicht kein leidenschaftlicheres Verlangen, als diesen Monsieur le Marquis de Grillet in Ihrer Gegenwart an der Nase zu fassen!“

„Sie reden wies ein Bengel. In jeder Lage kann man sich durch sein Auftreten Achtung verschaffen. Und wenn es einen Kampf gilt, so kann man durch ihn nur noch mehr gewinnen.“

„Ein Aphorismus aus dem Schönschreibeheft! Sie nehmen an, daß ich eben nicht so würdevoll aufzutreten verstehe. Das heißt, daß ich – nun ja – vielleicht auch ein ganz achtbarer Mensch sei, mir aber doch keine Achtung zu verschaffen wisse. Also eigene Schuld? Das ist es doch, was Sie meinen? Ja, aber so sind doch alle Russen, und wissen Sie, warum? – Weil die Russen gar zu reich und vielseitig begabt sind, um schnell eine anständige Form für sich zu finden. Und hierbei handelt es sich gerade nur um die Form. Größtenteils sind wir aber, wir Russen, so reich begabt, daß wir zur anständigen Form direkt Genialität besitzen müßten. Nun, diese Genialität aber fehlt uns gewöhnlich, zumal sie überhaupt ein seltenes Ding ist. Nur bei den Franzosen und, sagen wir, auch bei einigen anderen Europäern steht die Form bereits so fest, und man hat sich schon so lange in ihr geübt, daß man äußerlich den größten Anstand markieren kann, selbst wenn man innerlich der unanständigste Mensch ist. Deshalb wird bei ihnen auch so viel Gewicht gelegt auf die Form. Deshalb hat diese so viel bei ihnen zu bedeuten. Der Franzose wird eine Beleidigung, eine wirkliche, tiefe Beleidigung, gelassen ertragen, wird sie ruhig einstecken, wird nicht einmal mit der Wimper zucken, einen Nasenstüber aber wird er unter keinen Umständen ertragen, denn ein Nasenstüber verletzt die einmal festgesetzten, durch das Alter von Jahrhunderten geheiligten Anstandsformen. Deshalb sind denn auch unsere Damen so eingenommen von den Franzosen, eben weil sie sich von den äußeren Umgangsformen bestechen lassen. Ich verstehe sie nicht. Meiner Ansicht nach ist aber da überhaupt keine Form vorhanden, ich sehe in ihnen nur den Hahn, le coq gaulois. Übrigens kann ich das wohl deshalb nicht verstehen, weil ich es nicht beurteilen kann: ich bin keine Dame. Vielleicht sind Hähne gerade das Richtige ... Übrigens, pardon, ich bin wieder aus dem Konzept geraten und Sie haben mich nicht unterbrochen. Unterbrechen Sie mich öfter, wenn ich mit Ihnen rede ... Ich will alles aussprechen, alles, endlich einmal alles! Ich verliere jede Form. Ich gebe sogar zu, daß ich nicht nur keine Form – daß ich nicht einmal irgendwelche Würde habe. Ich teile Ihnen das selbst mit, wie Sie sehen. Ja, und es liegt mir auch nichts an all den Würden, ich begehre keine einzige von ihnen und mache mir nicht einmal Sorgen darob. Es stockt jetzt alles in mir. Sie wissen, weshalb. Ich habe keinen einzigen menschlichen Gedanken im Kopf. Schon seit Monaten weiß ich nicht mehr, was in der Welt geschieht, weder in Rußland, noch hier. Da bin ich zum Beispiel durch Dresden gefahren, ich weiß aber nichts mehr davon. Sie wissen, was mich so absorbiert hat. Doch da ich nicht die geringste Hoffnung habe und in Ihren Augen eine vollständige Null bin, so kann ich es Ihnen offen sagen: ich sehe nur Sie überall, das übrige ist mir gleichgültig. Wie, warum und wofür ich Sie liebe – ich weiß es nicht. Wissen Sie, vielleicht sind Sie gar nicht einmal schön? Stellen Sie sich vor, ich weiß es nicht, ob Sie schön sind oder nicht, ich weiß nicht einmal, wie Ihr Gesicht aussieht. Sie haben gewiß kein gutes Herz und es ist sehr möglich, daß Ihr ganzer geistiger Mensch nicht edel ist.“

„Dann rechnen Sie vielleicht deshalb darauf, mich mit Geld kaufen zu können,“ sagte sie, „weil Sie mich für unedel halten?“

„Wann habe ich darauf gerechnet, Sie mit Geld kaufen zu können?“ rief ich aufs äußerste erregt.

„Sie verrieten sich vorhin. Wenn nicht gerade mich zu kaufen, so glauben Sie doch, meine Achtung mit Geld in der Tasche erkaufen zu können.“

„Nun, nein, das war nicht ganz so gemeint. Ich sagte Ihnen, daß es mir schwer fällt, mich zu erklären. Sie erdrücken mich mit Ihrer Gegenwart. Ärgern Sie sich nicht über mein Geschwätz. Sie sehen doch ein, weshalb Sie sich nicht über mich ärgern dürfen? Ich bin doch einfach ein Wahnsinniger. Übrigens ist mir alles gleich, ärgern Sie sich meinetwegen so viel Sie wollen. Oben in meinem Zimmer brauche ich mich nur an das Rauschen Ihres Kleides zu erinnern, und ich könnte mir die Hände zerbeißen. Und weshalb ärgern Sie sich denn über mich? Etwa deshalb, weil ich mich einen Sklaven nenne? Bedienen Sie sich, bedienen Sie sich nur meiner Sklaverei, bedienen Sie sich ihrer! Wissen Sie, daß ich Sie einmal töten werde? Und nicht aus Eifersucht oder weil ich aufhörte, Sie zu lieben, sondern so, ich werde Sie einfach töten, denn – es verlangt mich zuweilen so maßlos, Sie zu zerreißen, Sie zu verschlingen! Sie lachen ...“

„Ich lache durchaus nicht!“ fuhr sie zornig auf. „Ich befehle Ihnen, zu schweigen!“

Sie blieb stehen und rang fast nach Atem vor Zorn. Bei Gott, ich weiß nicht, ob sie in diesem Augenblick schön war, aber ich liebte es, wenn sie so vor mir stehen blieb, und deshalb rief ich gern ihren Zorn hervor. Vielleicht hatte sie das bemerkt und stellte sich absichtlich erzürnt. Ich sagte ihr das.

„Pfui, wie schmutzig!“ sagte sie angeekelt.

„Mir ist alles egal,“ fuhr ich fort. „Wissen Sie, daß es für uns gefährlich ist, so zu zweien zu gehen? Es hat mich schon mehr als einmal unwiderstehlich getrieben, Sie zu prügeln, Sie zu verstümmeln, zu erwürgen. Und meinen Sie, daß es nicht dazu kommen wird? Sie machen mich irrsinnig, ich fange an zu delirieren. Oder glauben Sie etwa, ich fürchtete einen Skandal? Oder Ihren Zorn? Was ist mir Ihr Zorn! Ich liebe Sie, ohne mir die geringste Hoffnung machen zu können, und ich weiß, daß ich Sie nachher noch tausendmal mehr lieben werde. Wenn ich Sie einmal umgebracht habe, werde ich auch mir das Leben nehmen müssen. Nun wohl ... so werde ich dann meinen eigenen Tod so lange als möglich hinausschieben, um diesen unerträglichen Schmerz, ohne Sie zu leben, ganz, ganz auskosten zu können. Wissen Sie, ich werde Ihnen etwas Unglaubliches sagen: ich liebe Sie mit jedem Tage mehr – wie ist das nur möglich? Und da soll ich nicht Fatalist werden? Erinnern Sie sich noch, was ich Ihnen auf dem Schlangenberg auf Ihre Herausforderung hin zuflüsterte? – ‚Ein Wort von Ihnen und ich springe in den Abgrund.‘ Und wenn Sie damals dieses Wort gesprochen hätten, so wäre ich hinabgesprungen. Oder glauben Sie, ich hätte nicht Wort gehalten?“

„Hören Sie auf mit Ihrem dummen Geschwätz!“ unterbrach sie mich geärgert.

„Was geht das mich an, ob es dumm oder klug ist!“ rief ich aus. „Ich weiß nur, daß ich in Ihrer Gegenwart sprechen muß, immer nur sprechen, versuchen muß, alles auszudrücken – und so versuche ich es denn. Ich verliere jede Eigenliebe in Ihrer Gegenwart, es ist mir alles so gleichgültig.“

„Wozu sollte ich Sie veranlassen, vom Schlangenberg hinabzuspringen?“ fragte sie trocken und irgendwie ganz besonders beleidigend. „Das wäre für mich doch ganz nutzlos.“

„Nutzlos ... Prachtvoll!“ rief ich, „Sie haben absichtlich dieses Wort gewählt, dieses ‚nutzlos‘, um mich ganz und gar unter die Füße zu treten. Ich durchschaue Sie vollkommen. ‚Nutzlos‘ sagen Sie? Aber ein Vergnügen ist doch niemals ‚nutzlos‘, und gar erst wilde grenzenlose Macht über ein Wesen – und wenn’s auch nur eine Fliege ist – ist doch ein ganz besonderer Genuß. Der Mensch ist von Natur ein Despot und liebt es, zu quälen. Sie lieben es ungeheuer.“

Ich weiß nicht, sie musterte mich mit einem ganz eigentümlich forschenden, aufmerksamen, unbeweglichen Blick. Mein Gesicht muß wohl alle meine sinnlosen Empfindungen wiedergespiegelt haben. Ich glaube, daß ich unser Gespräch hier wirklich Wort für Wort wiedergegeben habe. Meine Augen waren blutunterlaufen, an den Mundwinkeln klebte, glaube ich, Schaum. Was aber den Schlangenberg betrifft, so schwöre ich bei meiner Ehre, daß ich, wenn sie mir damals befohlen hätte, mich hinabzustürzen, unfehlbar mein Wort gehalten haben würde und hinabgesprungen wäre, um unten zu zerschmettern! Und hätte sie es auch zum Scherz gesagt oder mit der größten Verachtung, mir womöglich ins Gesicht speiend – ich wäre auch dann in den Abgrund gesprungen!

„Nein, wieso, ich glaub’s Ihnen gern,“ sagte sie – sagte es aber so, wie nur sie allein mitunter etwas zu sagen versteht, sagte es mit einer solchen Verachtung, mit einer solchen Anmaßung und solchem Sarkasmus, daß ich sie – bei Gott! – in dem Augenblick hätte erwürgen mögen.

Sie riskierte viel. Was ich ihr von der Gefahr gesagt hatte, war richtig.

„Sie sind kein Feigling?“ fragte sie mich plötzlich.

„Ich weiß nicht, vielleicht bin ich einer. Ich weiß nicht ... ich habe lange nicht mehr darüber nachgedacht.“

„Wenn ich Ihnen sagen würde: töten Sie diesen Menschen, – würden Sie ihn dann töten?“

„Wen?“

„Den, den ich bezeichnen werde.“

„Den Franzosen?“

„Fragen Sie nicht, antworten Sie! Wen ich bezeichnen werde. Ich will wissen, ob Sie soeben im Ernst gesprochen haben.“

Und sie wartete so ungeduldig und mit so ernstem Gesicht auf meine Antwort, daß mir seltsam zumut wurde.

„Ja, werden Sie mir denn nicht endlich einmal sagen, was hier vorgeht!“ entfuhr es mir in plötzlicher Empörung. „Oder fürchten Sie mich etwa? Ich sehe doch, wie hier alles zusammenhängt! Da sind zuerst Sie, die Stieftochter eines total ruinierten Mannes, den die Liebe zu diesem Satan, dieser Blanche, wahnsinnig macht! Hinzu kommt dieser Franzusischka mit einem geheimnisvollen Einfluß auf Sie, und – da stellen Sie plötzlich so ernst ... eine solche Frage. So sagen Sie mir doch nur ein einziges Wort, damit ich wenigstens kombinieren kann! Sonst werde ich noch verrückt und stelle etwas an! Oder schämen Sie sich, mich Ihres Vertrauens zu würdigen? Wie können Sie sich denn überhaupt so weit herablassen, sich vor mir zu schämen?“

„Ich rede gar nicht davon mit Ihnen ... Ich habe nur eine Frage an Sie gestellt und warte auf die Antwort.“

„Selbstverständlich werde ich ihn töten!“ rief ich wütend. „Wen Sie mir nur bezeichnen! Aber können Sie denn ... werden Sie mir denn diesen Befehl geben?“

„Was glauben Sie! daß es mir um Sie leid tun wird? Ich gebe Ihnen nur den Befehl und bleibe selbst ganz aus dem Spiel. Werden Sie das ertragen? Übrigens, was fällt mir ein! Sie würden vielleicht den Befehl ausführen, dann aber zu mir kommen, um mich zu töten, und zwar nur deshalb, weil ich es gewagt habe, Sie hinzuschicken.“

Es war mir bei diesen Worten, als versetze mir jemand einen Schlag auf den Kopf. Natürlich hatte ich ihre Frage zunächst mehr für einen Scherz gehalten, eine Herausforderung, doch um so unangenehmer war mir ihr Ernst. Es machte mich doch ganz betroffen, daß sie sich so deutlich aussprach und sich ein solches Recht über mich anmaßte, oder auch – daß sie eine solche Macht über mich sich selbst zuzugestehen geruhte. „Gehe du ins Verderben, ich aber bleibe aus dem Spiel!“ Diese Worte enthielten so viel Zynismus und verachtende Aufrichtigkeit, daß es meiner Meinung nach denn doch schon zu viel war. Als was betrachtet sie mich denn? – fragte ich mich. Das überschreitet doch schon die Grenze der Sklaverei und Erniedrigung! Nein, wenn sie so auf mich sieht, dann stellt sie mich auf eine Stufe mit sich selbst! – Aber wie dumm, wie unmöglich auch unser Gespräch war – mein Herz erzitterte dennoch.

Plötzlich begann sie zu lachen. Wir saßen gerade auf einer Bank vor den spielenden Kindern, nicht weit von der Stelle, wo die Allee beginnt, die zum Kurhaus führt, und wo gewöhnlich die Equipagen anhalten, wenn die Insassen zu den Spielsälen wollen.

„Sehen Sie diese dicke Baronin?“ rief sie lachend. „Das ist die Baronin Wurmerhelm. Sie ist erst vor drei Tagen angekommen. Und sehen Sie ihren Mann, den langen, hageren Preußen mit dem Stock in der Hand? Erinnern Sie sich noch, wie er uns vorgestern ansah? Gehen Sie sofort hin, treten Sie auf die Baronin zu, nehmen Sie den Hut ab und sagen Sie ihr irgend etwas auf französisch.“

„Weshalb?“

„Sie haben mir geschworen, daß Sie vom Schlangenberg hinabspringen würden, daß Sie bereit seien, auf meinen Befehl hin zu töten, – anstatt all dieser Verbrechen und Tragödien will ich nur einmal lachen. Gehen Sie sofort, ich will es! Ich will zusehen, wie der Baron Sie mit seinem Stock verprügelt.“

„Sie fordern mich heraus. Glauben Sie, daß ich es nicht tun werde?“

„Ja, es soll eine Herausforderung sein, gehen Sie, ich will es!“

„Wie Sie wünschen, ich werde gehen, wenn’s auch ein unglaublicher Einfall ist. Nur eines noch: werden nicht für den General und durch ihn auch für Sie Unannehmlichkeiten daraus entstehen? Bei Gott, ich trage nicht wegen meiner Person Bedenken, ich denke dabei nur an Sie und – auch an den General, versteht sich. Und was hat das für einen Sinn, hinzugehen und eine Frau zu beleidigen?“

„Nein, Sie sind doch nur ein Schwätzer, wie ich sehe,“ sagte sie mit unendlicher Verachtung. „Ihre Augen waren vorhin blutunterlaufen, doch wird das wohl nur darauf zurückzuführen sein, daß Sie bei Tisch zu viel Wein getrunken haben. Als ob ich nicht selbst wüßte, daß es dumm und verächtlich ist und daß der General sich ärgern wird? Ich will einfach nur lachen. Ich will eben und damit basta. Und übrigens – bevor Sie dazu kämen, die Frau zu beleidigen, wird man Sie doch schon durchgeprügelt haben.“

Ich erhob mich und ging schweigend auf die Baronin zu, um den Auftrag auszuführen. Natürlich war es dumm und ich verstand mich nicht aus der Affäre zu ziehen. Doch während ich mich noch der Baronin näherte, war es mir, als erfasse mich jetzt selbst die Lust, einen Streich zu spielen. Ich war aufs äußerste gereizt und fast wie ein Betrunkener kaum noch meiner Sinne mächtig.

VI.

Erst zweimal vierundzwanzig Stunden sind seit jenem dummen Tage vergangen, und wieviel Geschrei, Geschwätz, Streit und Lärm hat es schon gegeben! Und was für eine Unordnung und Dummheit und Gemeinheit dabei überall zutage tritt! Doch übrigens – mitunter ist es wirklich zum Lachen! Wenigstens von mir kann ich ehrlich sagen, daß mich mehr als einmal unbändige Lachlust angewandelt hat. Ich vermag mir keine Rechenschaft darüber zu geben, was mit mir geschehen ist: ob ich mich in einem noch zurechnungsfähigen oder bereits unzurechnungsfähigen Zustande befinde, oder ob ich einfach nur aus dem Geleise geraten bin und vorläufig nichts als Unfug treibe – bis man mich bindet. Von Zeit zu Zeit scheint es mir, daß ich meinen Verstand einbüßen werde, und bisweilen wiederum, daß ich kaum der Schulbank entwachsen bin und einfach nach Schülerart tolle Streiche mache.

Polina, nur Polina ist an allem schuld! Wäre sie nicht, so täte ich keinem etwas zuleide! Ich glaube, ich tue alles nur aus Verzweiflung – wie dumm es auch sein mag, so zu denken. Und wirklich ... wirklich, ich begreife nicht, was an ihr ist, das so toll machen kann! Schön ist sie übrigens, ja, schön ist sie. Ich glaube wenigstens, daß sie schön ist. Bringt sie doch auch andere um den Verstand. Hoch gewachsen ist sie und schlank. Zum Biegen schlank. Ich glaube, man könnte sie zum Knoten schlingen oder wie ein Taschenmesser zusammenknicken. Ihre Fußspur ist schmal und lang. Qualvoll ist das! Ja: qualvoll! Ihr Haar hat einen rötlichen Schimmer. Ihre Augen sind richtige Katzenaugen, aber wie stolz und hochmütig sie blicken können! Vor etwa vier Monaten, kurz nachdem ich die Stelle als Hauslehrer angenommen hatte, sah ich sie an einem Abend im Saal, wie sie mit de Grillet lange und heftig sprach. Und so sah sie ihn an ... daß ich später, als ich in mein Zimmer ging und mich schlafen legte, dachte, sie habe ihm eine Ohrfeige gegeben in jenem Augenblick, als sie so vor ihm stand und ihn ansah ... Und seit jenem Abend ... ja, an jenem Abend begann ich sie zu lieben.

Doch zur Sache.

Ich ging den etwas abwärts führenden Weg zur großen Allee hinab, blieb in der Mitte der Allee stehen und erwartete die Baronin und den Baron. Als sie bis auf etwa fünf Schritte Entfernung an mich herangekommen waren, lüftete ich den Hut und verbeugte mich.

Ich erinnere mich noch genau der ganzen Situation. Die Baronin trug ein seidenes Kleid von hellgrauer Farbe und unheimlichem Umfang, mit unzähligen Volants über der Krinoline und einer Schleppe obendrein. Sie selbst ist klein von Wuchs, entsetzlich dick und hat ein erschreckend großes hängendes Doppelkinn, das den ganzen Hals vollständig verdeckt. In ihrem dicken himbeerroten Gesicht sitzen zwei kleine, böse und frech blickende Augen. Sie geht – als würdige sie damit alle einer besonderen Ehre. Der Baron ist hager und sehr lang. Sein Gesicht besteht fast nur aus Runzeln. Auf der Nase eine Brille. Alter – etwa fünfundvierzig, taxiere ich. Seine Beine beginnen fast gleich unter der Brust; das bezeichnet, heißt es, Rasse. Stolz ist er wie ein Pfau. Ein wenig unbeholfen. Im Gesichtsausdruck etwas Schafiges, was vielleicht in seiner Art Gedankenreichtum ersetzt.

Alles das übersah ich in noch nicht fünf Sekunden.

Mein Gruß und meine Verbeugung lenkten anfangs kaum ihre Aufmerksamkeit auf mich. Nur der Baron runzelte leicht die Stirn. Die Baronin jedoch schwamm in ihrer Krinoline wie ein Schwimmtier gerade auf mich zu.

Madame la baronne,“ sagte ich laut, jede Silbe ganz besonders betonend, „j’ai l’honneur d’être votre esclave.“

Darauf verbeugte ich mich, setzte den Hut auf und ging an dem Baron vorüber, indem ich ihm höflich mein Gesicht zuwandte und kaum merklich lächelte.

Nur den Hut abzunehmen hatte sie mir befohlen, alles übrige, so wie es sich frei aus der Situation heraus ergab, war mein eigener Mutwille. Der Teufel weiß, was mich im Augenblick plagte, ihr diesen Streich zu spielen!

„Hn?“ schrie der Baron, oder richtiger, trompetete er durch die Nase, und drehte sich in zorniger Verwunderung nach mir um.

Ich wandte mich sofort zurück und blieb in höflicher Erwartung stehen, stand, sah ihn an und lächelte. Er schien sich jedenfalls über den Beweggrund meiner Handlungsweise nicht klar zu sein und zog seine Augenbrauen bis zum non plus ultra zusammen. Sein Gesicht wurde mit jedem Augenblick finsterer und drohender. Die Baronin wandte sich gleichfalls nach mir um und sah mich mit derselben zornigen Verständnislosigkeit an. Die Vorübergehenden wurden auf uns aufmerksam, blickten uns an, oder blieben gar in der Nähe stehen.

„Hn?“ trompetete nochmals in zornigem Nasalton der Baron – sein Ärger schien sich zu verdoppeln.

„Jawohl!“ sagte ich auf deutsch sehr gedehnt und blickte ihm unverwandt in die Augen.

„Sind Sie rasend?“ schrie er und fuchtelte einmal mit dem Stock, doch, wie mir schien, begann ihm bange zu werden. Ihn verwirrte vielleicht auch mein Äußeres: ich war sehr anständig, war sogar elegant gekleidet, wie einer, der fraglos zur besten Gesellschaft gehört.

„Jawo–o–hl!“ sagte ich plötzlich so laut wie ich nur konnte, das „o“ möglichst in die Länge ziehend, wie es die Berliner tun, die im Gespräch fast nach jedem Satz „jawohl“ sagen, wobei sie durch die größere oder geringere Dehnung des „o“ sehr verschiedene Gedanken und Empfindungen ausdrücken.

Der Baron und die Baronin wandten sich rasch von mir ab und eilten fast erschrocken, so schnell sie konnten, fort. Von den Zuschauern waren einige sehr aufgeräumt und schienen amüsiert zu sein, einige begannen interessiert zu sprechen, andere blickten mich verwundert an. Übrigens entsinne ich mich dessen nicht mehr genau.

Ich wandte mich um und ging gelassen zu Polina Alexandrowna zurück. Doch plötzlich – ich war noch etwa hundert Schritte von ihrer Bank entfernt – sah ich, wie sie aufstand und mit den Kindern zum Hotel zurückkehrte.

Ich erreichte sie erst vor dem Eingang.

„Ist besorgt ...“ sagte ich, neben ihr hergehend, „die Dummheit.“

„Nun, und? So tragen Sie doch jetzt die Konsequenzen,“ sagte sie, ohne mich überhaupt anzusehen, und stieg die Treppe hinauf.

Den ganzen Nachmittag strich ich im Park umher, von dort ging ich in den Wald und ging immer weiter geradeaus und kam sogar in ein anderes Fürstentum. In einem Bauernhause verzehrte ich eine Portion Rührei und trank dazu Wein. Für dieses Idyll zapfte man mir ganze anderthalb Taler ab.

Erst gegen elf Uhr kehrte ich ins Hotel zurück. Sogleich kam ein Diener und meldete, daß der General mich zu sich bitten lasse.

Die Unsrigen nehmen im Hotel ein großes Appartement mit vier Zimmern ein. Das erste ist ein großer Salon, in dem ein Flügel steht. Nebenan ist ein zweites großes Zimmer – das Kabinett des Generals. Hier erwartete er mich, in höchst majestätischer Haltung mitten im Zimmer stehend. Der Marquis saß in lässiger Pose auf dem Diwan.

„Mein Herr, gestatten Sie die Frage, was das für Geschichten sind, die Sie hier angerichtet haben?“ begann der General.

„Es wäre mir angenehm, General, wenn Sie ohne weiteres zur Sache kommen wollten,“ sagte ich. „Sie wollen wahrscheinlich von meiner heutigen Begegnung mit einem Deutschen reden?“

„Mit einem Deutschen?! Dieser Deutsche ist der Freiherr von Wurmerhelm und eine überaus wichtige Persönlichkeit! Und Sie, Sie haben sich gegen ihn und seine Gemahlin unanständig benommen!“

„Ich wüßte nicht, inwiefern.“

„Sie haben sie erschreckt, mein Herr!“

„Keineswegs. Gestatten Sie, daß ich Ihnen den Sachverhalt klarlege. Mir klingt noch von Berlin her das deutsche ‚Jawohl‘ in den Ohren, das man dort nach jedem Satz zu hören bekommt und das sie so widerwärtig in die Länge ziehen. Als ich ihnen heute in der Allee begegnete, kam mir plötzlich dieses ‚Jawohl‘ in den Sinn und das wirkte auf mich selbstverständlich aufreizend ... Überdies hat die Baronin, die mir schon dreimal begegnet ist, die Gewohnheit, gerade auf mich zuzugehen, als wäre ich ein Wurm, den man mit dem Fuß zertreten kann. Sie werden doch zugeben, daß auch ich meine Eigenliebe haben kann. Nun und diesmal, als sie wieder tat, als sei die Allee nur für sie geschaffen, zog ich den Hut und sagte höflich – ich versichere Sie, daß ich es mit ausgesuchter Höflichkeit sagte – ‚Madame, j’ai l’honneur d’être votre esclave.‘ Und als der Baron sich darauf nach mir umwandte und einen Nasenton à la ‚Hn‘ hervorstieß – da ritt mich plötzlich der Teufel, ihm dieses wundervolle ‚Jawohl‘ zu sagen. Und so tat ich’s denn auch: das erste Mal ganz gewöhnlich, das zweite Mal jedoch mit ausgesprochener Berliner Dehnung. Und das war alles.“

Ich muß gestehen, daß diese meine kindische Erklärung mir ungeheuren Spaß bereitete. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich die ganze Geschichte plötzlich so unsinnig als möglich darstellen wollte. Und mit jeder weiteren Phrase kam ich mehr in Geschmack.

„Wollen Sie sich etwa über mich lustig machen?“ schrie mich der General an. Und mit einer brüsken Bewegung wandte er sich zu dem Franzosen, um ihm auf französisch lebhaft gestikulierend auseinanderzusetzen, daß ich es entschieden auf Händel abgesehen habe. Der Marquis lächelte geringschätzig, lachte kurz auf und zuckte mit den Achseln.

„Sie sind durchaus im Irrtum,“ unterbrach ich den General, „Händel habe ich weder gesucht, noch suche ich jetzt. Mein Benehmen war natürlich nicht lobenswert, das sehe ich selbst sehr wohl ein und gebe es offen zu. Man kann meine Handlungsweise schlimmstenfalls als dumm, als einen Schuljungenstreich bezeichnen, jedoch – mehr war sie nicht. Und übrigens bereue ich sie aufrichtig. Es spricht aber hier noch ein gewisser Umstand mit, der mich in meinen Augen sogar der pflichtschuldigen Reue enthebt. Ich fühle mich nämlich seit einiger Zeit, seit zwei oder sogar drei Wochen, nicht ganz wohl; ich bin krank, nervös, reizbar, zu allem Phantastischen aufgelegt, und in manchen Augenblicken verliere ich sogar jede Gewalt über mich selbst. Wirklich, ich habe zum Beispiel schon ein paarmal die größte, versichere Sie, die größte Lust verspürt, mich plötzlich an den Marquis de Grillet zu wenden und ... Du reste, brisons-là, es lohnt nicht, alles auszusprechen, und vielleicht könnte es ihn auch kränken. Mit einem Wort, das sind alles Krankheitssymptome. Leider weiß ich nicht, ob die Baronin Wurmerhelm diesen Umstand als Entschuldigungsgrund gelten lassen wird, wenn ich sie um Entschuldigung bitten werde – denn das ist meine Absicht. Ich nehme jedoch an, daß sie sie gelten lassen wird, um so mehr, als die Juristen in letzter Zeit, soviel mir bekannt ist, mit ähnlichen Entschuldigungen sogar schon Mißbrauch treiben. Tatsächlich! Die Rechtsanwälte wenigstens verteidigen bei Kriminalprozessen ihre Klienten, oft die schändlichsten Verbrecher, damit, daß sie im Augenblick der Tat nicht bei vollem Bewußtsein gewesen und daß dieser Zustand eine Art Krankheit sei: ‚Nun ja, er hat erschlagen, weiß aber selbst nichts davon,‘ heißt es. Und was das Unglaublichste dabei ist – die Mediziner geben ihnen noch recht, sie sagen, es gäbe tatsächlich solch einen zeitweiligen Irrsinn. Der Mensch wisse in diesem Zustande so gut wie nichts von dem was er tut, oder wisse es nur halb, oder vielleicht nur zu einem Viertel. Freilich will das in diesem Fall wenig besagen, denn der Baron und die Baronin sind Leute vom alten Schlage, außerdem preußische Junker und Gutsbesitzer. Daher dürfte ihnen dieser Fortschritt im juristischen und medizinischen Leben wohl noch unbekannt sein, womit denn mein Entschuldigungsgrund leider hinfällig wird. Was meinen Sie dazu, General?“

„Genug, mein Herr!“ sagte der General scharf und in verhaltenem Zorn, „genug! Ich sehe mich gezwungen, Maßregeln zu ergreifen, um mich ein für allemal davon zu befreien, den Folgen Ihrer Schuljungenstreiche ausgesetzt zu sein. Entschuldigen werden Sie sich weder bei der Baronin noch bei dem Baron, denn jede Annäherung Ihrerseits wäre für beide nur eine erneute Beleidigung. Da es dem Baron ein leichtes gewesen ist, zu erfahren, daß Sie zu meinem Hause gehören, hat er mich im Kursaal bereits um eine Erklärung ersucht, und ich will es Ihnen nur gestehen, es fehlte nicht viel, daß er von mir Genugtuung verlangt hätte. Begreifen Sie denn nicht, welchen Unannehmlichkeiten Sie mich ausgesetzt haben, – mich, mein Herr! Ich war gezwungen, den Baron um Entschuldigung zu bitten, und ich habe ihm mein Wort gegeben, daß Sie sogleich, daß Sie noch heute nicht mehr zu meinem Hause gehören werden.“

„Erlauben Sie ... erlauben Sie, General, so hat er selbst unbedingt verlangt, daß ich hinfort nicht mehr zu Ihrem Hause gehöre, wie Sie sich auszudrücken belieben?“

„Nein, das nicht; aber ich hielt es selbst für meine Pflicht, ihm diese Genugtuung zu geben, und der Baron gab sich damit selbstverständlich zufrieden. Also wir gehen auseinander, mein Herr. Sie haben von mir noch diese vier Friedrichsdor und drei Gulden nach hiesigem Gelde zu erhalten. Hier ist das Geld und hier die Rechnung. Sie können sich von ihrer Richtigkeit überzeugen. So, und jetzt – leben Sie wohl. Von nun an sind wir geschiedene Leute. Außer Unannehmlichkeiten und Scherereien habe ich von Ihnen nichts gehabt. Ich werde sogleich den Kellner rufen lassen, und ihm sagen, daß ich von morgen an für Ihre Ausgaben im Hotel nicht mehr einstehe. Habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.“

Ich nahm das Geld und das Papier, auf dem mit Bleistift eine Berechnung aufgeschrieben war, machte eine kurze Höflichkeitsverbeugung gegen den General und sagte sehr ernst:

„Damit ist die Sache natürlich nicht abgetan, Exzellenz. Es tut mir sehr leid, daß Sie sich Unannehmlichkeiten ausgesetzt haben, doch – verzeihen Sie – die Schuld daran müssen Sie nur sich selbst zuschreiben. Wie kamen Sie dazu, dem Baron gegenüber die Verantwortung für mich zu übernehmen? Was bedeutet der Ausdruck, daß ich zu Ihrem Hause gehöre? Ich bin oder war nur Lehrer in Ihrem Hause und nichts weiter. Ich bin weder Ihr Sohn noch Ihr Mündel, weshalb niemand Sie für meine Vergehen verantwortlich machen kann. Ich bin eine juridisch selbständige Person, bin fünfundzwanzig Jahre alt, Kandidat der Philosophie, bin Edelmann und Ihnen ein vollkommen Fremder. Nur meine unendliche Achtung für Ihre Verdienste hält mich davon ab, Sie um Rechenschaft zu bitten und ohne weiteres Genugtuung dafür zu verlangen, daß Sie sich anmaßen, für mich eine Verantwortung übernehmen zu wollen.“

Der General war sprachlos vor Verwunderung. Plötzlich kam er zu sich, wandte sich wieder an den Franzosen und begann ihm eilig auseinanderzusetzen, daß ich ihn soeben fast zum Duell gefordert hätte.

Der Franzose brach in schallendes Gelächter aus.

„Und was den Baron betrifft,“ fuhr ich mit vollkommener Kaltblütigkeit fort, ohne mich im geringsten durch das Gelächter verwirren zu lassen, „so habe ich nicht die Absicht, ihm etwas zu schenken. Und da Sie, General, indem Sie die Klagen des Barons anhörten und seine Partei ergriffen, sich gewissermaßen zu einem an dem Vorfall Beteiligten gemacht haben, so erlaube ich mir, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß ich nicht später als morgen früh von dem Baron eine Erklärung der Gründe verlangen werde, weshalb er sich in einer Angelegenheit, in der er es ausschließlich mit mir zu tun hatte, an eine andere, eine fremde Person zu wenden vorgezogen, – ganz, als wäre ich unfähig, für mich selbst die Verantwortung zu tragen, oder als wäre es unter seiner Würde, sich an mich zu wenden.“

Was ich vorausgesehen, geschah: Der General erschrak entsetzlich, als er diese neue Dummheit hörte.

„Wie, wollen Sie denn diese verd... Geschichte noch bis in die Unendlichkeit weiterziehen!“ rief er aus. „Aber so bedenken Sie doch, was Sie mir damit antun. Herr des Himmels! Wagen Sie es nur, wagen Sie es nur, mein Herr ... unterstehen Sie sich nicht, oder ... ich schwöre Ihnen! ... Auch hier gibt es eine Obrigkeit und ich ... ich ... mit einem Worte, bei meinem Rang ... und ebenso der Baron ... mit einem Wort, man wird Sie durch die Polizei zu beseitigen wissen, wenn Sie es nicht lassen wollen, Unfug zu treiben! Merken Sie sich das!“

Obschon er vor Zorn ganz außer Atem geriet, so war ihm doch entsetzlich bange geworden.

„General,“ erwiderte ich mit einer Ruhe, die ihm furchtbar auf die Nerven ging, „wegen Unfug verhaften kann man nicht früher als bis der Unfug verübt worden ist. Ich habe meine Auseinandersetzung mit dem Baron noch nicht einmal begonnen, folglich können Sie nicht wissen, in welcher Form und auf welcher Grundlage ich die Sache anfangen werde. Ich wünsche in erster Linie nur die mich beleidigende Annahme ausgeschaltet zu sehen, daß ich mich unter der Vormundschaft einer Person befinde, von der mein freier Wille irgendwie abhängen soll. Sie regen sich ganz unnötigerweise so auf.“

„Um Gottes willen, um Gottes willen, Alexei Iwanowitsch, so geben Sie doch dieses unsinnige Vorhaben auf!“ stotterte der General, plötzlich vom zornigsten Tone in einen fast kläglich flehenden verfallend. Und er ergriff sogar meine Hände. „So bedenken Sie doch, was daraus alles entstehen kann! Doch nichts als neue Unannehmlichkeiten. Sie werden doch einsehen, daß ich mich namentlich jetzt nach außen hin so korrekt als möglich benehmen muß! ... namentlich jetzt! ... Sie ... Sie können doch nicht wissen, in welchen Verhältnissen ich mich augenblicklich befinde! ... Wenn wir diesen Ort hier verlassen haben, werde ich Sie gern wieder engagieren, nur jetzt ... nun, mit einem Wort – Sie begreifen doch, daß es besondere Gründe geben kann, die ich berücksichtigen muß!“ rief er ganz verzweifelt aus. „Alexei Iwanowitsch, ich bitte Sie, Alexei Iwanowitsch!“ ...

Ich zog mich zur Tür zurück, bat ihn nochmals aufrichtig sich nicht zu beunruhigen, versprach, daß ich alles tun werde, damit die Sache gut und anständig ablaufe und beeilte mich, das Zimmer zu verlassen.

Die Russen sind im Auslande in einer Beziehung oft übertrieben ängstlich: sie fürchten sich entsetzlich davor, was man von ihnen sagen oder wofür man sie halten „könnte“, und ob dieses oder jenes wohl anständig oder unanständig wäre. Kurz, sie bewegen sich wie in einem Korsett, und zwar tun das vornehmlich solche, die sich für angesehene, würdevolle Leute halten. Daher ist für sie das Angenehmste eine alte, feststehende Form, die sie dann sklavisch befolgen können – gleichviel ob in Hotels, auf dem Spaziergang, in Versammlungen oder sonstwo ... Doch der General hatte in der ersten Angst verraten, daß er noch besondere Umstände zu berücksichtigen habe, weshalb er sich „so korrekt als möglich“ benehmen müsse. Deshalb war er plötzlich so ängstlich geworden und hatte seinen Ton ganz umgestimmt. Das merkte ich mir, denn das gab mir zu denken. Und schließlich konnte er sich ja sehr wohl aus Dummheit morgen an irgend eine Obrigkeit hier wenden, weshalb ich es für klüger hielt, wirklich vorsichtiger zu sein.

Übrigens war es mir durchaus nicht darum zu tun, den General zu ärgern; Polina aber würde ich jetzt gern ärgern. Sie hat mich so grausam behandelt, nachdem sie mich selbst auf diesen dummen Weg gestoßen, daß ich nun versuchen will, es so weit zu treiben, daß sie mich selbst um Einhalt bitten muß. Meine Jungenstreiche können doch schließlich auch sie kompromittieren!

Außerdem hatten sich in mir, bereits während ich sprach, noch andere Gefühle und Gedanken entwickelt. Wenn ich mich z. B. vor ihr freiwillig bis zum Sklaven erniedrigte, so sollte das doch noch längst nicht bedeuten, daß ich mich auch von anderen Leuten treten lasse und natürlich auch nicht, daß dieser Baron mich mit seinem Stock „verprügeln“ kann. Ich will über sie alle lachen und mich selbst durch Mut hervortun. Mögen sie doch einmal sehen, wer ich bin. Na! selbstverständlich wird die Aussicht auf einen Skandal sie erschrecken und – dann wird sie mich eben zurückrufen. Oder sollte sie es nicht, so wird sie doch wenigstens sehen, daß ich kein Jammerlappen bin.

Eine seltsame Neuigkeit übrigens: soeben erfuhr ich von der Kinderfrau, der ich auf der Treppe begegnete, daß Marja Filippowna heute mit dem Abendzug ganz allein zu ihrer Kusine nach Karlsbad gereist sei. Was mag das nun wieder zu bedeuten haben? Die Kinderfrau sagte, Marja Filippowna habe schon seit langer Zeit die Absicht gehabt, hinzureisen, – wie kommt es dann nur, daß niemand etwas von diesen Plänen wußte? Übrigens – vielleicht habe nur ich nichts gewußt. Die Alte verriet auch noch, daß Marja Filippowna vorgestern eine gründliche Unterredung mit dem General gehabt habe. Begreife, wer’s kann! Es war natürlich wegen Mademoiselle Blanche. Man sieht, es bereitet sich bei uns etwas Entscheidendes vor.

VII.

Am Morgen rief ich den Kellner und sagte ihm, daß ich meine Rechnung von nun an besonders ausgeschrieben wünsche. Mein Zimmer ist nicht so teuer, daß ich ob der Zukunft sehr besorgt zu sein brauchte oder sogleich das Hotel hätte verlassen müssen. Ich besaß am Morgen noch sechzehn Friedrichsdor und in den nächsten Tagen ... kann ich ein Vermögen besitzen! Seltsam, ich habe noch nichts gewonnen, handle aber, fühle und denke bereits wie ein Krösus und könnte es gar nicht anders.

Ich hatte gerade beschlossen, mich trotz der frühen Stunde ins Hotel d’Angleterre zu Mister Astley zu begeben, als plötzlich der Franzose in mein Zimmer trat. Es war dies das erste Mal, daß er zu mir kam, und es wunderte mich um so mehr, als mein Verhältnis zu diesem Herrn in der letzten Zeit ein äußerst gespanntes gewesen war. Er suchte seine Geringschätzung für mich nicht im geringsten zu verbergen, ja er bemühte sich sogar, sie möglichst deutlich hervorzukehren, ich aber hatte besondere Gründe, ihm nicht wohlgewogen zu sein. Oder seien wir aufrichtig: er war mir sogar direkt verhaßt. Jedenfalls sagte ich mir sofort, daß dieser erstaunliche Besuch etwas Besonderes zu bedeuten habe.

Er trat liebenswürdig ein, sah sich flüchtig ringsum und sagte mir etwas Angenehmes über mein Zimmer. Als er bemerkte, daß ich meinen Hut in der Hand hielt, erkundigte er sich, ob ich denn schon so früh einen Spaziergang zu machen gedenke. Doch als er hörte, daß ich in einer gewissen Angelegenheit Mister Astley aufsuchen wollte, wurde er nachdenklich und überlegte, wie es schien, denn sein Gesicht nahm einen überaus besorgten Ausdruck an.

De Grillet ist wie alle Franzosen aufgeräumt und liebenswürdig, wenn ihm das nötig und vorteilhaft erscheint, und unerträglich langweilig, wenn die Notwendigkeit, heiter und liebenswürdig zu sein, nicht mehr vorhanden ist. Ein Franzose ist selten natürlich liebenswürdig; er ist es immer gewissermaßen auf Befehl, auf eigenen Befehl, das heißt aus Berechnung. Hält er es zum Beispiel für notwendig, phantastisch, oder sonstwie nicht ganz alltäglich zu sein, so zeigt sich seine Phantasie in der Regel unglaublich dumm und unnatürlich und bedient sich ausschließlich bereits benutzter, einmal angenommener und durch ihre Abgedroschenheit längst schon gemein gewordener Formen. Ein natürlicher Franzose besteht aus spießbürgerlichstem, kleinlichstem, alltäglichstem und positivstem Materialismus, – ist mit einem Wort das langweiligste Geschöpf der Welt. Meiner Meinung nach können überhaupt nur naive Neulinge und namentlich unsere russischen jungen Damen an Franzosen Gefallen finden, wie dies ja auch tatsächlich der Fall ist. Jeder etwas denkfähigere Mensch dagegen durchschaut doch sofort dieses – ich möchte sagen Beamtentum der Franzosen innerhalb der einmal angenommenen Formen ihrer Salonliebenswürdigkeit, und ebenso in ihrer Unterhaltung und maßvollen Heiterkeit.

„Ich komme zu Ihnen in der bewußten Angelegenheit,“ begann er möglichst ungezwungen, obschon übrigens noch höflich, „und zwar, was ich durchaus nicht verbergen will, als Abgesandter des Generals, oder richtiger, als Vermittler. Ich habe gestern fast nichts von Ihrem Gespräch mit dem General verstanden, da ich die russische Sprache nur sehr schlecht beherrsche, doch der General hat mir heute alles ausführlich erklärt, und ich gestehe ...“

„Erlauben Sie, Monsieur de Grillet,“ unterbrach ich ihn, „Sie sagen, daß Sie den Vermittler spielen wollen. Nun gut. Ich bin natürlich ‚un outchitel‘ und habe in dieser Stellung nie auf die Ehre Anspruch erhoben, ein nahestehender Freund dieser Familie zu sein oder sonstwie in einem intimen Verhältnis zu ihr zu stehen, und deshalb sind mir auch selbstverständlich nicht ihre augenblicklichen Verhältnisse so genau bekannt. Gestatten Sie deshalb die Frage: zählen Sie sich jetzt bereits ganz zur Familie, – oder? Ich frage nur, weil Sie an allem so lebhaften Anteil nehmen und sofort den Vermittler zu spielen suchen ...“

Meine Frage schien ihm sehr zu mißfallen. Sie war für ihn gar zu durchsichtig und er – er wollte eben nichts verraten.

„Mich verbinden mit dem General zum Teil geschäftliche Interessen, zum Teil noch gewisse andere Umstände,“ sagte er trocken. „Der General hat mich zu Ihnen geschickt, um Sie zu bitten, Ihr gestriges Vorhaben aufzugeben. Alles, was Sie da gestern vorbrachten, war natürlich sehr geistreich und scharfsinnig; aber er hat mich gerade gebeten, Sie auf die unbedingte Erfolglosigkeit Ihres geplanten Schrittes aufmerksam zu machen. Ja – der Baron wird Sie gewiß nicht einmal empfangen, und überdies stehen ihm doch alle Mittel zur Verfügung, um Sie unschädlich zu machen, das heißt, nicht weiteren Unannehmlichkeiten durch Sie ausgesetzt zu sein. Das können Sie doch nicht leugnen. Wozu also versuchen, mit dem Kopf die Wand einzurennen? Und der General verspricht Ihnen doch noch, Sie wieder in sein Haus aufzunehmen, sobald es für ihn nur möglich sein wird; bis dahin aber werden Sie vos appointements ungeschmälert weiterbeziehen. Ich dächte, das ist doch ganz vorteilhaft, n’est-ce pas?“

Ich erwiderte darauf sehr ruhig, daß er sich in einem kleinen Irrtum befinde; daß der Baron mich vielleicht doch nicht so ohne weiteres abweisen lassen, sondern womöglich sogar bis zu Ende anhören werde, worauf ich ihn bat, doch ruhig einzugestehen, daß er deshalb bei mir erschienen sei, um zu erforschen, wie ich in dieser Sache vorzugehen gedenke.

„O Gott, da der General doch mehr oder weniger in die Geschichte verwickelt ist, wäre es ihm selbstverständlich nicht unangenehm, wenn er erführe, auf was er sich gefaßt zu machen hat. Das ist doch nur natürlich.“

Ich begann also zu erklären und er hörte mir zu, – den Kopf ein wenig auf die Seite geneigt und mit einer bewußt unverhohlenen Andeutung von Ironie im Gesichtsausdruck. Überhaupt spielte er den Sich-Herablassenden, während ich mich nach Kräften bemühte, ihn glauben zu machen, daß ich die Sache todernst auffasse. Ich erklärte ihm, daß der Baron, indem er sich mit einer Klage über mich an den General gewandt, als wäre ich ein Dienstbote desselben, mich damit erstens um meine Stellung gebracht und zweitens mich so behandelt habe, als wäre ich nicht imstande, für mich selbst einzustehen, oder als wäre ich ein minderwertiges Subjekt, mit dem sich ein Gentleman nicht persönlich abgeben kann. – „Wie Sie sehen, habe ich Grund, mich beleidigt zu fühlen.“ Nichtsdestoweniger wolle ich die möglichen Einwendungen, wie zum Beispiel den Altersunterschied, die Verschiedenheit unserer sozialen Stellung, usw. usw. – ich konnte kaum noch das Lachen verbeißen, als ich das sagte – gern gelten lassen und deshalb würde ich von einem Duell absehen, d. h. davon, offiziell volle Genugtuung von ihm zu verlangen. Doch wie dem auch sei, jedenfalls aber habe ich das volle Recht, sowohl bei ihm als namentlich bei der Baronin meine Entschuldigungsgründe geltend zu machen, da ich mich in letzter Zeit tatsächlich krank, nervös, reizbar und wie gesagt, zu allem Exzentrischen aufgelegt fühle, usw. usw. Leider aber könne das jetzt nicht mehr von mir aus geschehen, da man infolge des Vorgehens des Barons und seiner Bitte an den General, mich zu verabschieden, ganz sicherlich annehmen würde, ich käme nur deshalb mit meinen Entschuldigungen, um wieder vom General gnädigst aufgenommen zu werden. Aus all dem folge, daß ich jetzt gezwungen sei, den Baron zu ersuchen, sich zuerst bei mir zu entschuldigen – zum Beispiel mir zu sagen, daß er mich durchaus nicht habe beleidigen wollen. Damit würde er mir dann erst die Möglichkeit schaffen, mich frei, aufrichtig und offen bei ihm zu entschuldigen. Mit einem Wort, schloß ich meine Auseinandersetzung, ich werde den Baron nur bitten, mir die Hände loszubinden.

Fi donc, was für eine Empfindlichkeit das ist! Und was für Finessen! Wozu brauchen Sie sich zu entschuldigen? So sagen Sie doch einfach Monsieur ... Monsieur ... daß Sie alles das absichtlich aufbauschen wollen, um den General zu ärgern ... Vielleicht aber haben Sie dabei noch andere Dinge im Auge ... mon cher monsieur ... pardon, j’ai oublié votre nom, monsieur Alexis? ... n’est ce pas?

„Aber erlauben Sie, mon cher marquis, was geht denn das Sie an?“

Mais le général ...“

„Aber was hat denn das mit dem General zu tun? Er sprach zwar gestern so etwas von – sich besonders korrekt benehmen müssen und namentlich jetzt ... und er schien sich auch nicht wenig aufzuregen ... nur begreife ich nicht, was ihn dazu veranlaßt haben könnte.“

„Ja, sehen Sie, es gibt da nämlich gewisse Umstände ...“ fuhr de Grillet in einem eigenartigen Tonfall fort – es war, als wolle er mich um etwas bitten oder sich und mich zur Bitte vorbereiten, und gleichzeitig war es, als ärgere er sich – doch ob über sich selbst oder mich war nicht herauszuhören. „Sie kennen doch Mademoiselle de Cominges?“

„Sie meinen Mademoiselle Blanche?“

„Nun ja, Mademoiselle Blanche de Cominges ... et madame sa mère ... und Sie werden doch zugeben, daß der General ... mit einem Wort, daß der General verliebt ist und sogar ... es ist möglich, daß vielleicht sogar hier die Hochzeit stattfinden wird. Und nun, wie denken Sie sich das, wenn sich jetzt plötzlich ein Skandal an den anderen reiht ...“

„Leider vermag ich keine Anzeichen eines zu erwartenden Skandals zu entdecken, und noch gar eines solchen, der mit seiner Heirat etwas zu tun hätte.“

Oh, le baron est si irascible, un caractère prussien, vous savez, enfin ... il fera une querelle d’Allemand!

„Aber das geht doch nur mich etwas an, nicht Sie und auch nicht den General, da ich doch nicht mehr zu seinem Hause gehöre ...“ Ich stellte mich mit Absicht schwer von Begriff. „Aber erlauben Sie – dann ist es schon entschieden, daß Mademoiselle Blanche den General heiraten wird? Worauf wartet man denn noch? Ich meine, weshalb wird es denn noch so geheim gehalten, sogar vor uns, die wir doch sozusagen zum Hause gehören?“

„Ich kann Ihnen nicht ... übrigens ist es doch noch nicht so ganz ... einstweilen ... Sie wissen doch, daß aus Rußland jeden Augenblick Nachrichten eintreffen können, und der General muß noch seine Verhältnisse ordnen ...“

A, ah! La baboulenka!

Ein haßerfüllter Blick des Franzosen streifte mich flüchtig.

Eh bien,“ unterbrach er mich, „ich verlasse mich ganz auf Ihre angeborene Liebenswürdigkeit, auf ihren Verstand und Takt ... Sie werden es natürlich für diese Familie tun, in der Sie wie ein Angehöriger aufgenommen worden sind, die Sie geliebt hat und geachtet ...“

„Lassen Sie das: ich bin weggejagt worden! Sie behaupten da, es handle sich nur um den Schein, aber wie würden Sie sich dazu verhalten, wenn man zu Ihnen sagte: ‚Ich will Dich selbstverständlich nicht an den Ohren ziehen, aber erlaube mir, daß ich Dich an den Ohren ziehe, damit die anderen es sehen ...‘ Das kommt doch auf eins heraus!“

„Wenn es so ist, wenn keine Bitte Sie umzustimmen vermag,“ begann er streng und hochmütig, „so gestatten Sie mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß wir Maßregeln ergreifen werden. Es gibt auch hier eine Obrigkeit, man wird sie noch heute expedieren – que diable! Un blanc-bec comme vous will eine Persönlichkeit wie den Baron zum Duell herausfordern! Und Sie glauben, daß man Ihnen das so ruhig erlauben wird? Ich versichere Sie, daß sich hier niemand vor Ihnen fürchtet! Wenn ich Sie gebeten habe, so habe ich es mehr von mir aus getan, weil ich den General beunruhigt sah. Und glauben Sie denn wirklich, der Baron werde Sie nicht einfach durch seinen Diener hinauswerfen lassen?“

„Ich werde ja doch nicht selbst zu ihm gehen,“ versetzte ich mit äußerster Ruhe. „Sie irren sich, Monsieur de Grillet, es wird alles weit anständiger vor sich gehen als Sie annehmen. Ich war vor Ihrem Erscheinen gerade im Begriff, mich zu Mister Astley zu begeben, um ihn zu bitten, mein Vermittler und, falls nötig, mein Sekundant zu sein. Ich weiß, daß er mich gern hat und meine Bitte erfüllen wird. Er wird zum Baron gehen und zweifellos empfangen werden. Wenn ich als Hauslehrer dem deutschen Freiherrn zu subaltern erscheinen sollte, so ist Mister Astley der Neffe eines Lords – eines wirklichen Lords, nicht zu vergessen – wie hier ein jeder weiß ... dieser Lord Peabroke hält sich sogar gegenwärtig hier auf. Sie können mir also aufs Wort glauben, wenn ich Ihnen versichere, daß monsieur le baron sich dem Engländer von einer höflicheren Seite zeigen und ihn anhören wird. Sollte er das jedoch nicht tun wollen, so wird Mister Astley diese Weigerung als persönliche Beleidigung auffassen – Sie wissen doch, wie hartnäckig Engländer sind – und von sich aus einen Sekundanten zum Freiherrn senden, und wie Sie wissen, sind seine Freunde nicht zu verachtende Leute ... Wie Sie sehen, kann es unter Umständen auch anders auskommen als Sie voraussetzen.“

Dem Franzosen wurde bange. Es klang freilich so ziemlich glaubhaft, was ich sagte, und jedenfalls sah er ein, daß ich „unter Umständen“ tatsächlich die Möglichkeit hatte, einen „Skandal“ heraufzubeschwören.

„Aber ich bitte Sie doch aufrichtig, von diesem tollen Vorhaben abzulassen!“ suchte er mich förmlich zu beschwören. „Es ist wirklich, als bereite es Ihnen ein Vergnügen, diese Unannehmlichkeiten zu verursachen! Sie wollen nicht Genugtuung, sondern Aufsehen! Wie ich Ihnen sagte, will ich Ihnen gern glauben, daß alles sehr interessant und geistreich sein wird – worauf Sie es vielleicht einzig abgesehen haben – doch ... mit einem Wort,“ beeilte er sich, zu schließen, da ich nach meinem Hut griff, „ich ... ich habe Ihnen noch diesen Brief hier von einer Dame zu übergeben. Lesen Sie ihn, ich muß Ihre Antwort übermitteln.“

Damit reichte er mir ein kleines, schmales Briefchen, das mit einer Oblate geschlossen war.

Es war Polinas Handschrift.

Sie schrieb:

„Sie beabsichtigen, wie es scheint, diese Geschichte nicht ruhen zu lassen. Sie haben sich geärgert und wollen sich durch neue Streiche rächen. Es gibt aber hier besondere Umstände, die ich Ihnen später vielleicht erklären werde; vorläufig bitte ich Sie, aufzuhören und sich zu beruhigen. Was sind das doch für Dummheiten! Ich habe Sie nötig und Sie haben mir versprochen, mir zu gehorchen. Denken Sie an den Schlangenberg. Ich bitte Sie, gehorchen Sie mir, oder falls nötig, befehle ich es Ihnen.

Ihre P.

P. S. Wenn Sie mir wegen gestern böse sind, so verzeihen Sie, bitte.“

Es war mir, als drehe sich alles vor meinen Augen, als ich diese Zeilen gelesen hatte. Sogar meine Lippen wurden bleich und ich begann zu zittern. Der verwünschte Franzose trug eine Miene zur Schau, die diskrete Bescheidenheit vortäuschen sollte, und sah absichtlich zur Seite, als wolle er meine Verwirrung nicht sehen. Hätte er doch laut über mich gelacht! – wahrlich, das wäre mir angenehmer gewesen.

„Gut,“ sagte ich, „teilen Sie Mademoiselle Polina mit, daß sie sich beruhigen könne. Erlauben Sie jedoch die Frage,“ fuhr ich fort, und zwar in sehr scharfem Ton, „weshalb Sie mir diesen Brief erst jetzt übergeben haben? Anstatt diesen ganzen Unsinn zu schwatzen, hätten Sie sich sogleich Ihres Auftrages entledigen sollen ... wenn dieses der ganze Auftrag war, mit dem man Sie zu mir geschickt hat.“

„O, ich wollte ... es ist das überhaupt alles so sonderbar, daß Sie meine begreifliche Ungeduld entschuldigen werden. Ich wollte von Ihnen persönlich Ihre Absichten erfahren. Überdies ist mir der Inhalt des Briefes ganz unbekannt und ich dachte, daß ich immer noch frühzeitig genug zum Übergeben käme.“

„Ich verstehe, man hat Ihnen einfach befohlen, mir den Brief nur im äußersten Fall einzuhändigen, falls Sie aber selbst durch Ihre Beredungskunst zum Ziele gelangen sollten, dann eben – überhaupt nicht. So verhält es sich doch? Sagen Sie es offen, Monsieur de Grillet!“

Peut-être,“ sagte er. Seine Miene drückte eine ganz besondere Zurückhaltung aus und er sah mich dabei mit einem seltsamen Blick an.

Ich nahm meinen Hut vom Tisch. Er nickte nur mit dem Kopf und verließ mein Zimmer. Wie mir schien, zuckte ein spöttisches Lächeln um seine Lippen. Wie hätte es auch anders sein sollen!

„Wart’ mal, wir werden noch miteinander abrechnen, Franzose!“ murmelte ich vor mich hin, als ich die Treppe hinabstieg.

Ich versuchte zu kombinieren; konnte es aber nicht; mein Kopf war wie von einem Keulenschlage betäubt. Die frische Luft tat mir gut.

Da tauchten plötzlich zwei Gedanken in mir auf, beide von erstaunlicher Klarheit und Schärfe. Der erste war: wie diese doch sicherlich nicht glaubhaften Drohungen eines machtlosen „blanc-bec“, die er in der Erregung nur so hingeworfen hatte, eine so allgemeine Aufregung hervorrufen konnten! Und der zweite Gedanke: wie groß muß nach diesem Brief zu urteilen doch der Einfluß de Grillets auf Polina sein! Es hat nur eines Wortes von ihm bedurft, und sie tut alles, was er will, ja sie schreibt sogar einen Brief an mich, und bittet mich sogar um Verzeihung! Ihr Verhältnis zueinander ist mir zwar von Anfang an ein Rätsel gewesen, seit dem Augenblick, wo ich sie kennen lernte. In diesen letzten Tagen aber habe ich nur zu deutlich gesehen, daß sie ganz entschieden Widerwillen und Verachtung für ihn empfindet, er aber übersieht sie meistens und benimmt sich gegen sie sogar unhöflich. Das habe ich ganz genau beobachtet. Polina macht ja aus ihrer Abneigung kein Geheimnis und so sind ihr auch schon einige recht bemerkenswerte Geständnisse entschlüpft ... Daraus folgt, daß er irgend etwas in der Hand haben muß, wodurch er sie einfach zwingen kann ...

VIII.

Auf der Promenade, wie man das hier nennt, d. h. in der Kastanienallee, begegnete ich meinem Engländer.

„O, o! Ich wollte soeben zu Ihnen, und Sie wohl zu mir?“ waren seine ersten Worte. „So haben Sie sich von den Ihrigen schon getrennt?“

„Sagen Sie mir erst, woher Sie das alles wissen?“ fragte ich verwundert. „Ist es denn schon allen bekannt?“

„O nein, längst nicht allen; das wäre auch ganz überflüssig. Niemand spricht davon.“

„Aber woher wissen Sie es denn?“

„Ich weiß es, das heißt, ich erfuhr es zufällig. Wohin werden Sie jetzt von hier reisen? Ich habe Sie sehr gern, deshalb kam ich zu Ihnen.“

„Sie sind ein prächtiger Mensch, Mister Astley,“ sagte ich erfreut – übrigens frappierte es mich nicht wenig, daß er schon etwas davon wußte: woher, durch wen konnte er es erfahren haben? fragte ich mich beunruhigt. „Aber wissen Sie, ich habe noch keinen Kaffee getrunken, und Sie werden wahrscheinlich schlechten getrunken haben – – gehen wir also ins Kurhaus! Dort können wir uns im Café gemütlich hinsetzen, eine Zigarette rauchen und dann erzähle ich Ihnen alles und ... Sie werden mir gleichfalls erzählen ...“

Das Café war keine hundert Schritte entfernt. Wir setzten uns, bestellten Kaffee, ich zündete mir eine russische Zigarette an – Mister Astley rauchte nicht. Er saß, sah mich an und war bereit, zu hören.

„Ich reise nirgends hin, ich bleibe hier,“ begann ich.

„Das wußte ich im voraus, ich war sogar überzeugt, daß Sie hierbleiben würden,“ bemerkte Mister Astley beifällig.

Als ich das Hotel verlassen hatte, um mich zu ihm zu begeben, war es durchaus nicht meine Absicht gewesen, ihm etwas von meiner Liebe zu Polina zu sagen; ja ich wollte sogar absichtlich mit keinem Wort ihrer Erwähnung tun. Hatte ich ihm doch in all diesen Tagen noch mit keiner Silbe von meiner Liebe etwas gesagt. Er war aber auch ein so schüchterner und verschämter Mensch, daß man unwillkürlich seine Gefühle schonen mußte. Schon beim ersten Zusammensein mit ihm in Polinas Gegenwart hatte ich bemerkt, daß sie einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben mußte, doch noch niemals hatte ich ihn von ihr sprechen gehört. Aber seltsam, – plötzlich, wie er da so vor mir saß und mich, ohne sich zu rühren, aus seinen tiefblauen Augen mit einem so bleischweren Blick ansah, da – ich weiß nicht wie es kam – empfand ich plötzlich das Verlangen, ihm alles von meiner Liebe zu erzählen, mein ganzes Liebesleid mit all seinen Empfindungen vor ihm zu enthüllen. Und ich sprach wohl über eine halbe Stunde nur von meiner Liebe, und es war ein so wundervolles Gefühl, von meiner Liebe sprechen zu können. Tat ich es doch zum ersten Male so ganz, so rückhaltlos! Als ich aber bemerkte, daß ihm einzelne Offenheiten, zu denen ich mich von meiner Leidenschaft hinreißen ließ, peinlich waren, sprach ich aus Trotz noch rückhaltloser. Nur eines bereue ich: ich habe vielleicht etwas Überflüssiges über den Franzosen gesagt.

Mister Astley saß, während er mir zuhörte, unbeweglich auf seinem Platz, sprach kein Wort, keinen Ton, und sah mir nur unverwandt in die Augen. Als ich aber auf den Franzosen zu sprechen kam, unterbrach er mich plötzlich mit der Frage, ob ich das Recht zu haben glaube, von dieser Nebensache zu reden? Und der Ton der Frage verriet, daß ihm meine Bemerkung mißfallen hatte. Mister Astley hat überhaupt eine sonderbare Art, Fragen zu stellen.

„Sie haben recht: ich fürchte, daß ich dieses Recht nicht habe,“ gab ich zu.

„Sie können doch von diesem Marquis und Miß Polina nichts Positives sagen, außer Vermutungen?“

Ich wunderte mich über diese kategorische Frage von einem so diskreten und schüchternen Menschen wie Mister Astley.

„Nein, Positives nicht,“ sagte ich, „selbstverständlich nicht.“

„Dann war es häßlich von Ihnen, nicht allein, daß Sie mir etwas davon sagten, sondern daß Sie überhaupt etwas Derartiges gedacht haben.“

„Gut, gut! Sie haben recht, ich gebe es selbst zu; aber jetzt handelt es sich nicht darum,“ unterbrach ich ihn, innerlich doch etwas verwundert. Dann erzählte ich ihm alles, was sich gestern zugetragen, angefangen von Polinas Herausforderung – ferner meine Begegnung mit dem Freiherrn, meine Entlassung und wie sehr sich der General aufgeregt hatte – und schilderte darauf ausführlich den heutigen Besuch des Franzosen. Zum Schluß zeigte ich ihm noch Polinas Brief.

„So, und nun sagen Sie mir, bitte, wie Sie die Sache auffassen,“ schloß ich. „Gerade deshalb wollte ich Sie aufsuchen, um Ihre Ansicht zu hören, und vor allem, was Sie daraus für Folgerungen ziehen. Was jedoch mich betrifft, so könnte ich dieses französische Subjekt ohne weiteres totschlagen, und vielleicht tue ich es noch.“

„Das könnte ich gleichfalls,“ sagte Mister Astley. „Was sich aber hier von Miß Polina sagen läßt, ist nur ... Sie wissen doch, daß wir Menschen uns unter Umständen, wenn die Notwendigkeit es verlangt, sogar mit uns verhaßten Leuten abgeben. Es kann sich hier um Ihnen ganz unbekannte Beziehungen handeln, die vielleicht nur von den Verhältnissen anderer abhängen. Ich glaube, daß Sie sich beruhigen können, zum Teil wenigstens. Was aber Miß Polinas gestrige Handlungsweise betrifft, so ist sie natürlich seltsam – nicht, weil sie Sie, um Sie loszuwerden, den Stockschlägen des Barons aussetzte – ich begreife nicht, warum er von seinem Stock nicht Gebrauch gemacht hat, da ihn doch im Augenblick niemand daran hätte verhindern können – sondern weil ein solcher Ausfall nicht ... nicht zu seiner so vortrefflichen Miß paßt, kurz, weil er nicht ladylike ist. Allerdings konnte sie nicht ahnen, daß Sie ihr scherzhaftes Verlangen buchstäblich ausführen würden ...“

„Wissen Sie was!“ rief ich plötzlich aus, ihn scharf beobachtend. „Es scheint mir, daß Sie alles bereits gehört haben, und wissen Sie von wem? – von Miß Polina!“

Mister Astley sah mich erstaunt an.

„Ihre Augen blitzen und ich lese in ihnen einen Verdacht,“ sagte er, seine frühere Ruhe sogleich wiedergewinnend, „Sie haben aber nicht das geringste Recht, Ihren Verdacht zu äußern. Wenigstens kann ich Ihnen ein solches Recht nicht zugestehen und deshalb lehne ich es ab, auf Ihre Frage zu antworten.“

„Nun, gut! Ist auch nicht nötig!“ rief ich seltsam aufgeregt, und ich begriff selbst nicht, wie ich auf diesen Einfall gekommen war! Und wann, wo, wie hätte auch Polina Mister Astley zu ihrem Vertrauten machen können? Übrigens – daran habe ich noch gar nicht gedacht: ich habe ja in letzter Zeit Mister Astley durchaus nicht immer im Auge behalten, Polina aber ist mir doch von Anfang an ein Rätsel gewesen – sogar ein so unlösbares, daß ich mir z. B. während der Erzählung meiner Liebesgeschichte ganz plötzlich dessen bewußt wurde, daß ich fast nichts Feststehendes und Genaues von meinem Verhältnis zu ihr, und umgekehrt, sagen konnte. Im Gegenteil, alles erschien mir so phantastisch, so seltsam, so unbegründet und sogar direkt abscheulich.

„Nun, gut, gut; ich bin etwas aus dem Konzept geraten und kann jetzt nicht erst noch weise überlegen,“ sagte ich mit einer Empfindung, als hetzte man mich. „Ich sehe aber, Sie sind ein guter Mensch. Jetzt von etwas anderem ... Ich möchte Sie nicht um einen Rat, sondern nur um Ihre Meinungsäußerung bitten.“

Ich schwieg – und dann begann ich von neuem.

„Was meinen Sie, weshalb wurde der General gestern so ängstlich, als er meine Drohung hörte? Weshalb wird aus meinem dümmsten Jungenstreich eine solche Staatsaktion gemacht? – eine solche, daß sogar Monsieur de Grillet es für nötig befunden hat, sich in die Angelegenheit hineinzumischen – was er doch nur im äußersten Fall zu tun pflegt. Ja, er hat mich sogar in meinem Zimmer aufgesucht – er! – und er hat mich sogar gebeten und angefleht – er, de Grillet, mich! Und noch eines ist bemerkenswert: er kam um neun zu mir, oder etwas nach neun, und schon hatte er einen Brief von Miß Polina in der Tasche. Wann, fragt es sich, hat sie diesen denn geschrieben? Vielleicht hat man sie deshalb sogar aus dem Schlaf geweckt! Und ganz abgesehen davon, wie deutlich dieser Brief mir beweist, daß Miß Polina einfach seine Sklavin ist – da sie doch auf seinen Wunsch sogar mich um Verzeihung bittet! – ganz abgesehen davon, sage ich, muß ich mich doch fragen, was denn diese ganze Geschichte sie persönlich angeht? Weshalb interessiert sie sich überhaupt dafür? Was fürchten sie sich denn alle plötzlich so vor einem Baron? Und was ist denn schließlich dabei, daß der General Mademoiselle Blanche de Cominges heiratet? Er sagt, daß er sich gerade jetzt ‚ganz besonders korrekt‘ benehmen müsse, – aber, weiß Gott, das heißt denn doch schon, die Korrektheit übertreiben wollen! Was meinen Sie, sagen Sie es mir, bitte! An Ihren Augen sehe ich, daß Sie besser unterrichtet sind als ich!“

Mister Astley lächelte und nickte mir zu.

„In der Tat, es scheint mir auch so, daß ich in diesem Falle mehr weiß als Sie,“ sagte er freundlich. „Es handelt sich hier wohl nur um Mademoiselle Blanche – sie ist der ganze Haken, wie man zu sagen pflegt. Davon bin ich überzeugt.“

„Nun und was ist’s mit ihr?“ fragte ich gespannt – und plötzlich erwachte in mir die Hoffnung, gleichzeitig etwas Neues über Polina zu erfahren.

„Ich glaube, daß es Mademoiselle Blanche im Augenblick sehr darum zu tun ist, einer Begegnung mit dem Baron und der Baronin aus dem Wege zu gehen, und um so mehr, versteht sich, einer unangenehmen Begegnung oder gar – einem offenen Skandal.“

„Nun, nun?!“ drängte ich ungeduldig.

„Mademoiselle Blanche ist nicht zum erstenmal hier. Sie hat sich bereits früher einmal in Roulettenburg aufgehalten. Und das war vor zwei Jahren, zur Saison. Ich hielt mich zu der Zeit gleichfalls hier auf. Nur hieß sie damals nicht Mademoiselle de Cominges, und ebensowenig wußte man hier etwas von einer madame veuve de Cominges. Wenigstens ist hier nie von einer solchen oder überhaupt von einer Mutter der betreffenden Dame die Rede gewesen. De Grillet ... de Grillet ... ja, den gab es damals auch noch nicht. Und ich sehe mich sogar sehr versucht, anzunehmen, daß Mademoiselle Blanche mit ihm keineswegs verwandt, und vielleicht nicht einmal seit allzu langer Zeit bekannt ist. Zum Marquis ist der Monsieur de Grillet wohl gleichfalls erst vor kurzer Zeit avanciert. Davon bin ich sogar überzeugt, und zwar auf Grund gewisser Tatsachen. Ja und ebenso wahrscheinlich ist, daß er sich auch diesen Familiennamen erst neuerdings beigelegt hat. Ich habe hier mit einem Menschen gesprochen, dem er unter einem anderen Namen vorgestellt worden ist.“

„Aber er hat doch einen wirklich soliden Bekanntenkreis!“

„O, das ist sehr leicht möglich. Warum sollte er ihn nicht haben? Selbst Mademoiselle Blanche kann sich durch einen solchen auszeichnen. Nur ist es nichtsdestoweniger Tatsache, daß Mademoiselle Blanche vor zwei Jahren auf eine Anzeige dieser selben deutschen Baronin von der hiesigen Polizei aufgefordert wurde, die Stadt zu verlassen, und daß sie der Aufforderung nachkam.“

„Wie das?“

„Sie war damals mit einem Italiener hier aufgetaucht – einem Fürsten mit historischem Namen, Barberini oder so ungefähr. Der Mensch trug unzählige Ringe und seine Brillanten waren sogar wirklich echt. Sie hatten eine prachtvolle Equipage. Mademoiselle Blanche spielte trente et quarante mit sehr gutem Erfolg, doch dann verließ sie das Glück und sie verlor immer mehr. An einem Abend, entsinne ich mich, verlor sie eine Riesensumme. Doch was noch weit schlimmer war: un beau matin war ihr Fürst spurlos verschwunden, auch die Pferde und die Equipage – alles war fort. Die Schuld im Hotel hatte eine ungeheure Höhe erreicht. Mademoiselle Selma – denn anstatt Barberini hieß sie nun plötzlich Mademoiselle Selma – blieb in der größten Verzweiflung zurück: sie schrie und weinte, daß man es im ganzen Hotel hören konnte, und zerriß sogar ihre Kleider. Zum Glück war in demselben Hotel ein polnischer Graf abgestiegen – alle reisenden Polen sind Grafen – und die kratzende, verzweifelte, ihre schönen Hände ringende Mademoiselle Selma machte auf ihn einen gewissen Eindruck. Sie hatten eine Unterredung und gegen Mittag beruhigte sie sich. Am Abend erschien er mit ihr im Kursaal, sie lachte wie gewöhnlich sehr laut, in ihrem Benehmen aber machte sich eine nur noch größere Ungebundenheit bemerkbar. Sie trat sogleich in die Reihe jener Damen, die, wenn sie hier an den Spieltisch treten wollen, mit der Schulter ganz ungeniert einen Spieler fortstoßen, um sich Platz zu schaffen. Das gilt ja hier für besonders schick – bei diesen Damen. Sie haben sie natürlich schon bemerkt?“

„O, ja.“

„Eigentlich nicht der Mühe wert. Zum Ärger des anständigen Publikums sind sie hier ununterbrochen vertreten, wenigstens jene, die täglich am Spieltisch Tausendfranks-Banknoten wechseln. Übrigens werden sie, sobald sie aufhören, Banknoten zu wechseln, sogleich gebeten, sich zu entfernen. Mademoiselle Selma fuhr aber weiter fort, Banknoten zu wechseln, doch hatte sie noch weniger Glück als zuvor. Im allgemeinen spielen solche Damen mit gutem Glück, sehr oft sogar; sie haben eine bewundernswerte Selbstbeherrschung. Übrigens ist meine Geschichte schon zu Ende. Eines Tages verschwand auch der Graf, ebenso wie der italienische Fürst verschwunden war. Mademoiselle Selma erschien am Abend allein im Spielsaal; diesmal hatte sich ihr niemand als Ersatz angeboten. In zwei Tagen verspielte sie ihr letztes Geld. Nachdem sie den letzten Louisdor gesetzt und verloren hatte, sah sie sich suchend um und erblickte neben sich den Freiherr von Wurmerhelm, der sie eine Zeitlang sehr aufmerksam und mit sichtlich größtem Unwillen betrachtet hatte. Doch leider gewahrte sie den Unwillen nicht und wandte sich mit ihrem bekannten Lächeln an den Freiherrn, um ihn zu bitten, zehn Louisdor für sie auf Rot zu setzen. Und die Folge davon war, daß sie noch am Abend desselben Tages auf Grund der Anzeige der Frau Baronin die Aufforderung erhielt, sich nicht mehr im Spielsaal sehen zu lassen. – Wundern Sie sich nicht darüber, daß mir alle diese kleinen und unanständigen Details bekannt sind. Mir hat sie ein entfernter Verwandter von mir erzählt, der noch an demselben Abend mit Mademoiselle Selma nach Spa reiste. Verstehen Sie jetzt: Mademoiselle Selma will Generalin werden, wahrscheinlich um in Zukunft nicht mehr Gefahr zu laufen, solche Aufforderungen von der Polizei des Kursaales zu erhalten, wie vor zwei Jahren. Sie spielt nicht mehr, doch unterläßt sie das nur deshalb, weil sie jetzt offenbar Kapital besitzt, von dem sie den hiesigen Spielern verschiedene Summen leiht, auf Prozente, versteht sich. Das ist bedeutend vorteilhafter. Ja, ich vermute sogar, daß auch der General ihr Geld schuldet und vielleicht sogar de Grillet. Vielleicht aber ist de Grillet ihr Kompagnon. Nun, jetzt werden Sie doch einsehen, daß sie bis zur Hochzeit wenigstens nicht unnützerweise die Aufmerksamkeit des Barons und der Baronin auf sich zu lenken wünscht. Kurz, in ihrer gegenwärtigen Lage käme ihr ein Skandal höchst ungelegen. Sie aber sind mit der Familie des Generals mehr oder weniger verknüpft, weshalb man auf dieselbe sicherlich zu sprechen käme, wenn Ihre Streiche Aufsehen erregen oder gar einen Skandal verursachen sollten. Nun, und Mademoiselle Blanche erscheint täglich am Arme des Generals in der Öffentlichkeit und in Miß Polinas Gesellschaft. Begreifen Sie jetzt?“

„Nein, ich begreife trotzdem nichts!“ rief ich erregt aus und schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, daß der Garçon ganz erschrocken herzustürzte. „Sagen Sie mir, Mister Astley,“ fuhr ich in heller Wut fort, „wenn Sie diese ganze Geschichte schon früher gewußt haben und so genau wissen, was für ein Geschöpf diese Mademoiselle Blanche de Cominges ist, warum haben Sie dann nicht wenigstens mich darüber aufgeklärt oder den General selbst, und schließlich – nein, in erster Linie, ja, in erster Linie Miß Polina, die jetzt ahnungslos im Kursaal, auf der Promenade, im Park, überall mit dieser Blanche promeniert? Das ist doch unverantwortlich von Ihnen.“

„Ich habe Ihnen nichts mitgeteilt, weil Sie an der Sache doch nichts hätten ändern können,“ antwortete Mister Astley ruhig. „Und übrigens, was hätte ich denn mitteilen sollen? Der General ist doch über die Vergangenheit der Person vielleicht noch besser unterrichtet, als ich, und trotzdem spaziert er mit ihr und seiner Stieftochter. Der General ist ein bedauernswerter Mensch. Ich sah gestern, wie sie ausritten: Mademoiselle Blanche auf einem prachtvollen Pferde, ihr zur Seite Monsieur de Grillet und jener kleine russische Fürst, und hinter ihnen auf einem Schweißfuchs trabte der General. Am Morgen hatte er noch gesagt, daß seine Füße schmerzten, doch im Sattel hielt er sich tadellos. Als ich ihn aber so sah, kam es mir plötzlich in den Sinn, daß er doch schon ein verlorener Mann ist. Aber das geht mich ja im Grunde alles nichts an, ich habe nur vor kurzem die Ehre gehabt, Miß Polina kennen zu lernen ... Übrigens,“ unterbrach er sich plötzlich, „ich wiederhole nur, was ich Ihnen bereits gesagt habe, daß ich Ihnen kein Recht zu gewissen Fragen zugestehen kann, obschon ich Sie sehr gern habe ...“

„Genug,“ unterbrach ich ihn, indem ich mich erhob, „jetzt ist es mir vollkommen klar, daß auch Miß Polina über Mademoiselle Blanche unterrichtet ist, daß sie sich aber von ihrem Franzosen nicht trennen kann und deshalb trotz allem mit Mademoiselle Blanche promeniert. Glauben Sie mir, sonst gäbe es in der ganzen Welt keine Macht, die sie zwingen könnte, sich mit Mademoiselle Blanche öffentlich zu zeigen und mich brieflich zu bitten, den Baron in Ruh zu lassen. Hier kann nur dieser eine Einfluß in Frage kommen, dieses eine, vor dem alles andere zurücktritt! Und doch hat sie mich selbst auf den Baron gehetzt! Zum Teufel, da soll einer draus klug werden!“

„Sie vergessen, erstens, daß diese Mademoiselle de Cominges die Braut des Generals ist, und zweitens, daß Miß Polina, die Stieftochter des Generals, einen kleinen Bruder und eine kleine Schwester hat, die die leiblichen Kinder ihres Stiefvaters sind, und die dieser Wahnsinnige schon so gut wie ganz vergessen und deren Besitz er, wie mir scheint, auch schon angegriffen hat.“

„Ja – ja richtig! Das ist es! Sie haben recht! – Die Kinder verlassen, hieße, sie allein preisgeben, während bei ihnen bleiben heißt: sie beschützen, ihre Interessen verteidigen und vielleicht noch einen Rest ihres Vermögens retten! Ja! – ja, das ist es! ... Aber ... aber dennoch! ... O, jetzt begreife ich, weshalb sie sich alle so lebhaft für das Befinden der alten Großtante interessieren!“

„Für wessen Befinden?“ forschte Mister Astley.

„Nun, für jene alte Hexe dort in Moskau, die immer noch nicht sterben will.“

„Ach so! Nun ja, selbstverständlich konzentrieren sich alle Interessen auf die in Aussicht stehende Erbschaft. Sobald sich die Erwartung erfüllt, wird der General sich trauen lassen. Miß Polina wird dann gleichfalls befreit sein und de Grillet ...“

„Und de Grillet? ...“

„Und de Grillet wird das Geld zurückerhalten, das er geliehen hat. Darauf wartet er doch nur.“

„Nur? Glauben Sie, daß er wirklich nur darauf wartet?“

„Ich wüßte nicht, worauf er sonst noch warten könnte,“ sagte Mister Astley kühl abweisend.

„Aber ich weiß es, ich!“ sagte ich mit verhaltenem Haß und die Wut kochte in mir. „Er wartet gleichfalls auf die Erbschaft, denn Polina wird eine Mitgift erhalten und sobald sie das Geld in Händen hat – wird sie sich ihm sogleich an den Hals werfen. Alle Weiber sind so! Und die stolzesten von ihnen – erweisen sich als die abgeschmacktesten Sklavinnen! Polina ist nur dazu fähig, leidenschaftlich zu lieben, und zu nichts weiter! Das ist meine Meinung von ihr, oder meine Überzeugung, wenn Sie wollen. Betrachten Sie sie doch einmal etwas aufmerksamer, namentlich wenn sie allein ist, in Gedanken versunken: es ist doch – etwas Prädestiniertes, Verfluchtes an ihr! Sie ist fähig, alle Schrecken des Lebens und der Leidenschaft ... sie ... Wer ruft mich?“ unterbrach ich mich erschrocken und verwundert. „Wer rief mich? – Hörten Sie nicht? Ich hörte ganz deutlich meinen Namen rufen, auf russisch ... eine Frauenstimme ... Hören Sie! Hören Sie?“

Wir näherten uns in diesem Augenblick schon dem Hotel – das Café hatten wir schon vor einiger Zeit verlassen, nachdem der Kellner an unseren Tisch geeilt War.

„Ja, ich hörte eine Damenstimme rufen, aber ich weiß nicht, was. Es klang wie russisch ... Ah, jetzt sehe ich, dort jene Dame scheint es zu sein! Die dort im großen Korbstuhl auf der Freitreppe, die soeben von den vielen Dienern hinausgetragen wurde! Hinter ihr werden Koffer abgeladen ... der Zug muß soeben angekommen sein.“

„Aber weshalb ruft sie mich? Was will sie von mir? Da schreit sie schon wieder! Sehen Sie doch, wahrhaftig, sie winkt uns zu sich.“

„Das sehe ich, daß sie winkt ... was mag sie wollen?“ fragte Mister Astley.

„Alexei Iwanowitsch! Alexei Iwanowitsch! Ach Gott, was das doch für ein Tölpel ist!“ tönte es ganz verzweifelt von der Hoteltreppe.

Wir eilten fast im Laufschritt auf sie zu, ich nahm die paar Stufen und – meine Kniee wurden schwach vor Schreck und die Fußsohlen waren wie festgelötet am Stein.

IX.

Auf dem oberen Absatz der großen Freitreppe des Hotels, umgeben von Dienern, Zofen und dem zahlreichen Troß des Hotelpersonals, sogar einschließlich des Hotelverwalters, der es offenbar noch mit seiner Würde vereinigen zu können glaubte, einem so geräuschvoll und originell, mit eigener Bedienung und einem ganzen Heer von Koffern eintreffenden Gast bis zum Portal entgegen zu gehen, thronte auf einem bequemen Krankenstuhl – die Großtante!

Ja, das war sie, das war sie selbst, die gefürchtete, angsteinflößende, reiche fünfundsiebzigjährige Antonida Wassiljewna Tarassewitschewa, die Gutsbesitzerin und unverfälschte Moskowiterin, die Großtante, die schon im Sterben lag und doch nicht starb, die Dame, deretwegen so viele Depeschen empfangen und aufgegeben wurden und die nun plötzlich wie ein Blitz aus heiterem Himmel in höchsteigener Person bei uns erschien. Zweimal hatte ich, seit ich Hauslehrer im Hause des Generals war, bereits die Ehre gehabt, sie zu sehen, und genau so sah ich sie jetzt wieder: in strammer Haltung im Krankenstuhl sitzend, in dem sie schon seit fünf Jahren saß, da sie sich nicht mehr des Gebrauchs ihrer Füße erfreute, doch ungeachtet dessen nach wie vor mutig bis zur Verwegenheit, schlagfertig, rechthaberisch und selbstzufrieden. Nicht einmal ihre Stimme hatte an Kraft eingebüßt und auch ihre Redeweise schien sich nicht im geringsten verändert zu haben. Natürlich stand ich im ersten Augenblick wie vom Schlage gerührt vor ihr. Sie hatte mich mit ihren Luchsaugen schon auf hundert Schritte erkannt, als man sie in ihrem Stuhl die Treppe hinauftrug, hatte mich erkannt und sogleich zu sich zu rufen begonnen, und das sogar bei meinem Ruf- und Vatersnamen, die sie sich ihrer alten Gewohnheit gemäß ein für allemal gemerkt hatte.

„Und solch eine glaubte man schon beerdigen zu können, zu beerdigen und zu beerben!“ fuhr es mir durch den Sinn.

„Sie wird noch uns alle und das ganze Hotel überleben! Aber Herr des Himmels, was wird jetzt aus den Unsrigen werden, aus dem General! Sie wird doch das ganze Hotel auf den Kopf stellen!“

„Na, Väterchen, was stehst du denn so vor mir da und starrst mich an!“ fuhr die rüstige alte Dame in ihrer lauten brüsken Weise fort. „Hast du vergessen, wie man eine Verbeugung macht? Verstehst du nicht mehr, guten Tag zu sagen, oder was fehlt dir sonst? Oder bist du stolz geworden und willst nicht? Oder hast du mich etwa nicht erkannt? Potapytsch,“ wandte sie sich an ihren alten Diener, der im Frack und weißer Binde hinter ihrem Korbstuhl stand, und dessen rosige Glatze ein Kranz ehrwürdig grauer Haare umgab, „Potapytsch, hast du gehört, er erkennt mich nicht! Da haben wir’s! Also schon beerdigt! Ich sag’s ja: Depesche auf Depesche mußte abgesandt werden, da man doch nicht früh genug erfahren konnte, ob sie denn nun endlich gestorben sei oder noch immer nicht. Ich weiß ja doch alles! Nun, ich aber bin inzwischen noch ganz fix und munter, wie du siehst.“

„Aber ich bitte Sie, Antonida Wassiljewna, wie sollte ich darauf kommen, Ihnen Schlechtes zu wünschen?“ versetzte ich, mich nach dem im ersten Augenblick lähmenden Schreck besinnend, lebhaft und mit wiedergefundenem Humor. „Ich war nur zu überrascht ... Und meine Verwunderung war, denke ich, ganz erklärlich, da Sie so unerwarteterweise ...“

„Weshalb denn Verwunderung? Ich habe mich einfach ins Coupé gesetzt und bin hergereist. Mit der Eisenbahn ist das Reisen sehr schön, da gibt’s weder Püffe noch Stöße. Du gingst gerade spazieren, nicht wahr?“

„Ja, ich wollte zum Kurhaus gehen.“

„Es gefällt mir hier,“ bemerkte sie, sich wohlgefällig umschauend, „vor allen Dingen ist es warm und die Bäume sind schön. Das lieb ich! Nun, wo sind die Unsrigen? – Der General? – Zu Hause?“

„O! Versteht sich, um diese Zeit sind gewiß alle zu Hause.“

„Also auch hier haben sie ihre Stunden eingeführt und alle ihre übrigen Zeremonien? Natürlich, sie müssen doch tonangebend sein. Auch eine Equipage halten sie sich, wie ich hörte, les seigneurs russes! Haben sie ihr Geld verzettelt, dann gehen sie wieder ins Ausland. Und Praskowja[3] ist auch hier?“

„Ja, auch Polina Alexandrowna ist hier.“

„Und auch der Franzusischka? Nun, ich werde sie ja selber alle sehen. Jetzt sei mal so gut, Alexei Iwanowitsch, und zeig uns den Weg zu ihnen. Und wie geht es denn dir hier?“

„Es geht, Antonida Wassiljewna.“

„Du, Potapytsch, sag’ mal diesem Dummkopf, dem Kellner da, daß er mir ein bequemes Appartement verschafft, ein gutes und nicht hoch; und dorthin laß auch sogleich das Gepäck bringen, hörst du? Aber warum drängen sich denn alle zum Tragen? Was drängen sie sich vor? Weg da! Solche Dienerseelen! Wer ist das, dieser dein Bekannter dort?“ wandte sie sich wieder an mich.

„Das ist Mister Astley,“ antwortete ich.

„Was ist das für ein Mister Astley?“

„Ein Bekannter von mir, der sich vorübergehend hier aufhält. Er ist auch dem General bekannt.“

„Ein Engländer also? Deshalb: er sieht mich an, ohne den Mund aufzutun. Übrigens habe ich Engländer sehr gern. Nun ... jetzt schleppt mich mal hinauf, direkt zu ihnen. Wo wohnen sie denn dort?“

Der Stuhl wurde aufgehoben und wir begaben uns hinauf. Unser Emporstieg war jedenfalls sehr effektvoll. Alle, die uns erblickten, blieben stehen und sahen uns mit großen Augen nach. Unser Hotel gilt für das beste, teuerste und vornehmste am Ort. Auf der Treppe und in den Korridoren begegnet man zu jeder Zeit eleganten Damen und selbstbewußten, selbstzufriedenen Engländern. Viele erkundigten sich unten beim Portier nach der fremden Dame, und der berichtete natürlich, daß es eine Ausländerin sei, une russe, une comtesse, grande dame, und daß sie dasselbe Appartement bewohnen werde, das vor einer Woche la grande-duchesse de N. inne gehabt. Doch die Hauptursache des großen Eindrucks, den sie auf alle machte, lag sicherlich in ihrer äußeren Erscheinung, die wohl in jeder Beziehung die Gewohnheit, zu herrschen und zu befehlen, verriet. Jede neue Person, der wir begegneten, betrachtete sie sogleich mit großem Interesse und erkundigte sich bei mir ganz ungeniert und laut nach allem, was ein Hotelgast unter Umständen vom anderen wissen kann. Und ebenso interessiert wurde sie von den Hotelgästen betrachtet. Obschon man sie nur sitzend sah, konnte doch ein jeder auf den ersten Blick erraten, daß man eine Dame von hohem Wuchs vor sich hatte. Sie saß sehr gerade und lehnte sich nie an die Rückenlehne des Stuhles. Ihren großen Kopf mit dem grauen Haar und den großen, scharfen Gesichtszügen hielt sie ebenso aufrecht wie ihren Körper; ihr Blick hatte geradezu etwas Herausforderndes und Hochmütiges an sich; doch sah man es ihr sogleich an, daß alles an ihr, sowohl ihr Blick wie ihre Bewegungen, vollkommen natürlich waren. Trotz der fünfundsiebzig Jahre sah ihr Gesicht noch ziemlich frisch aus und nicht einmal ihre Zähne hatten viel gelitten. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid und ein weißes Häubchen auf dem grauen Haar, wie sie alte Damen zu tragen pflegen.

„Sie interessiert mich ungeheuer!“ sagte mir leise Mister Astley, der neben mir die Treppe hinaufstieg.

„Von den Depeschen scheint sie alles zu wissen,“ überlegte ich, „de Grillet ist ihr gleichfalls bekannt, bloß Mademoiselle Blanche kennt sie noch nicht und sie dürfte auch wohl kaum etwas von ihr gehört haben.“

Ich teilte flüsternd meine Befürchtungen Mister Astley mit.

Ein Sünder ist der Mensch! Kaum hatte sich mein erster Schreck gelegt, da freute ich mich schon wie ein Schulbub über den Keulenschlag, den unsere Erscheinung dem General versetzen würde. Ich fühlte mich ganz unwiderstehlich versucht, den Schreck noch zu vergrößern, und ich schritt in gehobener Stimmung voran.

Ich ließ uns weder anmelden, noch klopfte ich an die Tür. Ich stieß die Tür einfach weit auf und die Großtante ward wie im Triumph hineingetragen. Sie waren alle, wie gerufen, im Kabinett des Generals versammelt. Es hatte gerade zwölf geschlagen und ich glaube, man projektierte einen Ausflug – die einen sollten in der Equipage fahren, die anderen reiten – und ein paar Bekannte, die sich am Ausflug beteiligen wollten, waren gleichfalls zugegen. Außer dem General, Polina, den Kindern und der Kinderfrau befanden sich im Kabinett de Grillet, Mademoiselle Blanche im Reitkleide, madame veuve de Cominges, der kleine Fürst und ein deutscher Gelehrter, den ich zum erstenmal sah.

Der Stuhl mit der Großtante wurde von den Trägern, die sie die zwei Treppen hinaufgetragen hatten, mitten im Zimmer niedergesetzt, keine drei Schritte vor dem General. Gott, nie im Leben werde ich sein Gesicht in dem Augenblick vergessen! Vor unserem Eintritt hatte er irgend etwas erzählt und de Grillet schien gerade eine Bemerkung gemacht zu haben. Ich muß hier noch anfügen, daß de Grillet und Mademoiselle Blanche sich schon seit zwei oder drei Tagen bei dem kleinen Fürsten einzuschmeicheln suchten – à la barbe du pauvre général, versteht sich. Die ganze Gesellschaft war, wenigstens äußerlich, bei bester Stimmung: heiter, gemütlich und zum Scherzen aufgelegt. Als der General die Großtante erblickte, sperrte er tonlos den Mund auf, während ihm das halbe Wort in der Kehle stecken blieb. Er starrte sie mit fast hervorquellenden Augen an, regungslos, wie durch ein Zauberwort gelähmt. Und ebenso regungslos und stumm sah ihn die alte Dame an, doch was war das für ein triumphierender, herausfordernder spöttischer Blick! Und so sahen sie sich wohl geschlagene zehn Sekunden lang an – beim tiefsten Grabesschweigen aller übrigen. De Grillet war zunächst einfach baff, doch bald drückte sich Unruhe und Besorgnis in seinem Gesicht aus. Mademoiselle Blanche zog die Augenbrauen in die Höhe, vergaß, den Mund zu schließen und musterte die Unbekannte mit gierigem Blick, während der Fürst und der Deutsche höchst verwundert dem Ganzen zusahen. Im Blick Polinas drückte sich zuerst nichts als grenzenloses Erstaunen aus und absolute Verständnislosigkeit, plötzlich aber erbleichte sie unheimlich; doch im nächsten Augenblick stieg ihr das Blut heiß ins Gesicht.

Ja, das war für sie alle eine Katastrophe!

Ich sah von der alten Dame auf die anderen und von diesen wieder zurück auf sie.

Mister Astley stand etwas abseits und hielt sich, wie gewöhnlich, ruhig und vornehm.

„Na, da bin ich selbst! Anstatt der erwarteten Depesche!“ entlud sich endlich die alte Dame und machte damit der Spannung ein Ende. „Was, darauf wart Ihr wohl nicht ganz vorbereitet?“

„Antonida Wassiljewna ... verehrteste Tante ... Aber wie in aller Welt ...“ stotterte noch ganz fassungslos der General.

Hätte das Schweigen noch einige Sekunden länger gewährt, so hätte ihn vielleicht der Schlag gerührt.

„Was, wie ich hergekommen bin? Sehr einfach: ich stieg ein und fuhr. Wozu gibt es denn jetzt eine Eisenbahn? Und ihr glaubtet alle, ich hätte mich schon gestreckt und euch die Erbschaft hinterlassen! Ich weiß ja doch, daß du von hier Depesche auf Depesche abgesandt hast. Wieviel Geld du damit fortgeworfen hast – kann mir denken! Von hier aus ist’s nicht billig. Nun, ich aber war dort nicht angewachsen. Ist das derselbe Franzose? Monsieur de Grillet, wenn ich nicht irre?“

Oui, madame,“ bestätigte sogleich de Grillet, „et croyez, je suis si enchanté de ... votre santé ... mais c’est un miracle ... de vous voir ici! C’est vraiment une surprise charmante!

„Ja, ja, charmante; ich kenne dich besser. Siehst du, nicht soviel glaube ich dir!“ und zur Erklärung wies sie ihm das letzte Glied ihres kleinen Fingers. „Wer ist denn das?“ fragte sie, auf Mademoiselle Blanche deutend. Die elegante Französin im Reitkleide und mit der Reitpeitsche in der Hand lenkte naturgemäß ihr Interesse auf sich. „Eine Hiesige, nicht?“

„Das ist Mademoiselle Blanche de Cominges und hier ist ihre Frau Mutter, Madame de Cominges. Sie wohnen gleichfalls in diesem Hotel,“ berichtete ich.

„Ist sie verheiratet, die Tochter?“ fragte die alte Dame ganz ungeniert.

„Nein, Mademoiselle de Cominges ist nicht verheiratet,“ antwortete ich möglichst respektvoll und absichtlich nur halblaut.

„Ist sie lustig?“

Ich tat, als verstehe ich ihre Frage nicht.

„Ist es nicht langweilig mit ihr? Versteht sie Russisch? Der de Grillet hat ja bei uns in Moskau das Wunder fertig gebracht, fünf bis zehn Brocken zu behalten!“

Ich erklärte ihr, daß Mademoiselle de Cominges niemals in Rußland gewesen sei.

Bonjour!“ sagte sie plötzlich, sich ganz unvermittelt an Mademoiselle Blanche wendend.

Bonjour, madame,“ erwiderte mit einer zeremoniellen, französisch eleganten révérence Mademoiselle Blanche, wobei sie sich sichtlich bemühte, unter dem Deckmantel äußerer ungewöhnlicher Bescheidenheit und Höflichkeit durch den ganzen Ausdruck ihres Gesichtes und womöglich auch ihrer Gestalt ihre grenzenlose Verwunderung über diese seltsame Frage und Behandlung zu verstehen zu geben.

„O, sie schlägt die Augen nieder, ziert sich und scheint Zeremonien zu lieben! Da sieht man sogleich, was für ein Vogel das ist! Eine Schauspielerin natürlich. – Ich bin hier unten im Hotel abgestiegen,“ wandte sie sich plötzlich an den General. „Wir werden unter einem Dach wohnen, ist dir das angenehm oder nicht?“

„O, Tantchen! Glauben Sie meiner aufrichtigen Versicherung ... meiner unbeschreiblichen Freude!“ beteuerte der General so schnell er nur seine Gedanken sammeln konnte. Er war inzwischen offenbar etwas zu sich gekommen und schien sogar einigermaßen gefaßt zu sein, und da er sich gelegentlich ganz gut auszudrücken verstand – selbstverständlich nicht ohne dabei Anspruch auf einen gewissen Eindruck zu machen – so wollte er sich wieder in einer Rede ergehen. „Wir waren alle so besorgt wegen Ihrer Krankheit ... Wir erhielten so hoffnungslose Nachrichten – die erste gar wirkte geradezu erschütternd auf uns – und da nun, plötzlich, Sie in eigener Person hier zu sehen.“

„Nun, genug, such dir zuerst einen, der dir’s glaubt!“ unterbrach ihn sogleich die Großtante.

„Aber erlauben Sie,“ unterbrach sie schleunigst der General, der rasch seine Stimme etwas erhob und ihren Rat zu überhören suchte, „wie haben Sie sich denn überhaupt zu dieser Reise entschließen können? In Ihren Jahren, nicht wahr, und bei Ihrem Gesundheitszustand ist es doch ... wenigstens war es nicht vorauszusehen, daß Sie gewiß unser Erstaunen verstehen und verzeihen werden. Ich bin aber so erfreut ... und wir alle werden uns nach Kräften bemühen, Ihnen den Aufenthalt hier zu einem möglichst angenehmen zu machen,“ fuhr er mit seinem liebenswürdigsten Lächeln fort, „und was die Zerstreuungen betrifft ...“

„Na, genug, behalt dein Geschwätz für dich; verstehst ja doch nur leeres Zeug zu reden! Ich weiß, was ich tue. Übrigens habe ich nichts gegen euch; ich trage nichts nach. ‚Wie‘, fragst du? Ja, was ist denn dabei Wunderbares? In der allereinfachsten Weise. Aber nein, ein jeder muß sich darüber noch aufregen! Guten Tag, Praskowja. Was treibst du denn hier?“

„Guten Tag, Babuschka,“[4] grüßte Polina, sich der alten Dame nähernd. „Waren Sie lange unterwegs?“

„Nun seht, die hat am gescheitesten von allen gefragt, aber sonst: ach und ach! – und weiter hört man nichts. Ja, siehst du: ich lag und lag, ließ mich kurieren, kurieren – bis ich sie alle davonjagte, die Ärzte, und statt ihrer den Kirchendiener von Sankt Nikolai rufen ließ. Der hat ein altes Weib von derselben Krankheit mit Heukompressen kuriert. Nun, und der hat auch mir geholfen: am dritten Tage hat mich sein Tee noch gründlich zum Schwitzen gebracht und dann stand ich auf. Darauf versammelten sich wieder meine Deutschen,[5] setzten die Brillen auf und berieten: ‚Wenn Sie jetzt,‘ sagten sie, ‚im Auslande eine Kur durchmachten, so würden die Blutstockungen ganz gehoben werden.‘ Ja, warum denn nicht? denke ich. Na, natürlich, da begannen die Ratten wieder zu jammern und zu stöhnen: ‚Großer Gott, eine so weite Reise können Sie doch nicht mehr unternehmen!‘ Das fehlte noch! An einem Tage war alles eingepackt und in der vorigen Woche, am Freitag, nahm ich das Mädchen, den Potapytsch und den Fjodor, den Diener – übrigens: diesen Fjodor habe ich aus Berlin wieder zurückgeschickt, denn ich sah doch, er war ja ganz überflüssig, ich hätte auch allein fahren können. Ich nehme ein Coupé für mich – Träger gibt es auf allen Stationen, für einen Rubel tragen sie dich, wohin du nur willst. Seht doch, was ihr hier für eine Wohnung habt!“ schloß sie plötzlich, sich umschauend. „Mit wessen Gelde bezahlst du denn das hier, Väterchen? Du hast doch alles verpfändet. Was du allein diesem Franzusischka da schuldest! Ich weiß doch, weiß doch alles!“

„Ich, erlauben Sie, Tantchen ...“ begann der General ganz verwirrt, „ich wundere mich, liebe Tante ... ich glaube, daß ich ohne jemandes Kontrolle auskommen kann ... Zudem übersteigen meine Ausgaben durchaus noch nicht meine Mittel, und wir leben hier ...“

„Was, bei dir übersteigen sie sie nicht? Auch ein Wort! Die Kinder hast du wohl schon ganz und gar beraubt? Schöner Vormund!“

„Nach solchen Worten ... nach dieser Bemerkung, liebe Tante ...“ begann der General, „weiß ich wirklich nicht mehr, was ich ...“

„Glaub’s schon, daß du es nicht weißt. Vom Roulette trennst du dich hier wohl überhaupt nicht? Hast wohl schon alles verspielt?“

Der General war so verblüfft, daß er unter all den auf ihn einstürmenden Gefühlen und Gedanken kaum noch nach Luft schnappen konnte.

„Vom Roulette! Ich? Bei meiner Würde als General ... Ich? Besinnen Sie sich, werte Tante, Sie sind gewiß noch etwas angegriffen ...“

„Nun, genug, schwatz nicht, ich bin sicher, daß man dich nur mit Müh und Not fortschleppen kann; dir glaube ich kein Wort. Ich werde jetzt selbst sehen, was denn das für eine Roulette hier ist, heute noch. Du, Praskowja, wirst mir erzählen, was man hier alles sehen muß, ja und auch der Alexei Iwanowitsch kann uns umherführen, und du, Potapytsch, schreibst alles auf, hörst du, wohin wir fahren müssen. So, also was muß man sich hier denn ansehen?“ wandte sie sich wieder an Polina.

„Nicht weit von hier ist eine Schloßruine, und dann der Schlangenberg ...“

„Was ist dort zu sehen?“

„Vom Gipfel des Berges hat man eine sehr schöne Aussicht.“

„Also auf einen Berg muß ich mich schleppen lassen? Wird man mich hinauftragen können oder geht das nicht?“

„O, Träger werden sich hier schon finden lassen,“ sagte ich.

In dem Augenblick näherte sich ihr Fedossja, die Kinderfrau, mit ihren beiden Schutzbefohlenen, den Kindern des Generals, damit sie die Babuschka begrüßten.

„Nun, schon gut, behaltet die Küsse für euch! Ich lieb’s nicht, kleine Kinder zu küssen. Sie sind doch alle Schmutznasen. Nun, und wie geht es dir hier, Fedossja?“

„Ach hier ist es wunderwunderschön, Mütterchen Antonida Wassiljewna!“ antwortete Fedossja. „Aber wie ist es denn Ihnen ergangen, Mütterchen? Wir haben uns hier doch schon so um Sie geängstigt!“

„Ich weiß, dir will ich’s glauben, du bist eine einfache Seele. Sind das hier alles Gäste bei euch oder wer sonst?“ wandte sie sich wieder an Polina. „Wer ist dieses ekelhafte Kerlchen da mit der Brille?“

„Fürst Nilskij, Babuschka,“ sagte Polina leise.

„Ah, ein Russe? Und ich dachte, er würde es nicht verstehen! Er hat es vielleicht gar nicht gehört! Mister Astley habe ich schon gesehen. Da ist er ja wieder!“ rief sie angenehm überrascht aus, als sie ihn erblickte. „Guten Tag!“ wandte sie sich plötzlich an ihn.

Mister Astley verbeugte sich schweigend.

„Nun, was sagen Sie mir Gutes? Sagen Sie mir irgend etwas! Übersetze es ihm, Praskowja.“

Polina übersetzte ihm den Wunsch.

„Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich Sie mit großem Vergnügen kennen lerne und es mich freut, daß Sie sich wohlbefinden,“ erwiderte Mister Astley mit größter Bereitwilligkeit, ernst und höflich.

Seine Worte wurden übersetzt und gefielen ihr augenscheinlich sehr.

„Wie doch die Engländer stets gut zu antworten wissen,“ bemerkte sie. „Ich habe die Engländer immer sehr gern gehabt. Kein Vergleich mit den Franzosen! Besuchen Sie mich,“ wandte sie sich wieder an Mister Astley. „Ich werde mich bemühen, Sie nicht zu sehr zu belästigen. Übersetze ihm das und sage ihm, daß ich hier unten wohne, hier unten – hören Sie, unten, unten,“ wiederholte sie, ihn fest dabei ansehend und mit dem Finger immer nach unten deutend.

Mister Astley war sehr erfreut über die Einladung.

Doch die Großtante betrachtete bereits Polina aufmerksam und mit zufriedenem Blick vom Kopf bis zu den Füßen.

„Ich würde dich lieben, Praskowja,“ sagte sie plötzlich, „bist ein entzückendes Mädchen, besser als sie alle, aber ein Charakterchen hast du – ach! Nun was, auch ich habe einen Charakter. Dreh dich mal um: ist das alles dein eigenes Haar oder hast du da noch sonst was angesteckt?“

„Nein, Babuschka, es ist alles mein eigenes.“

„So, das ist vernünftig, ich liebe die jetzige dumme Mode nicht. Schön bist du. Ich würde mich in dich verlieben, wenn ich ein Kavalier wäre. Weshalb heiratest du nicht? Aber es ist Zeit für mich. Ich will auch einmal hinaus und mir das alles ansehen, ich habe es satt, dieses ewige Im-Waggon-Sitzen ... Nun, und du, ärgerst du dich noch?“ wandte sie sich zum General.

„O, ich bitte Sie, Tante, vergessen wir es!“ griff der General erfreut die Versöhnungsmöglichkeit auf. „Ich begreife ja vollkommen, daß man in Ihren Jahren ...“

Cette vieille est tombée en enfance!“ flüsterte mir de Grillet zu.

„Ich will mir hier alles ansehen. Wirst du mir Alexei Iwanowitsch abtreten?“ fuhr die alte Dame, zum General gewandt, fort.

„O, so viel Sie wünschen, aber ich kann ja auch selbst ... und Polina, Monsieur de Grillet ... uns allen wird es ein Vergnügen sein, Sie zu begleiten.“

Mais, madame, cela sera un plaisir pour nous ...“ beteuerte sogleich de Grillet mit bezaubernder Liebenswürdigkeit.

„Ja, ja, plaisir. Lächerlich bist du, Väterchen. – Geld werde ich dir übrigens nicht geben,“ sagte sie, sich nochmals zum General wendend. „So, und jetzt nach unten in meine Zimmer: ich muß sie mir doch ansehen, und dann machen wir uns auf zu den Sehenswürdigkeiten. Nun, vorwärts!“

Der Fahrstuhl wurde hinausgeschoben, gefolgt von fast allen Anwesenden, und dann die Treppen hinabgetragen. Der General stand, ging und bewegte sich, wie von einem betäubenden Schlage getroffen. De Grillet schien zu überlegen. Mademoiselle Blanche wollte zuerst im Zimmer bleiben, besann sich dann aber eines Besseren und folgte den anderen. Ihr schloß sich sogleich auch der Fürst an, und so blieben im Kabinett des Generals nur der Deutsche und madame veuve de Cominges zurück.

X.

In den Hotels der fashionablen Kurorte – doch glaube ich, im ganzen übrigen Europa nicht minder – richten sich die Hotelverwalter und Oberkellner bei der Anweisung der Räume für einen neueingetroffenen Gast nicht so sehr nach dessen Wünschen als nach ihrer eigenen, persönlichen Einschätzung des Betreffenden, und wie man zugeben muß, täuschen sie sich selten. Was nun aber die Babuschka betraf, da hatten sie doch ein wenig zu hoch gegriffen: vier prächtig ausgestattete Räume, ein Badezimmer, ein Zimmer für den Diener und eines für die Zofe. Dieses Appartement hatte vor einer Woche tatsächlich eine grande-duchesse bewohnt, was natürlich als erstes der neuen Einwohnerin mitgeteilt und weshalb der Preis entsprechend heraufgeschraubt wurde.

Die Großtante wurde mit ihrem Stuhl durch alle Zimmer gefahren und sie musterte sie streng und aufmerksam. Der Hotelverwalter, ein schon bejahrter Mann mit einer Glatze, begleitete sie ehrerbietig bei dieser ersten Besichtigung.

Ich weiß nicht, für wen man sie hielt, jedenfalls aber benahm man sich, als sei sie der vornehmste und reichste Hotelgast. Ins Fremdenbuch ward sogleich eingetragen: Madame la générale princesse de Tarassevitscheva, obschon sie keine Fürstin war. Offenbar hatte der ganze Aufwand ihrer Reise, die eigene Dienerschaft, das besondere Coupé im Waggon, die Unmenge ihrer Gepäckstücke, Koffer und sogar Kisten, die mit ihr eingetroffen waren, die Grundlage zu diesem Prestige gelegt; und der Fahrstuhl mit den Trägern zur Überwindung der Treppen, der schroffe Ton und die Stimme der alten Dame, ihre exzentrischen Fragen, die sie wie mit der größten Selbstverständlichkeit stellte, und noch dazu mit einer Miene, die widerspruchsloseste Beantwortung heischte, kurz, die ganze Erscheinung und Haltung der Babuschka, so wie sie nun einmal war – aufrecht, stramm, schroff und gebieterisch – gab natürlich noch den Rest und steigerte die allgemeine Ehrerbietung zu wahrer Andacht vor ihr.

Bei der Besichtigung der Zimmer befahl sie zuweilen plötzlich, anzuhalten, wies auf irgend einen Gegenstand der Einrichtung und wandte sich mit nicht vorherzusehenden Fragen an den ehrerbietig lächelnden Hotelverwalter, dem es aber in ihrer Nähe nachgerade etwas unheimlich zu werden schien. Sie fragte ihn auf französisch, und da sie diese Sprache ziemlich mangelhaft beherrschte, mußte ich ihre Fragen gewöhnlich noch übersetzen. Doch die Antworten des Hotelverwalters mißfielen ihr größtenteils oder erschienen ihr wenigstens nicht befriedigend. Aber sie frug auch immer so wenig gegenständlich, oder so – ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll –, so daß es wohl, weiß Gott, jedem nicht ganz leicht gewesen wäre, befriedigend zu antworten. Plötzlich z. B. läßt sie vor einem Gemälde halten – einer ziemlich schwachen Kopie irgend eines bekannten Originals, das eines der vielen mythologischen Wesen darstellen soll.

„Wessen Porträt ist das?“

Der Hotelverwalter erlaubt sich, ehrerbietigst zu meinen, daß es wahrscheinlich eine Gräfin sei.

„Wie, weißt du denn das nicht? Lebst hier und weißt es nicht. Wozu ist er überhaupt hier? Warum schielt er?“

Auf all diese Fragen wußte der gute Mann nichts Positives zu antworten, ja sie schienen ihn sogar sichtlich zu verwirren.

„Ist das ein Tölpel!“ äußerte sie sich dann auf russisch.

Der Stuhl wurde weitergeschoben. Dieselbe Geschichte wiederholte sich vor einer kleinen sächsischen Porzellanstatuette, die sie lange betrachtete und dann aus unbekannten Gründen fortzubringen befahl. Darauf wandte sie sich plötzlich an den Repräsentanten des Hotels mit der Frage, wieviel die Teppiche im Schlafzimmer gekostet hätten und wo sie gewebt würden. Der Arme versprach, sich sogleich danach zu erkundigen.

„Das sind mir mal Esel!“ brummte sie und wandte ihre ganze Aufmerksamkeit dem Bett zu.

„Was für ein pompöser Baldachin! Schlagt ihn zurück.“

Man tat es.

„Noch, noch weiter, ganz fort! Nehmt die Kissen fort, die Decken, alles, das Federbett, hebt die Matratzen auf.“

Alles wurde umgedreht und aufmerksam von ihr betrachtet.

„Gut, daß sie keine Wanzen haben. Nehmt die ganze Bettwäsche fort! Deckt meine Wäsche auf und meine Kissen. Das ist aber doch alles viel zu luxuriös für mich Alte, eine solche Wohnung! Allein ist es langweilig. Alexei Iwanowitsch, du kommst öfter zu mir, wenn du mit dem Unterricht der Kinder fertig bist.“

„Ich bin seit gestern nicht mehr Hauslehrer der Kinder des Generals,“ versetzte ich, „ich lebe hier im Hotel ganz für mich.“

„Warum denn das?“

„Vor einigen Tagen traf hier ein angesehener deutscher Baron mit seiner Gemahlin aus Berlin ein. Gestern auf der Promenade redete ich ihn deutsch an, wobei ich mich befleißigte, von der Berliner Redeweise nicht gar zu abweichend zu sprechen.“

„Nun und?“

„Der Baron hielt das für eine Frechheit und beklagte sich beim General, und der General hat mich daraufhin noch gestern verabschiedet.“

„Ja, was hast du denn, hast du ihn denn beleidigt oder gar gescholten? Na, und wenn auch, was wäre denn dabei gewesen! Große Herrlichkeit!“

„O, nein. Im Gegenteil, der Baron machte Miene, mich mit seinem Stock zu schlagen.“

„Und du Lappen hast es erlaubt, daß man sich so etwas deinem Hauslehrer gegenüber herausnimmt?“ wandte sie sich brüsk an den General, „und hast ihn obendrein noch entlassen! Schlafmützen seid ihr alle, alle ohne Ausnahme!“

„Beunruhigen Sie sich nicht, verehrte Tante,“ erwiderte der General mit einem gewissen hochmütig-familiären Klang, „ich kann auch ohne Beistand meine Angelegenheiten ordnen. Überdies hat Ihnen Alexei Iwanowitsch den Sachverhalt nicht ganz richtig wiedergegeben.“

„Und du hast es Dir auch ruhig gefallen lassen?“ wandte sie sich wieder an mich.

„Ich wollte den Baron fordern,“ antwortete ich möglichst ruhig und gleichmütig, „doch der General widersetzte sich dem.“

„So, weshalb hast du dich denn widersetzt?“ wandte sie sich an den General. „Du aber, Väterchen, geh mal jetzt; komm, wenn man dich rufen wird,“ wandte sie sich sogleich an den Hotelverwalter. „Wozu stehst du hier mit offenem Munde, das ist ganz überflüssig. Nicht ausstehen kann ich diese Nürnberger Fratze!“ Jener verbeugte sich ehrerbietigst und verließ uns, ohne das Kompliment der Babuschka verstanden zu haben.

„Aber ich bitte Sie, Tantchen, sind denn Duelle heutzutage überhaupt noch möglich?“ fragte mit einem halb spöttischen Lächeln der General.

„Ja warum denn nicht? Männer sind nun mal Hähne: also soll man sie lassen. Schlafmützen seid ihr hier alle, wie ich sehe, keiner versteht von euch, für sein Vaterland einzustehn! Nun, vorwärts! Potapytsch, sorge dafür, daß stets zwei Träger zur Stelle sind, sprich mit ihnen und mach mit ihnen fest ab. Mehr als zwei sind nicht nötig. Zu tragen brauchen sie mich nur auf den Treppen, auf ebener Erde aber, auf der Straße nur zu schieben, und so sag du es ihnen auch. Ja, und zahle Ihnen noch voraus, dann werden sie höflicher sein. Du aber wirst immer bei mir sein, Potapytsch, und du, Alexei Iwanowitsch, zeig mir mal diesen Baron auf der Straße: ich möchte ihn mir doch wenigstens ansehen, was für ein Von-Baron er denn eigentlich ist. Nun, wo ist denn hier dieses Roulette?“

Ich erklärte ihr, daß das Roulette sich in den Sälen des Kurhauses befinde. Dann folgten noch weitere Fragen: Wieviel sind es? Spielen dort viele Menschen? Wird den ganzen Tag gespielt? Wie spielt man denn dieses Spiel? – Mir blieb zum Schluß nichts anderes übrig, als zu sagen, daß es wohl am besten wäre, sich das Spiel einmal mit eigenen Augen anzusehen, da es schwierig sei zu erklären.

„Nun, dann vorwärts, bringt mich hin! Und du, Alexei Iwanowitsch, geh voran und zeige uns den Weg.“

„Wie, Tantchen, wollen Sie sich denn nicht einmal von der Reise erholen?“ fragte der General ganz besorgt. Er schien unruhig zu werden und auch die anderen tauschten untereinander besorgte Blicke aus. Offenbar waren sie durch diese Überraschung etwas unangenehm berührt; vielleicht aber genierten sie sich auch, die Großtante so ohne weiteres in den Kursaal zu begleiten, wo sie durch ihr originelles Wesen ganz gewiß Aufsehen erregen würde, was in der Öffentlichkeit sehr unangenehm wäre. Indessen erboten sich doch alle, sie zu begleiten.

„Wovon soll ich mich erholen? Ich bin nicht müde; habe ohnehin ganze fünf Tage gesessen. Später aber wollen wir sehen, was für Heilquellen es hier gibt und wo sie sind. Und dann ... wie hieß das nun gleich wieder, Praskowja, – der Schlangenberg, nicht?“

„Ja, Babuschka, der Schlangenberg.“

„Nun, dann meinetwegen der Schlangenberg. Was aber gibt es hier sonst noch zu sehen?“

„Es gibt hier Verschiedenes, Babuschka,“ sagte Polina etwas ratlos.

„Nun, scheinst ja selbst nichts zu wissen. Marfa, du kommst auch mit,“ sagte sie zu ihrem Kammermädchen.

„Aber warum denn auch die noch, Tantchen?“ warf der General ein, wohl um das Gefolge möglichst zu verringern. „Und übrigens wird man sie kaum das Kurhaus betreten lassen, ja selbst bei Potapytsch bin ich dessen nicht ganz sicher.“

„Na, solch ein Unsinn! Bloß weil sie meine Dienerin ist, soll ich sie hier allein sitzen lassen? Sie ist doch auch ein lebendiger Mensch. Fast eine ganze Woche waren wir unterwegs – sie will doch auch etwas sehen. Mit wem soll sie denn gehen, wenn nicht mit mir? Allein würde sie ja nicht mal wagen, ihre Nase aus der Tür zu stecken.“

„Aber ...“

„Oder schämst du dich etwa, mit mir und ihr zu gehen? So bleib doch zu Haus, niemand bittet dich. Seht doch mal an, was das für ein General ist! Ich bin selbst eine Generalin. Und überhaupt, wozu soll mir denn solch ein ganzer Schweif folgen? Ich werde mir auch ohne euch mit Alexei Iwanowitsch alles ansehen können ...“

Doch de Grillet bestand mit größtem Eifer darauf, daß alle sie begleiteten, und erging sich in den liebenswürdigsten Phrasen bezüglich des Vergnügens, sie begleiten zu dürfen, usw., usw. So brachen wir auf.

Elle est tombée en enfance,“ flüsterte de Grillet dem General zu, „seule – elle fera des bêtises ...“ weiter konnte ich das Geflüster nicht verstehen, doch genügte mir das, um zu erraten, daß er gewisse Absichten haben mußte und daß er vielleicht sogar neue Hoffnung schöpfte.

Bis zum Kurhaus hatten wir von unserem Hotel aus kaum tausend Schritte zu gehen. Unser Weg führte uns durch die Kastanienallee bis zum Square vor dem Kurhaus. Der General beruhigte sich unterwegs ein wenig, denn wenn unsere Völkerwanderung auch etwas auffallend war, so machten wir doch zweifellos einen guten Eindruck. Und übrigens war es ja gar nicht erstaunlich, daß eine kranke Person, die im Stuhl gefahren werden mußte, hier zur Kur erschienen war, in gutem Vertrauen auf die Wirkung der Heilquellen. Der General hegte denn auch einzig wegen der Spielsäle seine Befürchtungen, denn: daß ein kranker Mensch zu einer Heilquelle reiste, war sehr natürlich, viel weniger natürlich war es aber, wenn dieser Kranke – in diesem Fall noch dazu eine alte Dame – die Spielsäle besuchte. Polina und Mademoiselle Blanche gingen jede zu einer Seite des Fahrstuhls. Mademoiselle Blanche lachte, war fröhlich, doch in bescheidenen Grenzen, und widmete sich sogar sehr liebenswürdig der alten Dame, so daß diese sich schließlich lobend über sie äußerte. Polina auf der anderen Seite war wiederum verpflichtet, alle Augenblicke die unzähligen plötzlichen Fragen der Babuschka zu beantworten, Fragen von der Art wie: „Wer war das, der soeben vorüberging? Ist die Stadt groß? Wie groß ist der Park? Was sind das für Bäume? Was sind das dort für Berge? Fliegen hier auch Adler? Was ist das da für ein eigentümliches Dach?“

Mister Astley ging neben mir und flüsterte mir unbemerkt zu, daß er für diesen Tag noch vieles erwarte.

Potapytsch und Marfa gingen hinter dem Fahrstuhl: Potapytsch in seinem Frack mit weißer Krawatte, doch auf dem Kopf eine Mütze mit einem Schirm, und Marfa – ein vierzigjähriges, rotwangiges Mädchen, deren Haar jedoch schon zu ergrauen begann – in einem Kattunkleide und in knarrenden, bockledernen Schuhen. Auf dem Kopf trug sie eine weiße Haube. Die Babuschka wandte sich sehr oft nach den beiden um und machte sie auf dieses und jenes aufmerksam, oder fragte sie, wie ihnen dieses und jenes gefalle.

De Grillet unterhielt sich mit dem General. Vielleicht sprach er ihm Mut zu. Jedenfalls aber schien er ihm Ratschläge zu erteilen. Leider hatte die Erbtante das entscheidende Wort bereits ausgesprochen: „Geld werde ich dir übrigens nicht geben.“ Möglich jedoch, daß de Grillet die Androhung nicht ganz so ernst nahm. Dafür aber kannte der General den Charakter der alten Dame zu gut, um sich über die Bedeutung der Worte tröstende Illusionen zu machen. Es fiel mir auf, daß de Grillet und Mademoiselle Blanche fortfuhren, heimlich Blicke auszutauschen.

Den Fürsten und den deutschen Wissenschaftler erblickte ich weit hinter uns am Ende der Allee. Sie waren wohl absichtlich zurückgeblieben, und schlugen eine andere Richtung ein.

Wie ein Triumphzug erschienen wir im Kurhaus. Der Portier und die Diener legten hier gegen uns dieselbe an Ehrfurcht grenzende Höflichkeit an den Tag, wie das Dienstpersonal des Hotels, sahen uns aber doch mit größtem Interesse nach.

Die Babuschka wollte zuerst alle Säle sehen; einiges lobte sie, anderes ließ sie ganz gleichgültig; nach allem aber fragte sie. Endlich langten wir bei den Spielsälen an. Der Diener, der dort als Schildwache an der geschlossenen Tür steht, war bei unserem Anblick zuerst ganz verblüfft, faßte sich aber im Augenblick und riß beide Türflügel sperrangelweit auf.

Wie sollten wir da nicht Aufsehen erregen! Dazu war noch unser Mittelpunkt eine alte Dame, die sich trotz Krankheit und Lähmung in die Spielsäle fahren ließ – wie sollte da ihr Erscheinen nicht Eindruck auf das Spielerpublikum machen?

An den Tischen, an denen Roulette gespielt wurde, und ebenso am anderen Ende des Saales, wo man trente et quarante spielte, drängten sich etwa hundertundfünfzig bis zweihundert Menschen, die die Tische in drei- und vierfachen Reihen umlagerten. Jene, die sich glücklich bis an einen Tisch hatten durchdrängen können, wußten ihren schwereroberten Platz mit größter Zähigkeit zu behaupten und gaben ihn gewöhnlich nicht früher auf, als bis sie alles verspielt hatten; denn, nur so als Zuschauer am Tisch zu stehen, ohne zu spielen, das ließ man natürlich nicht zu. Obschon rings um jeden Tisch Stühle stehen, setzen sich doch nur sehr wenige Spieler, namentlich wenn sich viele an den Tisch drängen, da stehend eine größere Anzahl Platz hat, denn wer unmittelbar am Tische steht, kann am bequemsten sein Geld anbringen. Die zweite und dritte Reihe drängen sich auf die erste, und man beobachtet und wartet, bis sich Gelegenheit bietet, sich weiterzudrängen und dann gleichfalls zu setzen. Doch nicht alle sind so geduldig und gewöhnlich machen sie ihre Einsätze über die Schultern der vor ihnen Stehenden – oder sie zwängen ihre Hand zwischen den anderen durch – und sogar aus der dritten Reihe bringen manche das Kunststück fertig, über zwei Reihen hinweg ihr Geld zu setzen. Infolgedessen vergehen keine zehn Minuten, ohne daß an einem Tische Streit entsteht. Die Polizei der Spielsäle ist übrigens nicht schlecht. Das Gedränge läßt sich selbstverständlich nicht vermeiden, ganz abgesehen davon, daß es für die Bank vorteilhafter ist: je mehr Menschen an einem Tisch spielen, um so mehr verdient die Bank. Die acht Croupiers, die an einem Tisch sitzen, verfolgen natürlich aufmerksam die Einsätze der Spieler, und da sie jedem das gewonnene Geld auszahlen, sind sie in der Regel diejenigen, die die bei der Gelegenheit entstandenen Streitigkeiten schlichten. Im äußersten Fall wird aber die Polizei herbeigerufen und die Sache damit schnell erledigt.

Die Polizeibeamten tragen hier unauffällige Zivilkleidung und halten sich wie Privatleute, gleich allen den unzähligen Promenierenden und Zuschauenden, in den Sälen auf, so daß niemand sie als Angestellte der Bank erkennen kann. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die kleinen Diebe im Auge zu behalten. Solcher gibt es an den Roulettetischen sehr viele, da ihnen die Ausübung ihres Gewerbes so leicht gemacht wird. In der Tat, an jedem anderen Ort muß man, wenn man stehlen will, in fremde Taschen greifen oder Schlösser sprengen, – das aber zieht im Fall eines Mißlingens unangenehme Folgen nach sich. Beim Roulette jedoch braucht man nur an den Tisch zu treten, ein paar Francs zu setzen und plötzlich ganz offen und nur mit größter Unverfrorenheit einen fremden Gewinn vom Tisch zu nehmen, und in die Tasche zu stecken, und, wenn dann ein Streit entsteht, ganz entrüstet zu behaupten, daß es der eigene Einsatz gewesen sei. Wenn der Spitzbube es geschickt und unauffällig zu machen versteht und die übrigen Spieler in ihren Zeugenaussagen nicht ganz sicher sind, so bleibt der Dieb sehr oft im Besitz des fremden Geldes – d. h. wenn die Summe nicht gar so groß war. – Die großen Einsätze werden in der Regel von den Croupiers oder den übrigen Spielern und Zuschauern mehr beachtet. Ist aber die Summe nicht so groß, so verzichtet ihr wirklicher Besitzer sehr oft auf eine Fortsetzung des Streites, da ihm ein Skandal zu unangenehm ist, und er verläßt den Tisch. Gelingt es aber, den Dieb zu überführen, so wird er unter großem Trubel von den Polizeibeamten hinausgeschafft.

Alles das sah sich die Babuschka aus der Ferne mit gespanntem Interesse an. Es gefiel ihr sehr, daß die Diebe abgeführt wurden. Trente et quarante fand bei ihr kein besonderes Interesse; besser gefiel ihr das Roulette und am besten die weiße kleine Kugel, und daß sie sich drehte. Endlich wünschte sie jedoch, das Spiel sich aus der Nähe genauer anzusehen.

Ich weiß selbst nicht, wie es zuging, aber den angestellten und den freipraktizierenden Dienern – letztere sind vornehmlich Polen, die ihr Geld verspielt haben und nun glücklichen Spielern oder Ausländern ihre Dienste aufdrängen – gelang es jedenfalls im Augenblick, trotz des Gedränges, neben dem Hauptcroupier, der an der Mitte des Tisches sitzt, Platz zu schaffen, und ehe ich mich dessen versah, wurde auch schon ihr Stuhl dorthin geschoben. Sogleich drängten sich viele Zuschauer, die sich der Kuriosität halber in den Spielsälen aufhielten, ohne selbst zu spielen – meist Engländer mit ihren Familien – von allen Seiten an den Tisch heran, um die alte Dame zu betrachten. Unzählige Lorgnons richteten sich auf sie. Die Croupiers schöpften Hoffnung: eine so absonderliche Spielerin verhieß ja wirklich etwas Außergewöhnliches. Freilich, eine fünfundsiebzigjährige Dame, die trotz halber Lähmung noch zu spielen wünschte – das war allerdings nichts Alltägliches. Ich drängte mich gleichfalls an den Tisch und blieb neben ihrem Stuhl stehen. Potapytsch und Marfa waren ganz von uns fortgedrängt worden und standen irgendwo wie verlassen unter den vielen Menschen. Der General, Polina, de Grillet und Mademoiselle Blanche hielten sich gleichfalls unter den Zuschauern auf, doch absichtlich weiter von uns entfernt.

Die Babuschka begann zuerst, die Spieler zu betrachten. Und natürlich folgten dann wieder ihre plötzlichen Fragen, die sie mir schnell und halblaut zuflüsterte. „Wer ist dieser dort? Und wer ist jene?“ Am meisten gefiel ihr ein ganz junger Mensch, der am Ende des Tisches saß und sehr hoch spielte: er setzte zu Tausenden und hatte, wie man ringsum flüsterte, schon gegen vierzigtausend Francs gewonnen, die in einem ganzen Haufen von Gold und Banknoten vor ihm lagen. Er war bleich; seine Augen glänzten fieberhaft und seine Hände zitterten. Er setzte bereits ohne jede Berechnung, setzte, soviel die Hand griff, und immer noch gewann er und gewann er und scharrte das Geld zusammen. Die Diener behandelten ihn wie ihren Augapfel, waren unermüdlich in ihren Dienstleistungen, schleppten ihm sogar einen Sessel herbei und hielten ihm die anderen vom Leibe, damit er es bequemer habe – alles das, versteht sich, in Erwartung gemünzter Dankbarkeit. Es geben ihnen nämlich die meisten Spieler, wenn sie größere Summen gewonnen haben, beim Fortgehen in der Freude über den Gewinn reichen Lohn für diese kleinen Dienstleistungen, gewöhnlich so viel, wieviel die Hand aus der Tasche zieht. Deshalb hatte sich auch neben diesem ununterbrochen, doch untertänigst etwas zuflüsterte jungen Menschen schon einer von den bewußten Polen eingefunden, der sich nun nach Kräften mühte und ihm – wahrscheinlich riet er ihm, wie er spielen solle – selbstverständlich gleichfalls in Erwartung eines Almosens! Doch der Spieler sah ihn kaum, und setzte planlos, achtlos, wirr – und gewann immer noch. Ich glaube, er war sich seiner Handlungen kaum noch bewußt.

Die Babuschka betrachtete ihn eine Weile regungslos. Plötzlich stieß sie mich ganz erregt an und flüsterte mir schnell zu:

„Sag ihm, sag ihm, daß er fortgehen soll, daß er sein Geld nehmen und fortgehen soll, schnell, schnell, sag’s ihm doch! Er wird es verlieren, er wird sofort alles verlieren, so geh doch! – Wo ist Potapytsch? Schick Potapytsch zu ihm! Schnell! Aber so sag’s ihm, so sag’s ihm doch!“ Und sie stieß mich immer heftiger, damit ich ging. „Wo ist Potapytsch? Sortez! Sortez!“ begann sie selbst dem jungen Menschen zuzurufen. Ich beugte mich schnell zu ihr und flüsterte ihr scharf zu, daß man hier nicht so schreien dürfe, daß es nicht einmal erlaubt sei, etwas lauter als im Flüsterton zu sprechen, da fremdes Gespräch die Spieler in ihren Berechnungen störe, und daß man uns andernfalls sogleich hinausweisen würde.

„Ach, wie ärgerlich! Der Mensch ist verloren! Aber er will es ja selbst ... ich mag ihn nicht mehr ansehen, er bringt mich aus der Haut. Solch ein Tölpel!“ Und sie wandte sich geärgert von ihm fort und begann die Spieler an der anderen Hälfte des Tisches zu betrachten.

Dort an der linken Seite des Tisches fiel unter den Spielern namentlich eine junge Dame auf, neben der ein Zwerg stand. Wer dieser Zwerg war, das weiß ich nicht – vielleicht war es ein Verwandter von ihr, vielleicht nahm sie ihn nur so mit, um Aufsehen zu erregen. Diese Dame war mir auch früher schon aufgefallen. Sie erschien täglich um die Mittagszeit in den Spielsälen, gewöhnlich um ein Uhr, und um zwei Uhr ging sie wieder fort – nur eine Stunde spielte sie. Man kannte sie schon und verschaffte ihr sogleich einen Stuhl. Sie nahm dann aus ihrer Tasche etwas Geld, einige Tausendfrancs-Scheine und begann ruhig, kaltblütig, berechnend zu setzen, notierte sich mit ihrem Bleistift die Zahlen, die herauskamen, und bemühte sich, das System zu erraten, nach dem im gegebenen Augenblick die Chancen wechselten. Sie setzte ziemlich bedeutende Summen und gewann täglich ein-, zwei-, höchstens dreitausend Francs – nicht mehr, und sobald sie gewonnen hatte, ging sie fort. Der Babuschka fiel sie sogleich auf und sie betrachtete sie lange.

„Nun, diese dort wird sicherlich nicht verlieren! Nein, diese ganz gewiß nicht! Die ist die Richtige! – Weißt du nicht, wer sie ist?“

„Eine Französin wahrscheinlich, eine von jenen,“ flüsterte ich.

„Ah! Das sieht man! Man erkennt den Vogel schon am Flug; ja, die hat scharfe Krallen. So, und jetzt erkläre mir, was jede Drehung zu bedeuten hat und wie man setzen muß.“

Ich versuchte, so gut es ging, mich möglichst kurz zu fassen und ihr ungefähr die verschiedenen Kombinationen des Spiels, rouge et noir, pair et impair, manque et passe und die verschiedenen Bedeutungen der Zahlen zu erklären. Sie folgte sehr aufmerksam meiner Erläuterung, prägte sich die Hauptsachen ein, fragte zuweilen nochmals und schien alles gut zu behalten. Übrigens hatten wir die Beispiele vor Augen, was das Begreifen und Behalten wesentlich erleichterte. Die Babuschka war jedenfalls sehr zufrieden mit meiner Erklärung.

„Aber was bedeutet zéro? Dieser Croupier hier, der Krauskopf, rief soeben zéro! Und weshalb zieht er alles ein, sieh doch, alles was auf dem Tisch ist? Und den ganzen Haufen behält er für sich! Was hat denn das zu bedeuten?“

„Ja, zéro, Babuschka, ist der Gewinn der Bank. Wenn die Kugel auf zéro fällt, so gehören alle Einsätze der Bank, die dann niemandem etwas auszahlt.“

„So, das ist mir mal nett! Und ich erhalte gar nichts?“

„O, doch, Babuschka, aber nur, wenn Sie vorher auch auf zéro gesetzt haben, dann aber das fünfunddreißigfache Ihres Einsatzes.“

„Was, fünfunddreißigmal mehr? Und kommt das oft heraus? Warum setzen sie dann nicht auf zéro, die Dummköpfe?“

„Weil sechsunddreißig Chancen dagegen sind.“

„Unsinn! Potapytsch, Potapytsch! Wart, auch ich habe Geld bei mir, – hier!“ Sie zog aus ihrer Tasche einen zum Platzen vollen Geldbeutel hervor und entnahm ihm einen Friedrichsdor. „Da, setz ihn gleich auf zéro!“

„Aber zéro hat doch eben erst gewonnen,“ bemerkte ich, „jetzt wird es so bald nicht wieder gewinnen. Sie würden viel verlieren, wenn Sie jetzt schon anfangen wollten, auf zéro zu setzen. Warten Sie noch ein wenig.“

„Unsinn, tu, was ich dir sage!“

„Wie Sie wünschen, nur wird zéro vielleicht nicht vor dem Abend gewinnen und Sie können Tausende verlieren. Das ist schon vorgekommen.“

„Ach, Unsinn, sprich nicht! Wer den Wolf fürchtet, der gehe nicht in den Wald. Was? Verloren? Setz noch einmal!“

Auch der zweite Friedrichsdor wurde verspielt. Wir setzten den dritten. Die Babuschka konnte kaum ruhig bleiben und ihre Augen folgten wie gebannt der springenden Kugel. Und wir verloren auch den dritten. Die Babuschka war außer sich, sie saß wie auf Kohlen und klopfte sogar mit der Faust auf den Tisch, als der Croupier „trente six“ rief, anstatt des erwarteten zéro.

„Ach, das ist doch! ...“ ärgerte sie sich, „wird denn nicht endlich einmal diese elende Null herauskommen! Ich will nicht leben, wenn ich das nicht zurückgewinne! Ich bleibe hier bis zum zéro! Das macht ja doch alles dieser verwünschte Croupierbengel, der Krauskopf, dieser Elende! Der macht es absichtlich! Alexei Iwanowitsch, setze zwei Goldstücke auf zéro! Du setzt ja immer so wenig, daß man doch nichts bekäme, wenn es mal trifft!“

„Babuschka!“

„Setz, sag ich dir, setz! Ist nicht dein Geld.“

Ich setzte zwei Friedrichsdor. Die Kugel kreiste lange im Rad, endlich begann sie an den Zacken zu springen. Die Babuschka hielt den Atem an und preßte meine Hand wie mit einem Schraubstock, und plötzlich –

Zéro!“ rief der Croupier.

„Siehst du! siehst du!“ wandte sie sich hastig zu mir, strahlend vor Zufriedenheit. „Ich sagte dir doch! Muß mir doch Gott selbst eingegeben haben, zwei Goldstücke statt eines zu setzen! Nun, wieviel bekomme ich denn jetzt? Warum zahlen sie mir denn noch nicht aus? Potapytsch, Marfa, wo seid ihr denn alle? Wo sind die Unsrigen geblieben? Potapytsch! Potapytsch!“

„Babuschka, später!“ flüsterte ich ihr zu. „Potapytsch steht an der Tür, man läßt ihn gar nicht zum Tisch. Sehen Sie, da zahlt man Ihnen das Geld aus, nehmen Sie es!“

Man schob uns eine in blaues Papier eingeschlagene und versiegelte schwere Rolle zu, die fünfzig Friedrichsdor enthielt, und außerdem noch zwanzig Friedrichsdor, die der Croupier einzeln aufzählte. Alles das zog ich mit der Krücke näher zur Babuschka.

Faites le jeu, messieurs! Faites le jeu, messieurs! Rien ne va plus?“ rief der Croupier, um die Spieler zum Einsatz aufzufordern und bereits im Begriff, das Rad zu drehen.

„Mein Gott! Jetzt kommen wir zu spät! Gleich wird er drehen! So setz doch, setz doch!“ trieb mich die Babuschka an, „aber so trödel doch nicht! schneller!“ Sie geriet ganz aus dem Häuschen und stieß mich immer wieder an.

„Aber auf was denn, Babuschka?“

„Auf zéro, auf zéro! Wieder auf zéro! Setz so viel als möglich! Wieviel haben wir? Siebzig Friedrichsdor? Nichts da! Setze sie alle, aber immer zu zwanzig Friedrichsdor auf einmal.“

„Babuschka, besinnen Sie sich! Zéro kommt oft zweihundertmal nicht wieder! Ich versichere Sie, so können Sie Ihr ganzes Kapital verspielen!“

„Unsinn, schwatz nicht! Setz! Ich weiß, was ich tue!“ Sie zitterte am ganzen Körper.

„Nach der Vorschrift ist es nicht erlaubt, mehr als zwölf Friedrichsdor auf einmal auf zéro zu setzen,“ sagte ich, „so – und die habe ich jetzt gesetzt.“

„Wieso nicht erlaubt? Lügst du nicht etwa? Mßjö! Mßjö!“ wandte sie sich an den Croupier, der links neben ihr saß, und im Begriff war das Rad zu drehen, und sie stieß ihn mit dem Finger an, „combien zéro? Douze? Douze?

Ich beeilte mich, die Frage im Französischen verständlich zu erläutern.

Oui, madame,“ bestätigte der Croupier höflich, „ganz wie auch jeder andere Einsatz nicht die Höhe von viertausend Florins überschreiten darf – der Vorschrift gemäß,“ fügte er zur Erklärung hinzu.

„Nun, nichts zu machen, dann setz nur zwölf.“

Le jeu est fait!“ rief der Croupier.

Das Rad drehte sich und es kam Dreizehn heraus. Wir hatten verloren.

„Noch! noch! noch! Setz noch einmal auf zéro!“

Ich widersprach nicht mehr, zuckte nur mit der Achsel und setzte nochmals zwölf Friedrichsdor auf zéro.

Das Rad drehte sich sehr lange. Die Babuschka bebte am ganzen Leibe und ihr Blick folgte wie gebannt der Kugel. „Sollte sie wirklich glauben, daß jetzt zéro gewinnen wird?“ fragte ich mich, indem ich sie ganz verwundert betrachtete. In ihrem Gesicht las ich die unerschütterliche Überzeugung, daß sie gewinnen, daß der Croupier jetzt gleich, im nächsten Augenblick, zéro rufen werde.

Die Kugel sprang in ein Fach.

Zéro!“ rief der Croupier.

„Was!“ wandte sich mit triumphierender Genugtuung die Babuschka strahlend nach mir um.

Ich bin selbst ein Spieler. Das fühlte ich in diesem Augenblick. Meine Hände und Füße zitterten, in meinem Gehirn hämmerte es. Natürlich war es nur ein seltener Zufall, daß von etwa zehn Spielen dreimal zéro gewann; doch war es schließlich nichts gar so Verwunderliches. Ich hatte es noch vor drei Tagen erlebt, daß zéro dreimal nach der Reihe herauskam, und bei der Gelegenheit bemerkte einer der Spieler, der sich eifrig alles notierte, daß während des ganzen vorigen Tages zéro nur ein einziges Mal herausgekommen sei.

Der Babuschka wurde der Gewinn, da er der größte war, ganz besonders aufmerksam und höflich ausgezahlt. Sie erhielt vierhundert und zwanzig Friedrichsdor, also viertausend Florins und zwanzig Friedrichsdor. Die zwanzig Friedrichsdor zahlte man ihr in Gold aus, die viertausend Florins in Banknoten.

Diesmal rief sie nicht mehr nach Potapytsch; sie war jetzt mit anderem beschäftigt. Und auch äußerlich zitterte sie weder noch stieß sie mich wie zuvor. Ihre Gedanken schienen vollkommen konzentriert zu sein, nichts hätte sie mehr ablenken können.

„Alexei Iwanowitsch! Er sagte, daß man nicht mehr als viertausend Florins auf einmal setzen darf? Hier, nimm, setz diese ganzen vier auf Rot.“

Ich sparte mir die vergebliche Mühe, ihr zu widersprechen. Das Rad begann sich zu drehen.

„Rouge!“ rief der Croupier.

Wieder ein Gewinn von viertausend Florins, im ganzen waren es jetzt acht.

„Vier gib mir her, die anderen vier aber setz wieder auf Rot!“ kommandierte die Babuschka.

Ich setzte wieder viertausend Florins.

„Rouge!“ rief wieder der Croupier.

„Das macht im ganzen zwölf! Gib sie mir alle her. Das Gold schütte hierher, so, in den Beutel, das Papiergeld bewahre du auf. So! Basta! Nach Haus jetzt! Schiebt den Stuhl fort!“

XI.

Der Stuhl wurde zum Ausgang am anderen Ende des Saales gerollt. Die Babuschka strahlte.

Die Unsrigen drängten sich jetzt sogleich mit Glückwünschen zu ihr und belagerten sie förmlich. So exzentrisch das Benehmen der alten Dame war – ihr Triumph am Spieltisch machte doch alles wieder gut, und so befürchtete denn auch der General nicht mehr, sich durch verwandtschaftliche Beziehungen zu dieser originellen alten Dame zu kompromittieren. Mit einem familiär-heiteren und sozusagen nachsichtigen Lächeln, als gälte es, ein Kind zu beruhigen, näherte er sich ihr und gratulierte zum Gewinn. Übrigens war er sichtlich verblüfft, wie es auch alle anderen Zuschauer zu sein schienen. Wenigstens sprach man ringsum nur von ihr und alle sahen sich nach ihr um oder deuteten mit dem Blick auf sie hin. Viele gingen sogar an ihr vorüber, um sie näher zu betrachten. Mister Astley, der mit zwei Engländern, seinen Bekannten, etwas abseits stand, sprach mit diesen gleichfalls von ihr. Einige majestätische Damen musterten sie mit Verwunderung, als wäre sie etwas noch nie Dagewesenes ... De Grillet zerging nur so in lächelnden Bonmots und Komplimenten.

Quelle victoire!“ rief er aus.

Mais, madame, c’était du feu!“ fügte mit bezauberndem Lächeln Mademoiselle Blanche hinzu.

„Ja, seht ihr mal, da habe ich im Handumdrehen zwölftausend Florins gewonnen! Was sage ich zwölf! – und das Gold? Mit dem Golde zusammen werden es fast ganze dreizehn sein. Wieviel ist das nach unserem Gelde? So an sechstausend wird’s sein, nicht?“

Ich sagte, daß es auch siebentausend übersteige und nach dem gegenwärtigen Kurs vielleicht nicht viel an achttausend Rubel fehlten.

„Spaß! Achttausend! Und ihr sitzt hier wie die Schlafmützen und tut nichts! Potapytsch, Marfa, habt ihr gesehen?“

„Mütterchen! Achttausend Rubel! Du meine Güte, wie macht man das?“ rief Marfa aus, die ganz geknickt die Hände zusammenschlug.

„Hier, nehmt, hier habt ihr von mir fünf Goldstücke, hier!“

Potapytsch und Marfa wußten kaum, wie ihnen geschah, und küßten ihr die Hände.

„Und die Träger müssen auch jeder einen Friedrichsdor erhalten. Gib ihnen, Alexei Iwanowitsch, gib jedem ein Goldstück. – Was will der, was ist er? – ein Diener? Warum grüßt er und der andere auch? Ah, sie wollen gratulieren! Gib auch ihnen einen Friedrichsdor, jedem einen.“

Madame la princesse ... un pauvre expatrié ... malheur continuel ... les princes russes sont si généreux ...“ murmelte unter fortgesetzten Bücklingen eine Gestalt in einem ziemlich schäbigen Überrock, bunter Weste, die Mütze in der Hand und mit einem kriechenden Lächeln unter dem Schnurrbart.

„Gib ihm auch einen Friedrichsdor ... Nein, gib ihm zwei! Nun, genug jetzt, sonst nimmt das überhaupt kein Ende. Nun, vorwärts, vorwärts! Praskowja,“ wandte sie sich an Polina Alexandrowna, „ich werde dir morgen ein Kleid kaufen und dieser meinetwegen auch, dieser Mademoiselle – wie heißt sie, Mademoiselle Blanche, nicht, so war’s doch? – Die soll auch ein Kleid bekommen. Übersetz ihr das, Praskowja!“

Merci, madame,“ dankte Mademoiselle Blanche mit einer graziösen Verbeugung und einem spöttischen Lächeln, während sie mit de Grillet und dem General flüchtig einen Blick austauschte. Letzterer wurde nach diesem Blick sehr verlegen und atmete auf, als wir endlich in der Allee anlangten.

„Fedossja, wie sich Fedossja jetzt wundern wird!“ entsann sich die Babuschka plötzlich der Kinderfrau. „Auch ihr muß ich Zeug zu einem Kleide schenken. Du, Alexei Iwanowitsch, Alexei Iwanowitsch, gib diesem Armen!“

Irgend ein heruntergekommenes Subjekt in zerlumpter Kleidung ging an uns vorüber und sah uns an.

„Das ist vielleicht gar kein Armer, sondern nur so ein Strolch, Babuschka.“

„Gib nur, gib! Gib ihm einen Gulden.“

Ich ging ihm nach und gab ihm einen Gulden. Er sah mich ganz verständnislos an, nahm aber doch schweigend den Gulden in Empfang. Er roch nach Branntwein.

„Und du, Alexei Iwanowitsch, hast du dein Glück noch nicht versucht?“

„Nein, noch nicht, Babuschka.“

„Und dabei blitzten deine Augen nur so – glaubst du, ich habe es nicht bemerkt?“

„Ich werde schon noch mein Glück versuchen, aber später.“

„Und setze unbedingt auf zéro! Du wirst sehen. Wieviel Geld hast du?“

„Im ganzen nur zwanzig Friedrichsdor, Babuschka.“

„Das ist nicht viel. Wenn du willst, werde ich dir fünfzig Friedrichsdor leihen. Nein, nimm gleich diese Rolle. Du aber, Väterchen, brauchst deshalb noch längst nicht zu glauben, daß du auch was erhältst! Dir geb ich nichts!“ wandte sie sich von mir zum General.

Es ging ihm, wie mir schien, durch Mark und Bein, aber er sagte nichts. De Grillet ärgerte sich.

Que diable, c’est une terrible vieille!“ stieß er unwirsch zwischen den Zähnen hervor. Er ging neben dem General.

„Ein Armer, ein Armer, sieh, dort kommt wieder ein Armer!“ rief die Babuschka. „Alexei Iwanowitsch, gib auch diesem einen Gulden.“

Diesmal war es ein Greis mit silberweißem Haar, einem Stelzfuß, einem altmodischen Stock in der Hand und in einem dunkelblauen langen Rock. Er sah aus wie ein alter Soldat. Als ich ihm aber den Gulden geben wollte, trat er einen Schritt zurück und maß mich mit zornigem Blick.

„Was soll das, zum Teufel!“ rief er und es folgte noch eine Reihe von Kraftausdrücken.

„Nun, nun! Solch ein Dummkopf!“ rief die Babuschka, „nun, dann nicht! Vorwärts! Ich bin hungrig. Jetzt können wir sogleich zu Mittag speisen, dann lege ich mich ein wenig hin, und dann kehren wir zurück.“

„Was, Sie wollen noch weiterspielen, Babuschka!“ rief ich.

„Ja, was meinst du dazu? Soll ich denn, bloß weil ihr hier alle sauert, gleichfalls nichts tun und euch immerzu ansehn?“

Mais, madame,“ legte sich de Grillet ins Mittel, „les chances peuvent tourner, une seulè mauvaise chance et vous perdrez tout ... surtout avec votre jeu ... c’était terrible!

Vous perdrez absolument,“ pflichtete ihm Mademoiselle Blanche schleunigst bei.

„Was geht denn das euch an? Nicht euer Geld werde ich verspielen, sondern meines! Aber wo ist dieser Mister Astley geblieben?“ fragte sie mich.

„Er blieb im Kursaal, Babuschka.“

„Schade; seht, das ist ein guter Mensch.“

Kaum waren wir im Hotel angelangt, da tauchte auch schon der Hotelverwalter vor uns auf, den die Babuschka sogleich zu sich heranwinkte, um sich ihres Glückes im Spiel zu rühmen. In ihrem Zimmer war das erste, was sie tat, daß sie Fedossja rufen ließ, der sie drei Friedrichsdor schenkte. Dann wünschte sie zu essen. Fedossja und Marfa schwammen in Seligkeit, während sie sie bedienten.

„Ach, Mütterchen,“ schnatterte Marfa, „das war wohl! ... Wie ich da so stand, sagte ich zu Potapytsch, was will denn unser Mütterchen dort machen? Auf dem Tisch aber liegt Geld und Gold und Silber – Himmel ... wie viel! In meinem ganzen Leben habe ich nicht soviel Geld gesehen, und ringsum sind alles nur Herrschaften, lauter Herrschaften! Und woher kommen sie nur, frage ich den Potapytsch, alle die vielen feinen Leute? Und ich denke noch so bei mir: mag ihr nur immer die heilige Mutter Gottes beistehen! Und da betete ich für Sie, Mütterchen, mein Herz aber wurde ganz schwach und ganz flau wurde mir zumute. Steh ihr nur immer bei, Gottchen, denke ich so bei mir, und da hat Ihnen denn auch Gott dies große Glück geschenkt! Ach du mein Himmelchen, wenn ich denke! Ich zittere eben noch, Mütterchen, sehen Sie nur, wie ich zittere! ...“

„Alexei Iwanowitsch, nach dem Essen – so um vier – mach dich bereit, dann gehen wir wieder. Jetzt aber kannst du vorläufig gehn, wohin du willst. Vergiß nur nicht, mir einen Arzt herzuschicken, man muß doch auch Brunnen trinken. Sieh nur zu, daß du es nicht vergißt!“ rief sie mir noch nach.

Ich verließ sie wie betäubt. Obschon ich nicht denken wollte, beschäftigten sich meine Gedanken doch unausgesetzt mit der Vorstellung, was jetzt aus den Unsrigen werden würde. Ich sah es ja deutlich, daß sie alle, namentlich aber der General, noch gar nicht so recht zu sich gekommen waren, nicht einmal vom ersten Schreck hatten sie sich erholt! Die Tatsache des Erscheinens der Großmutter anstatt des stündlich erwarteten Eintreffens der Todesnachricht – die doch gleichbedeutend gewesen wäre mit der Anzeige der Erbschaft – hatte alle ihre Pläne, Hoffnungen und Berechnungen so über den Haufen geworfen, daß sie sich, wie unter dem Bann völliger Gedankenlähmung, zu den weiteren Heldentaten der Babuschka am Spieltisch fast ganz apathisch verhielten. Indessen war aber diese zweite Tatsache, daß die Babuschka zu spielen begonnen, doch fast noch schlimmer als die erste, denn wenn sie auch zweimal gesagt hatte, daß sie dem General kein Geld geben werde, so konnte man doch nichts Näheres wissen, und brauchte deshalb noch nicht jede Hoffnung aufzugeben. Gab doch auch de Grillet die Hoffnung noch nicht auf, und Mademoiselle Blanche, die an der Sache wohl nicht minder interessiert war – das fehlte noch: Titel einer Generalin und die ganze große Erbschaft! – Mademoiselle Blanche tat’s erst recht nicht, wandte vielmehr alle Mittel der Koketterie an, um die Babuschka sich wenigstens geneigt zu machen ... sehr im Gegenteil zu Polina, der der Hochmutsteufel im Nacken saß und die sich wohl nie zu Einschmeichlungsversuchen herablassen würde. Aber jetzt, jetzt, nachdem die Babuschka mit so viel Glück gespielt, jetzt, nachdem sich ihr Charakter so typisch und scharf vor ihnen enthüllt hatte – mein Gott, die und tombée en enfance! – jetzt, ja, jetzt war allerdings alles verloren. Freute sie sich doch wie ein Kind über ihren Gewinn, folglich aber würde sie – das ist nun einmal so – alles verspielen. „Mein Gott,“ dachte ich, und – verzeih mir, Grundgütiger! – mit herzlich schadenfrohem Lachen dachte ich’s, „mit welch einer Zentnerschwere muß doch jeder Friedrichsdor, den die Alte vorhin aufs Spiel setzte, dem General aufs Herz gefallen sein, wie muß de Grillet geflucht und Mademoiselle Blanche, die äußerlich lächelnde, innerlich gerast haben, als sie zusehen mußte, wie der Löffel so an ihrem Munde vorübergeführt wurde!“

Und dann noch etwas Bedeutsames: selbst in der Freude über den Gewinn, als die Babuschka jedem Strolch und Bettler Goldstücke schenkte, selbst dann noch hatte sie den General angefahren mit ihrem „Dir aber gebe ich doch nichts!“ Das sagte ungefähr: „Ich will nicht, habe es mir so vorgenommen und so bleibt es, Punktum!“ Fatal! Höchst fatal!

Ich stieg gerade die breite Treppe hinauf, um mich in mein Zimmer zu begeben, als mir alle diese Gedanken durch den Kopf gingen. Ich muß sagen, daß mich diese ganze Komödie, die sich hier vor meinen Augen abspielte, mehr denn je interessierte oder vielmehr erst jetzt wirklich zu interessieren begann. Freilich habe ich auch früher schon die dicksten Fäden, die die Schauspieler dieser Komödie untereinander verbinden, zum Teil erraten können, aber hinter die Kulissen habe ich doch noch nicht gesehen – und so sind mir auch die Geheimnisse des Spiels bisher unbekannt geblieben. Polina hat mir ja nie ihr ganzes Vertrauen geschenkt. Mitunter, ja, hat sie mir allerdings ihr Herz halbwegs verraten, aber im nächsten Augenblick zog sie dann das Gesagte doch wieder ins Scherzhafte oder sie verwirrte alles dermaßen, daß nichts mehr glaubhaft klang. O, sie verbarg mir vieles! Jedenfalls aber fühlte ich in diesem Augenblick, daß das Ende dieser ganzen unhaltbaren Situation mit ihrer nervösen Spannung, die von der allgemeinen Geheimnistuerei noch erhöht wurde, herannahte. Noch ein Schlag, und alles wird aufgedeckt und beendet sein! Um mein eigenes Schicksal, das doch im Grunde mit dem der anderen mehr oder weniger zusammenhing, machte ich mir so gut wie gar keine Sorgen. Und auch jetzt noch, wirklich, ich vermag mir meine Stimmung kaum selbst zu erklären: ich habe kaum zwanzig Friedrichsdor in der Tasche, befinde mich weit von der Heimat und ganz allein in einem fremden Lande, ohne Stelle und ohne Mittel zur Existenz, ohne Hoffnung und ohne Zukunftspläne und – mache mir überhaupt keine Sorgen deshalb! Wären die qualvollen Gedanken an Polina nicht, so würde ich mich ganz meinem Interesse für die Komik der bevorstehenden Lösung hingeben und würde lachen, aus vollem Halse schallend lachen! Aber der Gedanke an Polina verwirrt mich. Ihr Schicksal entscheidet sich jetzt. Doch, offen gestanden, nicht ihr Schicksal beunruhigt mich. Ich will nur in ihr Geheimnis eindringen. Ich wünschte, sie käme zu mir und sagte: „Ich liebe dich doch,“ wenn das aber nicht geschah, wenn diese Verrücktheit undenkbar war, dann ... nun, was sollte ich dann wünschen? Weiß ich denn, was ich wünschen soll? Ich bin doch wie haltlos, wie verloren, habe jeden Stützpunkt eingebüßt: nur bei ihr möchte ich sein, in dem Licht, das von ihr ausgeht und sie wie eine Aureole umgibt, nur bei ihr sein, immer, ewig, mein ganzes Leben lang! Das ist alles, was ich weiß! Und könnte ich denn überhaupt von ihr fortgehen?

Im dritten Stock mußte ich durch den Korridor gehen, an dem ihre Zimmer liegen. Da war es mir plötzlich, als habe mich im Augenblick etwas gestoßen. Ich sah mich um und erblickte etwa zwanzig oder mehr Schritte von mir entfernt Polina, die gerade aus der Tür ihres Zimmers trat. Es schien mir, als habe sie hinter der Tür auf mich gewartet, denn sie winkte mich sogleich zu sich.

„Polina Alexandrowna ...“

„Leise!“ flüsterte sie.

„Stellen Sie sich vor,“ flüsterte ich, „es war mir soeben, als habe mich jemand berührt, und wie ich mich umblickte – sah ich Sie! Es scheint ja von Ihnen geradezu Elektrizität auszugehen!“

„Nehmen Sie diesen Brief,“ sagte Polina, die besorgt und unmutig aussah und meine Bemerkung wohl ganz überhört hatte, „und übergeben Sie ihn Mister Astley persönlich. Gehen Sie jetzt gleich, so schnell als möglich, ich bitte Sie. Eine Antwort ist nicht nötig. Er wird selbst ...“

Sie stockte.

„An Mister Astley?“ fragte ich verwundert.

Doch Polina war schon hinter der Tür verschwunden.

„Aha, also sie korrespondieren bereits!“

Natürlich beeilte ich mich sogleich, Mister Astley aufzusuchen. Ich ging zuerst in sein Hotel, wo ich ihn nicht antraf, ging dann ins Kurhaus, wo ich ihn in allen Sälen suchte, doch ohne ihn zu finden. Ärgerlich, fast sogar wütend, wollte ich mich in unser Hotel zurückbegeben – da traf ich ihn endlich unterwegs: er ritt in Gesellschaft mehrerer englischen Herren und Damen. Ich winkte ihn zu mir heran und übergab ihm den Brief. Wir hatten kaum Zeit, einen Blick auszutauschen. Ich vermute aber, daß Mister Astley absichtlich seinem Pferde die Sporen gab, um schneller fortzukommen.

Quälte mich Eifersucht? Ich weiß es selbst nicht; ich weiß nur, daß ich in der niedergedrücktesten Stimmung war und mich nicht einmal vergewissern wollte, worüber sie korrespondierten. Also ihr Vertrauensmann! „Freund hin, Freund her,“ dachte ich, „aber wann hat er denn Gelegenheit gehabt, es zu werden? Und die Hauptsache: ist hier nicht doch Liebe im Spiel? ... Natürlich nicht!“ flüsterte mir meine Vernunft zu. Aber Vernunft pflegt ja in solchen Fällen kaum maßgebend zu sein. Also mußte ich mir auch hierüber noch Aufklärung verschaffen. Die Geschichte verkomplizierte sich in unangenehmer Weise.

Kaum hatte ich das Hotel wieder betreten, als mir sogleich der Portier aus seiner Loge und nach ihm auch der Hotelverwalter entgegentraten und mir mitteilten, daß der General mich zu sprechen wünsche und schon dreimal habe fragen lassen, wo ich sei. Er lasse mich bitten, mich unverzüglich zu ihm zu begeben. Das verdarb mir endgültig meine Stimmung, die ohnehin nichts weniger als freundlich war.

Im Kabinett des Generals traf ich außer ihm selbst noch Monsieur de Grillet und Mademoiselle Blanche an – ohne madame veuve de Cominges. Entschieden ist diese nichts als ein Dekorationsmöbel, das nur zu Paradezwecken dient! Wird die Sache einmal ernst, so agiert Mademoiselle Blanche allein. Und es ist auch kaum anzunehmen, daß jener von ihrer sogenannten Tochter jemals ein Einblick in die Karten gestattet worden ist.

Sie mußten übrigens alle drei über sehr wichtige Dinge verhandelt haben – sogar die Tür hatten sie abgeschlossen, was sonst noch nie geschehen war. Als ich mich der Tür näherte, hörte ich laute Stimmen erregt durcheinander sprechen: de Grillets ölige Sprechweise mit all ihren frechen und boshaften Nuancen, die im Zorn fast kreischende Stimme der Mademoiselle Blanche, die sich sogar in Schimpfwörtern zu ergehen schien, und dazwischen die kleinlaute und schuldbewußte Stimme des Generals, der sich offenbar gegen die Vorwürfe der anderen zu verteidigen und zu rechtfertigen suchte. Bei meinem Erscheinen verstummten sie alle ganz plötzlich und nahmen sich zusammen. De Grillet strich sich mit der Hand mehrfach übers Haar und machte aus seinem wütenden Gesicht ein lächelndes – verzog es zu jenem widerlichen, offiziell-höflichen, französischen Lächeln, das mir so maßlos verhaßt ist. Der General, der im ersten Augenblick noch ganz schuldbewußt und halb vernichtet aussah, räusperte sich und warf sich wieder in Positur. Aber er tat es doch etwas mechanisch, fast wie geistesabwesend. Nur Mademoiselle Blanche veränderte kaum ihre zornige Miene und begnügte sich damit, zu verstummen. Sie sah mich wie in ungeduldiger Erwartung an. Ich muß hier bemerken, daß sie sich bis dahin ganz unglaublich nachlässig gegen mich benommen hatte, sogar meine Verbeugungen pflegte sie kaum mit einem Kopfnicken zu quittieren, – sie übersah mich einfach.

„Alexei Iwanowitsch,“ begann der General in milde-vorwurfsvollem Tone, „gestatten Sie, daß ich Sie darauf aufmerksam mache, wie sonderbar, wie im höchsten Grade sonderbar ... äh, hm! ... mit einem Wort, Ihr Verhalten gegen mich und meine Familie ... Kurz, ich muß Ihnen gestehen, daß ich es mehr als sonderbar empfinde ...“

„Eh! ce n’est pas ça,“ unterbrach ihn ärgerlich und mit einem verächtlichen Seitenblick de Grillet. Der war hier offenbar schon Herr und Meister! „Mon cher monsieur, notre cher général se trompe,“ und so weiter, und so weiter in französischen Phrasen. Der Sinn war der, daß der General sich im Ton vergriffen habe, er wolle mir nur sagen – „das heißt, Sie nur warnen, oder richtiger, Sie aufrichtig bitten, ihn nicht zugrunde zu richten ... nun ja, eben wie gesagt, nicht zugrunde zu richten! Ich drücke mich mit Absicht so aus ...“

„Aber inwiefern tue ich denn das?“ unterbrach ich ihn.

„Aber ich bitte Sie, Sie haben es übernommen, der ... manager – oder wie soll ich es sonst nennen? – dieser Alten, de cette pauvre terrible vieille zu sein ...“ De Grillet geriet selbst etwas aus dem Konzept. „Aber sie wird doch so alles verspielen, alles, bis aufs Letzte! Sie haben doch selbst gesehen, Sie waren doch Augenzeuge, wie sie spielte! Wenn sie erst einmal zu verlieren beginnt, wird sie den Spieltisch überhaupt nicht mehr verlassen, ich versichere Sie! Aus Eigensinn wird sie nicht fortgehen, aus Wut, und sie wird spielen und spielen – und da man hin und wieder auch gewinnt, so ... so ...“

„So richten Sie damit die ganze Familie zugrunde!“ half ihm der General. „Ich und meine Familie – wir sind ihre Erben, nähere Verwandte hat sie nicht. Und ich will Ihnen ganz aufrichtig sagen: meine Verhältnisse sind eben derart ... mit einem Wort, sie sind durchaus nicht so, wie ich wünschte, daß sie wären. Sie wissen es ja selbst ... Zum Teil, wenigstens. Wenn sie nun hier eine bedeutende Summe verspielt oder gar ihr ganzes Vermögen – Gott behüte uns davor! – was soll dann aus ... meinen Kindern werden!“ – Er sah sich nach de Grillet um – „und ... und aus mir!“ – sein Blick suchte Mademoiselle Blanche, die sich mit Verachtung von ihm abwandte. „Alexei Iwanowitsch, retten Sie uns, retten Sie uns! ...“

„Aber ich bitte Sie, General, inwiefern könnte ich hier ... Was habe ich hier überhaupt zu sagen?“

„Weigern Sie sich, weigern Sie sich, helfen Sie ihr nicht, verlassen Sie sie!“

„Dann wird sich ein anderer finden ...“

Ce n’est pas ça, ce n’est pas ça!“ unterbrach uns wieder de Grillet, – „que diable! Nein, verlassen Sie sie nicht, aber versuchen Sie, oui, versuchen Sie wenigstens, sie zu bereden, sie abzulenken, sie zurückzuhalten ... Enfin ... lassen Sie sie wenigstens nicht gar zu viel verspielen, lenken Sie sie irgendwie vom Spiel ab!“

„Vielleicht geben Sie mir auch einen Rat, wie ich das machen könnte? Aber wie wäre es, Monsieur de Grillet, wenn Sie es selbst versuchen wollten?“ fragte ich möglichst harmlos.

Da bemerkte ich einen schnellen fragenden Blick, den Mademoiselle Blanche de Grillet zuwarf. In seinem Gesicht ging eine seltsame Veränderung vor sich, fast als wolle er einmal aufrichtig sein.

„Das ist es ja, daß sie mich jetzt nicht ...“ Er schnippte ärgerlich mit den Fingern. „Wenn ... später vielleicht ...“

De Grillet sah plötzlich mit einem bedeutsamen Blick zu Mademoiselle Blanche hinüber.

„Oh, mon cher monsieur Alexis, soyez si bon!“ bat mich plötzlich Mademoiselle Blanche, auf mich zutretend – daß sie sich dazu herabließ! – „soyez si bon!“ und sie ergriff sogar meine beiden Hände und drückte sie herzlich. Teufel! Dieses diabolische Gesicht konnte sich in einer einzigen Sekunde verändern! In diesem Augenblick hatte sie ein so flehendes, so liebes, kindlich lächelndes und schelmisches Kindergesicht! Und zum Schluß zwinkerte sie mir plötzlich noch spitzbübisch zu – ganz heimlich, so daß die anderen es nicht sahen. Sie wollte mich wohl in einer einzigen Minute umgarnen! Sie verstand es gut, nur – war es doch scheußlich gemein.

Sogleich eilte auch der General herbei.

„Alexei Iwanowitsch, verzeihen Sie, daß ich vorhin so ... etwas unwirsch begann, es war ja aber gar nicht so gemeint! Ich bitte Sie, ich bitte Sie inständig, ich flehe Sie an! – Sie allein, nur Sie allein können uns retten! Ich und Mademoiselle de Cominges bitten Sie von ganzem Herzen – Sie begreifen doch, Sie verstehen doch?“ flehte er, mit dem Blick vielsagend auf Mademoiselle Blanche weisend. Kläglich war es!

Da wurde plötzlich dreimal respektvoll leise an die Tür gepocht; wir machten auf – es war ein Hoteldiener – einige Schritte hinter ihm stand Potapytsch. Die Babuschka hatte sie gesandt. Sie sollten mich aufsuchen und sogleich zu ihr führen.

„Belieben sich zu ärgern,“ meldete Potapytsch zur Erklärung.

„Aber es ist doch erst halb vier.“

„Ja, aber die Gnädige konnten nicht einmal einschlafen, warfen sich von einer Seite auf die andere, dann standen sie plötzlich auf, verlangten in den Stuhl gehoben zu werden und daß man Sie rufe. Jetzt sind sie schon unten auf der Treppe ...“

Quelle mégère!“ verwünschte sie de Grillet.

In der Tat fand ich die Babuschka bereits unten auf der Treppe – ärgerlich vor Ungeduld, weil sie auf mich warten mußte. Sie hatte es nicht ausgehalten bis vier.

„Nun, hebt jetzt, vorwärts“ kommandierte sie und wir begaben uns wieder zum Spiel.

XII.

Die Stimmung der Babuschka war nicht gerade sonnig; sie war reizbar und ungeduldig. Das Roulette hatte ihr gründlich den Kopf verdreht. Alles andere war ihr jetzt gleichgültig, und überhaupt schien sie sehr zerstreut zu sein, oder richtiger, nur mit einem Gedanken beschäftigt. Unterwegs z. B. stellte sie keine einzige Frage von der Art, wie am Vormittage. Als ein höchst auffallendes Viergespann an uns vorübertrabte, hob sie wohl einmal die Hand und fragte: „Wer waren die?“ schien dann aber meine Antwort ganz zu überhören und sich wieder nur mit ihren eigenen Gedanken zu beschäftigen. Ihre Nachdenklichkeit aber unterbrach sie nur von Zeit zu Zeit durch hastige Bewegungen und Ausfälle. Als ich ihr kurz vor dem Kurhaus den Baron und die Baronin Wurmerhelm zeigte, die ich in ziemlicher Entfernung von uns erblickte, sah sie nur zerstreut hin, sagte gleichmütig „Ah?“ und wandte sich plötzlich nach Potapytsch und Marfa um, die hinter ihr gingen, und fuhr sie schroff an:

„Nun, weshalb kommt ihr denn mitgelaufen? Nicht jedesmal werd’ ich euch mitnehmen! Geht nach Haus! Du genügst mir vollkommen,“ wandte sie sich an mich, als jene schleunigst dienerten und froh zurückkehrten.

Im Spielsaal wurde die Babuschka bereits erwartet. Im Augenblick war derselbe Platz neben dem Croupier freigemacht. Ich glaube, daß diese Croupiers, die stets so ruhig scheinen, als ginge es sie nichts an, ob die Bank gewinnt oder verliert, im Grunde doch nichts weniger als gleichgültig dem Spiel gegenüber sind, gewiß auch einige Instruktionen in betreff der Anlockung der Spieler erhalten und sich für den Gewinn der Bank interessieren müssen – wofür ihnen wahrscheinlich Gratifikationen zuteil werden. Wenigstens schien es mir, daß sie die Babuschka bereits als ihr Opfer betrachteten. Und das, was sie und die Unsrigen erwarteten, geschah natürlich, und zwar folgendermaßen:

Die Babuschka wandte sich, wie vorauszusehen war, sogleich ihrem lieben zéro zu und befahl mir, zwölf Friedrichsdor zu setzen. Ich setzte einmal, noch einmal, und dann noch einmal – zéro kam nicht.

„Setze, setze“ drängte sie, vor Ungeduld mich stoßend. Ich gehorchte.

„Wieviel Mal haben wir schon gesetzt?“ fragte sie endlich, knirschend vor Ungeduld.

„Schon zwölfmal, Babuschka. Hundertundvierundvierzig Friedrichsdor haben wir verloren. Ich sage Ihnen, bis zum Abend können Sie ja ...“

„Schweig!“ unterbrach sie mich kurz. „Setz auf zéro und zugleich auf Rot tausend Gulden. Wart, hier ist das Geld, nimm.“

Rot gewann, doch den Einsatz auf zéro verloren wir wieder. Viertausend Gulden wurden uns ausgezahlt.

„Siehst du, siehst du!“ flüsterte die Babuschka mir zu, „fast alles, was wir verloren haben, ist damit zurückgewonnen! Setz wieder auf zéro, noch zehnmal wollen wir auf zéro setzen, dann basta.“

Doch nach dem fünften Verlust hatte sie es satt.

„Ach, hol’ es der Kuckuck, dieses scheusälige zéro! Da, setze alle viertausend Gulden auf Rot!“ befahl sie.

„Babuschka! Das wird etwas zu viel sein; bedenken Sie doch, wenn nun Rot nicht gewinnt,“ versuchte ich sie zu bereden, aber die Babuschka hätte mich fast geprügelt. Tatsächlich stieß sie mich immer so unsanft, daß es gar nicht so ungeheuerlich klingt, von Schlägen zu reden. Es war nichts zu machen, ich setzte die vorher gewonnenen viertausend Gulden auf Rot. Das Rad drehte sich. Die Babuschka saß ruhig und stolz aufgerichtet da und zweifelte keinen Augenblick daran, daß der Croupier sogleich Rouge rufen werde.

Zéro!“ rief der Croupier.

Zuerst begriff sie gar nicht, was das bedeutete, als sie aber sah, daß der Croupier ihre viertausend Gulden und alles übrige Geld, das auf dem Tische lag, einzog, und als sie dann erst allmählich sich dessen bewußt wurde, daß dieses zéro, auf das wir fast zweihundert Friedrichsdor gesetzt und verloren hatten, nun so plötzlich herausgekommen war, gerade jetzt, nachdem sie es zum Kuckuck gewünscht und zum erstenmal nicht darauf gesetzt hatte, – da ächzte sie nur einmal auf und schlug die Hände zusammen, daß es im ganzen Saal zu hören war. Ringsum begann man zu lachen.

„Gott im Himmel! Und gerade jetzt, gerade jetzt mußte es herauskommen!“ Ganz verzweifelt war sie! „Solch ein Scheusal, solch ein nichtsnutziges Scheusal! Das ist deine Schuld! Daran bist du ganz allein schuld!“ wandte sie sich zornbebend wieder mit einem Stoß an mich. „Du, du hast mich dazu beredet!“

„Babuschka, ich habe ganz sachlich meine Meinung gesagt – ich kann nicht alle Chancen voraussehen!“

„Ich werde dir! ... Chancen!“ flüsterte sie zornig. „Mach, daß du fortkommst, marsch!“

„Adieu, Babuschka.“ Ich wandte mich zum Gehen.

„Alexei Iwanowitsch, Alexei Iwanowitsch, so bleib doch hier! Wohin? Nun, was fehlt dir, was fehlt dir? Ärgerst dich! Dummkopf! Nun, bleib noch hier, nun, ärgere dich nicht, ich bin selbst ein Dummkopf! Nun, sag, nun – was jetzt?“

„Nein, Babuschka, raten werde ich Ihnen nicht mehr, Sie werden mich doch wieder beschuldigen. Spielen Sie nach eigenem Gutdünken. Bestimmen Sie, ich werde setzen.“

„Nun nun! Nun, setze noch viertausend Gulden auf Rot! Hier ist die Brieftasche, nimm!“ Sie zog sie aus ihrer Tasche hervor und reichte sie mir. „Nun, mach aber schnell, hier sind zwölftausend Gulden in barem Gelde.“

„Babuschka,“ stotterte ich, „solche Einsätze ...“

„Ich will nicht leben, wenn ich es nicht wiedergewinne! ... Setze!“

Wir setzten und verloren.

„Noch, setz noch, setz alle acht!“

„Das geht nicht, der größte Einsatz ist viertausend! ...“

„Nun, dann setz viertausend!“

Diesmal gewannen wir. Die Babuschka lebte auf.

„Siehst du, siehst du!“ sagte sie und stieß mich wieder an, „setze wieder vier!“

Ich setzte – wir verloren. Dann verloren wir noch einmal und dann noch einmal.

„Babuschka, alle zwölftausend sind gegangen,“ meldete ich.

„Das sehe ich, daß sie gegangen sind,“ sagte sie, gewissermaßen wie in starrer Raserei, wenn man sich so ausdrücken darf, „das sehe ich, Väterchen, das sehe ich,“ murmelte sie, starr vor sich hinsehend und in Gedanken versunken, – „nein! und koste es mein Leben, setze noch viertausend Gulden!“

„Aber ich habe ja kein Geld mehr, Babuschka. Hier in der Brieftasche sind wohl noch fünfprozentige Wertpapiere und dann noch andere, aber bares Geld ist nicht mehr.“

„Aber im Portemonnaie?“

„Nur Kleingeld ist hier noch.“

„Gibt es hier in der Nähe eine Bank, wo man die Papiere verkaufen könnte? Man hat mir gesagt, daß hier alle unsere russischen Papiere angenommen werden,“ sagte sie entschlossen.

„O, gewiß! Aber was Sie dabei verlieren, das ... würde selbst einen Juden entsetzen!“

„Unsinn! Ich gewinne es wieder! Vorwärts! Ruf diese Tölpel her!“

Damit meinte sie die Träger.

Ich schob ihren Fahrstuhl vom Tisch fort, winkte die Träger herbei und wir verließen den Saal und das Kurhaus.

„Schneller, schneller, schneller!“ kommandierte die Babuschka.

„Geh du voran, Alexei Iwanowitsch, und zeige uns den Weg, aber den kürzesten, hörst du! ... ist es weit?“

„Keine zwei Schritte, Babuschka.“

Doch wie wir vom Square in die Allee einbiegen wollten, erblickten wir plötzlich unsere ganze Gesellschaft vor uns: den General, de Grillet und Mademoiselle Blanche mit ihrer Mutter. Polina Alexandrowna war nicht unter ihnen, ebensowenig Mister Astley.

„Nun? Nicht stehen bleiben!“ rief die Babuschka, „nun, was wollt ihr? Keine Zeit, keine Zeit, hier mit euch mich abzugeben!“

Ich trat hinter ihren Stuhl und gab de Grillet einen Wink; er verstand ihn sogleich und näherte sich mir schnell, doch unauffällig.

„Den ganzen Gewinn vom Vormittage und außerdem noch zwölftausend Gulden verspielt. Gehen jetzt, um Fünfprozentige flüssig zu machen,“ flüsterte ich ihm zu.

De Grillet stampfte mit dem Fuß auf und beeilte sich, den General davon in Kenntnis zu setzen. Wir gingen weiter.

„Halten Sie sie zurück, halten Sie sie zurück!“ flehte mich der General im Flüsterton an. Er sah ganz verzweifelt aus.

„Bitte, versuchen Sie, sie zurückzuhalten,“ antwortete ich ebenso leise.

„Tantchen!“ begann der General, neben ihren Stuhl tretend, „Tantchen ... wir werden sogleich ... sogleich ...“ – seine Stimme wurde unsicher und ängstlich – „Pferde mieten und Wagen und ins Grüne fahren ... Wundervolle Aussicht! ... von der Terrasse namentlich ... Wir kamen, um Sie aufzufordern, sich uns anzuschließen.“

„Ach, geh mir mit deinen Terrassen!“ trieb ihn die Babuschka mit einer ärgerlichen Handbewegung und in gereiztem Tone fort.

„Es ist dort ein Dorf in der Nähe ... wir werden dort Tee trinken ...“ fuhr der General mit dem Mut der Verzweiflung fort.

Nous boirons du lait ... sur l’herbe fraîche,“ fügte de Grillet hämisch hinzu.

Du lait, de l’herbe fraîche – das ist der Inbegriff alles dessen, was der Pariser Bourgeois an idyllischen Idealen besitzt. Es ist aber auch alles, was er unter „la nature et la vérité“ versteht!

„Ach, geh du nur mit deiner Milch! Trink sie selber, wenn du willst, ich bekomme davon Leibweh. Was wollt ihr eigentlich von mir?!“ fuhr sie sie gereizt an, „ich sage doch, ich habe keine Zeit!“

„Wir sind schon da, Babuschka, hier ist es.“

Wir waren vor dem Hause angelangt, in dem sich ein Bankkontor befand. Ich ging hinein, während die Babuschka vor dem Portal blieb. De Grillet, der General und Mademoiselle Blanche standen etwas weiter zurück und wußten nicht, was sie tun sollten. Die Babuschka sah sich einmal zornig nach ihnen um – da gingen sie die Allee zum Kurhaus zurück.

Mir wurde eine so unheimliche Berechnung vorgelegt, daß ich mich nicht entschließen konnte, darauf einzugehen, und ich kehrte zur Babuschka zurück, um sie zu fragen, was ich tun sollte.

„Ach, diese Räuber!“ rief sie, die Hände zusammenschlagend. „Nun, gleichviel! Wechsle!“ rief sie entschlossen. „Wart, ruf zuerst den Bankier her!“

„Vielleicht einen von den Angestellten, Babuschka?“

„Nun, meinetwegen, gleichviel! Ach, diese Räuber!“

Der Betreffende, an den ich mich wandte, folgte meiner Bitte, nachdem ich ihm gesagt, daß es eine alte Gräfin sei, die ihn zu sich bitten lasse, da sie selbst nicht gehen könne. Die Babuschka überhäufte ihn lange, laut und zornig mit Vorwürfen wegen seiner Betrügerei und versuchte mit ihm zu handeln, und alles das in einem freien Gemisch von Russisch, Französisch und Deutsch, weshalb ich der Verständlichkeit nachhelfen mußte. Der Mensch aber sah nur todernst bald sie, bald mich an und schüttelte schweigend den Kopf. Die Babuschka betrachtete er dabei mit einem so unverhohlenen Interesse, daß es direkt unhöflich war. Endlich begann er zu lächeln.

„Ach nun, pack dich! Krepier meinetwegen an meinem Gelde!“ unterbrach sich da die Babuschka zornig. „Wechsle bei ihm, Alexei Iwanowitsch, wir haben keine Zeit, sonst könnten wir zu einem anderen gehn!“

„Dieser sagt, daß die anderen noch weniger geben würden,“ bemerkte ich.

Genau entsinne ich mich nicht mehr seiner Berechnung, jedenfalls aber war sie fürchterlich. Etwa zwölftausend Florins in Gold und Banknoten gab er mir; ich nahm die Rechnung und das Geld und brachte sie der Babuschka.

„Nun, nun, schon gut, schon gut! Wozu da noch zählen!“ wehrte sie mit der Hand ab. „Schneller, schneller, schneller!“

„Nie mehr werde ich auf dieses verwünschte zéro setzen und auf Rot ebensowenig!“ murmelte sie, als wir uns dem Kurhaus näherten.

Diesmal bemühte ich mich aus allen Kräften, sie zu möglichst kleinen Einsätzen zu bewegen, mit der Versicherung, daß sie, sobald die Chancen stabiler würden, immer noch zeitig genug große Einsätze machen könne. Sie hatte aber nicht die Geduld dazu: Anfangs willigte sie ein, doch während des Spiels war es ganz unmöglich, sie noch zurückzuhalten, denn kaum begannen ihre kleinen Einsätze zu gewinnen, etwa zehn oder zwanzig Friedrichsdor, so stieß sie mich gleich ärgerlich an und machte mir Vorwürfe.

„Nun sieh! nun sieh! nun, da haben wir doch gewonnen! Hätten wir viertausend gesetzt, anstatt zehn, so hätten wir viertausend gewonnen, aber so, was ist denn das? Daran bist du schuld, nur du!“

Was blieb mir da anderes übrig als zu schweigen und zu nichts mehr zu raten, wie sehr mich ihre Spielweise auch ärgerte.

Plötzlich näherte sich ihr de Grillet. Sie waren alle vier im Saal. Mademoiselle Blanche stand mit ihrer Mutter etwas abseits und kokettierte mit dem kleinen Fürsten. Der General war ersichtlich in Ungnade: Mademoiselle Blanche schien ihn nicht einmal eines Blickes würdigen zu wollen, obschon er sich alle erdenkliche Mühe gab, sich wieder bei ihr einzuschmeicheln. Der Arme! Er wurde bald bleich, bald rot, und hatte Augen und Ohren nur noch für sie, so daß er dem Spiel der Babuschka ganz zu folgen vergaß. Endlich verließen Blanche und das Fürstchen den Saal, und der General eilte ihnen natürlich nach.

„Madame, Madame,“ flüsterte derweilen de Grillet mit honigsüßer Stimme der Babuschka fast ins Ohr: „Madame, so geht das nicht ... nein, nein, geht nicht! ...“ radebrechte er auf russisch, „nein!“

„Ja, wie denn?“ wandte sich die Babuschka nach ihm um. „Nun, so sag’ mir, wie – wenn du es besser weißt!“

Da begann de Grillet geschwind auf französisch irgend etwas sehr Kompliziertes zu erklären, sprach als gewandter Causeur unendlich viel, ohne damit etwas zu sagen, meinte zwar zwischendurch, daß man auf eine günstigere Chance warten müsse, zählte dann noch verschiedene Zahlen auf ... die Babuschka wurde aber um keinen Deut klüger. Er wandte sich auch immer wieder an mich, damit ich seine Worte übersetze, doch kam dabei nicht viel heraus, und so erklärte er denn weiter, mit dem Finger des Nachdruckes halber fortwährend auf den Tischrand drückend. Zum Schluß zog er noch einen Bleistift hervor und begann ihr auf einem Stück Papier Unbegreifliches vorzurechnen. Der Babuschka riß aber endlich doch die Geduld.

„Ach, packe dich, marsch! Mir gellen schon die Ohren von deinem Blödsinn! ‚Madame, Madame,‘ und weiter hört man nichts, geh mir vom Halse!“

Mais, madame,“ und de Grillet erging sich in neuen Versicherungen – im Ton nur eine Note höher – und fuhr mit doppeltem Eifer in seinen Erklärungen fort. Weiß Gott, der Verlust mußte ihm doch sehr nahe gegangen sein.

„Nun, setze einmal so wie er sagt,“ befahl mir plötzlich die Babuschka, „wollen wir sehen, vielleicht kommt es auch wirklich so heraus.“

De Grillet wollte sie nur von den großen Einsätzen abbringen, deshalb empfahl er das System der kleinen Einsätze, und zwar auf die Zahlen, als bedeutend aussichtsvoller. Nach seiner Anweisung setzte ich je einen Friedrichsdor auf die ersten zwölf, je fünf Friedrichsdor auf die Zahlengruppen von zwölf bis achtzehn und von achtzehn bis vierundzwanzig im ganzen sechzehn Friedrichsdors.

Das Rad drehte sich.

Zéro!“ rief der Croupier.

Wir hatten alles verloren.

„Solch ein Schafskopf!“ rief die Babuschka, sich heftig an de Grillet wendend. „Solch ein nichtsnutziger Franzusischka, der du bist! Und kommst mir noch mit deinen Ratschlägen, du Taugenichts! Geh! Mach, daß du fortkommst! Selbst hat er keine Ahnung von der Sache, erteilt aber Ratschläge! Noch besser!“

Tief gekränkt zuckte de Grillet nur mit den Achseln, blickte mit Verachtung auf die Babuschka herab und ging. Ich glaube, er schämte sich, daß er sich überhaupt mit ihr abgegeben hatte.

Nach einer Stunde war – trotz aller Mühen und Versuche – alles verspielt.

„Nach Haus!“ rief die Babuschka.

Bis zur Allee sprach sie kein Wort. Erst am Ende der Allee, kurz bevor wir das Hotel erreichten, brach es aus ihr heraus:

„Du Närrin! Du Erznärrin! Du alte, alte Närrin!“ sagte sie zu sich selbst.

Kaum in ihren Räumen angelangt, gab sie sogleich ihre Befehle:

„Tee!“ wünschte sie zuerst, „und sogleich einpacken! Wir fahren!“

„Wohin werden Mütterchen denn zu fahren belieben?“ wagte Marfa zu fragen.

„Was geht das dich an? Kümmere dich um deine Arbeit! Potapytsch, packe alles ein, mach das ganze Gepäck fertig. Wir fahren zurück nach Moskau. Ich habe fünfzehntausend Rubel verspielt!“

„Fünfzehntausend, Mütterchen! Großer Gott!“ rief Potapytsch, und wie überwältigt schlug er die Hände zusammen, da er wohl annahm, daß Staunen und Bedauern jetzt erwünscht seien.

„Nun, nun! – Dummkopf! Was hast du zu heulen? Schweig! Pack die Sachen ein! Die Rechnung! Schnell!“

„Der nächste Zug geht um neun Uhr dreißig, Babuschka,“ bemerkte ich, um sie zu beruhigen.

„Und wieviel ist es jetzt?“

„Erst halb acht.“

„Wie dumm! Nun, gleichviel! Du, Alexei Iwanowitsch, Geld habe ich keinen Kopeken bei mir. Hier hast du zwei Wertpapiere, lauf dorthin zu dem Kerl und laß dir dafür Geld geben. Sonst habe ich nichts, womit ich fahren könnte.“

Ich ging. Als ich nach einer halben Stunde zurückkehrte, traf ich alle die Unsrigen bei der Babuschka an. Die Nachricht, daß die Babuschka nach Moskau zurückfahre, hatte sie, glaube ich, noch mehr erschreckt, als ihr Verlust im Spiel. Freilich konnte man jetzt sicher sein, daß sie nicht ihr ganzes Vermögen verspielen werde, dafür aber – was sollte jetzt aus dem General werden? Wer wird nun de Grillet die Schulden bezahlen? Und Mademoiselle Blanche wird natürlich nicht so lange warten, bis die Alte stirbt, sondern aller Voraussicht nach mit dem Fürstchen oder irgendeinem anderen losziehen. Sie standen alle vor der Babuschka, trösteten und beredeten sie. Polina war wieder nicht erschienen. Die Babuschka, die ihnen wohl schon eine Zeitlang zugehört hatte, schrie sie wütend an:

„Ach, geht mir vom Halse, ihr Teufel, was geht das euch an? Was kriecht dieser Ziegenbart ewig zu mir!“ schrie sie de Grillet an, „und du Kibitzin, was willst du denn von mir haben?“ wandte sie sich wütend an Mademoiselle Blanche.

Diantre!“ murmelte Mademoiselle Blanche mit einem haßfunkelnden Blick auf die Alte. Doch plötzlich lachte sie auf und ging zur Tür.

Elle vivra cent ans!“ rief sie, noch bevor sie das Zimmer verließ, über die Schulter dem General zu.

„Ah! so wartest du auf meinen Tod?“ wandte sich die Babuschka zornbebend an den General, „hinaus! Jage sie alle hinaus, Alexei Iwanowitsch! Nicht euer Geld habe ich verzettelt. – Meines! Was geht das euch an!“

Der General machte nur eine kurze Schulterbewegung, verbeugte sich und ging. De Grillet folgte ihm.

„Ruf Praskowja her!“ befahl sie der Marfa.

Nach kaum fünf Minuten kehrte diese mit Polina zurück. Die ganze Zeit hatte Polina mit den Kindern in ihrem Zimmer zugebracht und hatte es, glaube ich, mit Absicht getan. Ihr Gesicht war ernst und traurig und sie schien besorgt zu sein.

„Praskowja,“ begann die Babuschka, „ist es wahr, was ich vor kurzem erfahren habe, daß dieser Dummkopf, dein Stiefvater, diese dumme Wetterfahne, diese Französin – eine Schauspielerin oder was? oder vielleicht noch Schlimmeres – daß er diese heiraten will? Sag mir ganz offen, ist es wahr?“

„Genau weiß ich es nicht, Babuschka,“ sagte Polina, „aber nach den Worten der Mademoiselle Blanche, die aus ihren Plänen kein Geheimnis macht, schließe ich ...“

„Genug!“ unterbrach sie die Babuschka kategorisch, „ich verstehe alles! Ich habe ihn von jeher für den dümmsten und leichtsinnigsten Menschen gehalten und auch nichts anderes von ihm erwartet. Er glaubt, Gott weiß was zu sein, weil er General ist! – große Herrlichkeit, dabei erst beim Abschied erhalten, als er als Oberst abging! Ich weiß alles, mein Mütterchen, ich weiß, daß ihr Depesche auf Depesche nach Moskau gesandt habt, immer mit der Frage, ob denn die Alte sich noch immer nicht gestreckt habe. Die Erbschaft ließ zu lange auf sich warten! Ohne Geld aber wird ihn dieses gemeine Weib – de Cominges oder wie heißt sie da? – wird sie ihn nicht mal als Diener zu sich nehmen! Man sagt, sie soll selbst eine Menge Geld haben, das sie anderen leiht, wofür sie dann Prozente nimmt. Schön erworbenes Geld, das sieht man. Dir, Praskowja, mache ich deshalb keine Vorwürfe, nicht du hast die Depeschen gesandt; und auch was gewesen ist, daran wollen wir nicht denken. Ich weiß, daß du einen gefährlichen Charakter hast, wie eine Wespe! Stichst du, so schwillt es an; aber es tut mir leid um dich, denn deine Mutter, die verstorbene Katerina, habe ich lieb gehabt. Nun, willst du? Laß sie alle hier und komm mit mir nach Moskau. Du hast ja doch sonst niemanden und nichts, wo du dich lassen könntest; und es ist auch unpassend für dich, hier mit diesen zusammen zu sein. Wart!“ hielt die Babuschka Polina auf, da diese schon antworten wollte, „ich habe dir noch nicht alles gesagt. Von dir werde ich nichts verlangen. Mein Haus in Moskau – nun, du weißt ja, wie es ist – ein Palais. Nimm meinetwegen eine ganze Etage für dich ein und komm wochenlang nicht zu mir nach unten, wenn mein Charakter dir nicht zusagt! Nun, willst du oder willst du nicht?“

„Erlauben Sie zuerst eine Frage, Babuschka: wollen Sie wirklich jetzt gleich zurückreisen?“

„Du glaubst wohl, ich scherze, mein Kind? Ich habe es gesagt und ich fahre. Fünfzehntausend Rubel hat mir hier euer dreifach verwünschtes Roulette heute abgenommen. Vor fünf Jahren habe ich einmal versprochen, eine hölzerne Kirche in der Nähe von Moskau in eine steinerne umzubauen, statt dessen habe ich nun hier das Geld vergeudet. Jetzt, mein Kind, jetzt fahre ich zurück, um die Kirche umzubauen.“

„Aber die Brunnenkur, Babuschka? Sie kamen doch her, um Brunnen zu trinken?“

„Geh du mir mit deinem Brunnen! Reiz’ du mich nicht, Praskowja, das sag ich dir! Oder tust du’s etwa mit Willen? Sag jetzt – kommst du oder kommst du nicht?“

„Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar, Babuschka, für das Angebot,“ sagte Polina mit tiefem Gefühl. „Und Sie haben auch meine Lage sehr richtig erraten. Ich weiß Ihr Anerbieten vollkommen zu würdigen und ich versichere Sie, daß ich zu Ihnen kommen werde, vielleicht sogar schon sehr bald; jetzt aber habe ich Gründe ... sehr wichtige Gründe ... deshalb kann ich mich jetzt, in diesem Augenblick, noch nicht dazu entschließen. Wenn Sie wenigstens noch zwei Wochen hierblieben ...“

„Das heißt also, du willst nicht?“

„Nein, das nicht, aber ich kann nicht. Außerdem kann ich nicht meinen Bruder und meine Schwester hier allein zurücklassen, da ... weil ... da es vielleicht wirklich geschehen kann, daß ... daß sie ganz vergessen und verlassen zurückbleiben, deshalb ... wenn Sie mich mit den Kleinen aufnehmen wollten, Babuschka, so werde ich natürlich zu Ihnen kommen, und glauben Sie mir, ich werde alles tun, um Ihnen meine Dankbarkeit zu beweisen!“ fügte sie mit Wärme hinzu, „aber ohne die Kleinen kann ich nicht, Babuschka.“

„Nun, heul’ nur nicht!“ – Polina dachte nicht daran, zu weinen, und überhaupt habe ich sie niemals Tränen vergießen gesehen. „Auch für die Kleinen wird sich Platz finden in meinem großen Stall. Übrigens wird’s für sie bald Zeit, daß man sie in die Schule steckt. Nun, also dann kommst du jetzt nicht mit! Nur – sieh dich vor, Praskowja! Ich meinte es gut mit dir, aber ich weiß ja doch, weshalb du nicht kommst. Alles weiß ich, Praskowja. Glaube mir, dieser Franzusischka wird dich zu nichts Gutem führen!“

Polina wurde feuerrot. Ich zuckte zusammen: Alle wissen etwas! Nur ich weiß nichts!

„Nun, nun, ärgere dich nicht. Ich werde nichts breittreten. Nur nimm dich in acht, Praskowja, damit nichts Schlimmes geschieht, verstanden? Du bist ein kluges Mädchen, du tätest mir leid. Nun, genug, es wäre besser gewesen, ich hätte euch alle nicht wiedergesehen! Geh, leb wohl!“

„Ich werde Sie noch begleiten, Babuschka,“ sagte Polina.

„Ist nicht nötig; geh nur und störe nicht; hab euch sowieso schon alle satt!“

Polina küßte der Babuschka die Hand, doch diese zog die Hand fort und küßte sie auf die Wange.

Als Polina an mir vorüberging, warf sie nur einen schnellen Blick auf mich und sah sogleich wieder fort.

„Nun, auch du leb wohl, Alexei Iwanowitsch, es bleibt mir nur noch eine Stunde bis zur Abfahrt. Und ich werde dich wohl schon weidlich ermüdet haben, denke ich. Hier, nimm diese fünfzig Goldstücke.“

„Besten Dank, Babuschka, aber es ist mir peinlich ...“

„Nun, nun!“ rief sie, aber so energisch und drohend, daß ich nicht abzulehnen wagte und das Geld annahm.

„Wenn du in Moskau ohne Stelle herumläufst – komm zu mir: werde dich irgendwohin empfehlen. Aber jetzt scher dich!“

Ich ging in mein Zimmer und legte mich auf das Bett. Ich glaube, ich lag so eine halbe Stunde, ausgestreckt auf dem Rücken, die Hände unter den Kopf geschoben. Die Katastrophe hatte ja eigentlich schon begonnen, da gab es genug zu denken. Ich beschloß, am nächsten Tage einmal energisch mit Polina zu reden. Ah! Der Franzusischka! Also ist es doch wahr! Aber schließlich – was konnte es denn sein? Polina und de Grillet! Herrgott, was für eine Zusammenstellung!

Nein, das war doch alles viel zu unwahrscheinlich! Ich sprang plötzlich aus dem Bett, bebend vor Zorn, um sogleich Mister Astley aufzusuchen und ihn um jeden Preis zum Sprechen zu bringen. Natürlich weiß er auch hiervon mehr als ich. Mister Astley? Weiß der Teufel, der ist auch noch ein Rätsel für mich!

Plötzlich wurde an meine Tür geklopft. Ich sah nach – Potapytsch war’s.

„Väterchen Alexei Iwanowitsch, die Gnädige lassen Sie zu sich bitten.“

„Was ist denn los? Fährt sie schon fort? Der Zug geht ja erst nach zwanzig Minuten.“

„Nein, Väterchen, aber sie beunruhigen sich, zittern nur so vor Ungeduld. ‚Schnell, schnell!‘ sagten sie nur – das heißt, sollte man Sie rufen. Um Christi willen, kommen Sie!“

Ich eilte sogleich hinunter zu ihr. Die Babuschka wurde in ihrem Stuhle gerade auf den Korridor hinausgeschoben. Sie hatte ihre Brieftasche in der Hand.

„Alexei Iwanowitsch, geh voran! Wir gehen! ...“

„Wohin, Babuschka?“

„Ich will nicht leben, wenn ich’s nicht wiedergewinne! Nun, marsch, und frage nicht! Dort wird doch bis Mitternacht gespielt?“

Ich war starr. Doch im Augenblick hatte ich meinen Entschluß gefaßt.

„Tun Sie, was Sie wollen, Antonida Wassiljewna, ich aber gehe nicht mit.“

„Weshalb nicht? Was soll denn das heißen? Du bist wohl nicht recht bei Troste?“

„Tun Sie, was Sie wollen, ich aber würde mir nachher Vorwürfe machen. Ich will nicht! – ich will weder Zeuge noch Mitschuldiger sein; verlangen Sie es nicht von mir, Antonida Wassiljewna! Hier gebe ich Ihnen Ihre fünfzig Friedrichsdor zurück. Verzeihen Sie, aber ich kann nicht anders!“ Und ich legte die Goldrolle auf einen kleinen Wandtisch im Korridor, neben dem ihr Stuhl angelangt war, verbeugte mich und ging.

„Solch ein Unsinn!“ hörte ich die Babuschka mir nachrufen. „Nun, dann nicht, bleib wo du bist, ich werde auch ohne dich den Weg finden! Potapytsch, du kommst mit! Nun, vorwärts, schnell!“

Mister Astley konnte ich nicht finden und kehrte bald ins Hotel zurück. Erst spät in der Nacht, gegen ein Uhr ungefähr, erfuhr ich von Potapytsch, wie dieser Tag für die Babuschka geendet hatte.

Sie hatte alles verloren, das ganze Bargeld, das ich vorher für sie eingewechselt, nach unserem Geld noch zehntausend Rubel. Derselbe Polack, dem sie am vormittag zwei Friedrichsdor geschenkt, hatte sich so geschickt ihr aufzudrängen gewußt, daß er bald ihr ganzes Spiel dirigierte. Anfangs hatte sie Potapytsch die Einsätze für sie machen lassen, doch nach einer Reihe von Verlusten hatte sie ihn fortgejagt: da war dann schnell der Polack an ihre Seite geschlüpft. Zum Unglück verstand er ein wenig Russisch, so daß sie sich in einem Gemisch von drei Sprachen ungefähr verständigen konnten. Die Babuschka hatte ihn unbarmherzig geschimpft. Und obschon dieser ihr ununterbrochen auf Polnisch versichert habe, daß er sich unter ihre „stopki panjski“, unter ihre herrschaftlichen Füße breite – „war sie doch so gegen ihn, daß Gott erbarm!“ erzählte Potapytsch. „Mit Ihnen, Alexei Iwanowitsch, ging sie doch ganz wie mit einem Herrn um,“ meinte er naiv, „jener aber – ich hab’s doch mit meinen eigenen Augen gesehen, Gott straf mich! – jener hat ihr Geld unter ihren Augen vom Tisch gestohlen. Zweimal hat sie ihn sogar selbst geklappt, wie er wieder stehlen wollte, und gescholten hat sie ihn, Väterchen, gescholten ganz ohne Barmherzigkeit, sogar an den Haaren hat sie ihn einmal gezupft, aber gründlich – bei Gott, ich lüge nicht – so daß ringsum sogar gelacht wurde. Alles hat sie verloren, Väterchen, alles was sie nur bei sich hatte an Geld. Wir brachten sie dann zurück, hierher, unser Mütterchen, – nur ein Schlückchen Wasser wollte sie trinken, bekreuzte sich und gleich ins Bett! War sie nur so müde, oder was? Jedenfalls schlief sie sofort ein. Schick ihr nur gute Träume, Allbarmherziger! Ach, ich sag wohl, dieses Ausland!“ schloß Potapytsch mit dem Kopfnicken eigener Erfahrung, „ich habe es im voraus gesagt, daß dabei nichts Gutes herauskommen wird! Ja, wenn wir nur wieder in unserem Moskau wären! Und was haben wir nicht alles zu Hause? – Gott nein, ist doch alles in Hülle und Fülle da! Haben einen Garten und Blumen, wie sie hier gar nicht zu sehen sind, und die Äppelchen werden jetzt rot, und schöne Luft dazu und Platz überall genug, – aber nein: es mußte ins Ausland gefahren werden! Ochhoho!“

XIII.

Nun ist fast schon ein ganzer Monat vergangen, seitdem ich diese meine Aufzeichnungen, die ich unter dem Einfluß zwar wirrer, doch starker Eindrücke begonnen, nicht mehr angerührt habe. Die Katastrophe, deren Herannahen ich damals vorausfühlte, trat wirklich ein, nur geschah es noch hundertmal plötzlicher und überraschender als ich erwartet hatte. Es war alles so seltsam und widerwärtig und sogar tragisch, wenigstens was mich betraf. Einzelne Erlebnisse möchte ich fast Wunder nennen; jedenfalls fasse ich sie noch jetzt als solche auf – obschon man sie andererseits, namentlich wenn man den Wirbelsturm von Gefühlen und Wünschen, der mich damals erfaßt hatte, in Betracht zieht, höchstens als nicht gerade ganz alltägliche Erlebnisse bezeichnen kann. Doch am meisten wundere ich mich über mein eigenes Verhalten zu all diesen Geschehnissen. Bis jetzt noch verstehe ich mich nicht! Und alles das ist wie ein Traum vergangen – sogar meine Leidenschaft ist vergangen – und sie war doch groß und stark und aufrichtig, aber ... wo ist sie denn jetzt geblieben? Wirklich: mitunter ist es mir, als wolle ein bestimmter Gedanke in meinem Gehirn aufzucken, bis er dann ganz plötzlich vor mir dasteht – dieser eine Gedanke: „War ich damals nicht wahnsinnig geworden? und habe ich nicht während der ganzen Zeit irgendwo in einer Irrenanstalt gesessen und sitze ich nicht vielleicht auch jetzt noch in ihr? so daß mir alles das nur geschienen hat und auch jetzt noch nur scheint?! ...“

Ich habe die Blätter zusammengesucht und das Geschriebene durchgelesen. (Wer weiß, vielleicht nur – um mich zu überzeugen, ob ich es nicht doch in einem Irrenhause geschrieben habe.) Ich bin jetzt ganz allein. Es ist Herbst, die Blätter werden gelb. Ich sitze in diesem wehmütigen Städtchen – oh, wie wehmütig doch die deutschen Kleinstädte sind! – und anstatt mir den bevorstehenden Schritt zu überlegen, befinde ich mich ganz und gar in der Erinnerung und unter der Einwirkung der jüngst durchlebten Gefühle, tauche unter in Erinnerungen und lasse mich wieder von jenem Sturm erfassen, der mich damals in seinen Wirbel gerissen und mich nun hier wieder an Land geworfen hat. Es scheint mir zuweilen, daß ich mich noch immer in diesem Wirbel drehe oder daß im Augenblick, ja, im Augenblick wieder dieser Sturm heranrasen kann, um mich vorüberjagend mit seinem Flügel mitzureißen, fort von jedem Weg und Steg und Maßgefühl, und daß ich mich, wer weiß wie, gleich wieder im Wirbel drehen werde, drehen und drehen und drehen ...

Übrigens wird dieser Zustand vielleicht aufhören, wenn ich mir von allem, was ich in diesem Monat erlebt habe, möglichst genau Rechenschaft gebe. Es zieht mich wieder zur Feder, und die Abende sind auch so lang und ich habe nichts zu tun. Sonderbar, um mich wenigstens mit irgend etwas zu beschäftigen, nehme ich hier aus der jämmerlichen Leihbibliothek Romane von Paul de Kock zum Lesen – und noch dazu in deutscher Übersetzung! – Romane, die ich nicht ausstehen kann, aber ich lese sie und wundere mich über mich selbst: es ist, als fürchtete ich, durch die Lektüre eines ernsten Buches oder durch sonst eine ernste Beschäftigung den Zauberbann der letzten Vergangenheit zu brechen. Ganz als wären mir dieser scheußliche Traum und alle Eindrücke, die er in mir hinterlassen hat, so teuer, daß ich mich sogar fürchte, mit irgend etwas Neuem an ihm zu rühren, fürchte, daß er dann wie Rauch vergehen könnte! Ist mir denn das alles wirklich so teuer? oder was ist es sonst?! Ja, natürlich ist es mir teuer; vielleicht werde ich noch nach vierzig Jahren ebenso an ihn zurückdenken ...

Also ich beginne wieder zu schreiben. Jetzt kann ich mich ja bedeutend kürzer fassen:

Zunächst, um mit der Babuschka abzuschließen: am nächsten Tage verspielte sie alles. Das war vorauszusehen, denn wenn Leute ihres Schlages einmal auf diesen Weg geraten, dann ist es, als glitten sie auf einem Schlitten einen Schneeberg hinab, unaufhaltsam immer schneller und schneller. Sie spielte den ganzen Tag, vom Morgen bis acht Uhr abends. Ich war nicht zugegen, habe mir aber nachher alles erzählen lassen.

Potapytsch war die ganze Zeit bei ihr.

Die Polen, die die Leitung des Spieles der Babuschka an sich zu reißen wußten, wechselten an diesem Tage mehrmals. Sie begann damit, daß sie den einen Polen, den sie am Abend vorher an den Haaren gezogen hatte, fortjagte und einen anderen zum Ratgeber erkor. Doch dieser erwies sich als fast noch schlimmer. Und nachdem sie auch ihn fortgejagt und wieder den ersten zu Hilfe genommen, der wohlweislich nicht fortgegangen, sondern hinter ihrem Stuhl geblieben und jeden Augenblick mit seinen Ratschlägen dazwischengefahren war, geriet sie zwischen zwei Feuer. Der zweite wollte ebensowenig wie der erste das Feld räumen und so blieb denn der eine rechts, der andere links neben ihr. Die ganze Zeit stritten und schimpften sie sich wegen der Einsätze, nannten sich gegenseitig „Laidak“[6] und zeichneten sich durch andere und ähnliche polnische Liebenswürdigkeiten aus, vertrugen sich dann wieder stillschweigend und setzten das Geld ohne jede Berechnung und Überlegung, wie es ihnen gerade einfiel. Stritten sie, so setzte der eine auf manque, der andere auf passe; es setzte der eine auf Rot, wenn der andere auf Schwarz gesetzt hatte. Es endete damit, daß sie die Babuschka zu guter Letzt ganz zur Verzweiflung brachten und diese sich, fast dem Weinen nahe, an den Croupier mit der Bitte wandte, sie von den beiden zu befreien. Sie wurden auch wirklich sogleich abgeschoben, obschon sie schrien und protestierten und plötzlich beide zu beweisen suchten, daß die Babuschka ihnen Geld schulde und sie sie beide betrogen und schändlich und gemein an ihnen gehandelt habe. Der unglückliche Potapytsch erzählte mir das noch am selben Abend unter Tränen und beteuerte dabei, daß sie in Wirklichkeit alle ihre Taschen mit Geld vollgestopft, daß er es selbst gesehen, wie sie jeden Augenblick gestohlen und das Geld hätten verschwinden lassen. Auch sollen sie sich verschiedener Kniffe bedient haben, um offiziell größere Summen stehlen zu können. Zum Beispiel: einer von ihnen bittet die Babuschka um fünf Friedrichsdor für seine erwiesenen Dienste und setzt das Geld gleich neben die Einsätze der Babuschka. Die Babuschka gewinnt und er verliert sein Geld, er aber beteuert, daß sein Einsatz gewonnen habe und der verlorene ihr Einsatz gewesen sei. Als man sie dann vom Tisch entfernt hatte, war Potapytsch vorgetreten und hatte gemeldet, daß ihre Taschen voll Gold seien. Die Babuschka hatte sich dann sogleich an den Croupier gewandt, und wirklich, wie sehr die Polen auch schrien – genau wie zwei eingefangene Hähne – es wurden ihre Taschen von den Polizeibeamten ohne weiteres entleert und das Geld der Babuschka zurückerstattet. Solange diese noch nicht alles verspielt hatte, waren nämlich die Croupiers wie alle übrigen Angestellten der Gesellschaft außerordentlich zuvorkommend gegen sie, als sei jeder ihrer Wünsche ihnen ein Befehl. In kürzester Zeit sprach schon die ganze Stadt von ihr. Geringe und Vornehme, Reiche und minder Reiche begaben sich in die Spielsäle, um die „vieille comtesse russe“ zu sehen, die, wie es hieß, bereits „mehrere Millionen“ verspielt hatte.

Leider hatte die Babuschka nur sehr, sehr wenig damit gewonnen, daß sie glücklich von den beiden Polätschkis befreit worden war. An ihrer Stelle erschien sogleich ein dritter Pole, der aber, im Gegensatz zu den anderen, fehlerlos russisch sprach und anständig gekleidet war – immerhin aber noch etwas Lakaienhaftes an sich hatte – und sich außerdem durch einen mächtigen Schnurrbart und durch „Gónor“ auszeichnete.[7] Er versicherte gleichfalls, daß er ihre „stopki panjski“ küsse oder sich unter ihre „stopki panjski“ breite, doch verhielt er sich zur ganzen Umgebung anmaßend hochmütig und benahm sich wie ein Despot, – kurz, er verstand es, sich von vornherein nicht als Diener, sondern als Gebieter der Babuschka aufzuspielen. Alle Augenblicke, fast nach jedem Einsatz, wandte er sich an die Babuschka und schwur mit den fürchterlichsten Schwüren, daß er selbst ein „gonorowyj Pan“ sei und keine Kopeke von ihr nehmen werde. Und er wiederholte diese Schwüre so oft, daß die Babuschka sich bald ganz eingeschüchtert fühlte. Da aber dieser Pan anfangs wirklich mit gutem Erfolge spielte und die Babuschka gewann, so war schließlich sie es, die nicht mehr von ihm lassen konnte. Nach einer Stunde aber erschienen die beiden hinausgeführten Polätschkis wieder hinter dem Stuhl der Babuschka und boten wieder ihre Dienste an, gleichviel wozu – auch zu Laufburschendiensten waren sie bereit. Potapytsch schwor bei seinem Seelenheil, daß der „gonorowyj Pan“ ihnen zugezwinkert und sogar etwas in die Hand gedrückt habe. Da aber die Babuschka seit dem Morgen nichts genossen hatte, kam nun der eine von den beiden wirklich ganz gelegen mit seinem Angebot: er wurde ins Restaurant des Kurhauses geschickt – der Speisesaal lag nebenan – und brachte von dort geschwind eine Tasse Bouillon und später noch eine Tasse Tee. Übrigens liefen sie immer beide. Gegen Abend jedoch standen hinter ihrem Stuhl ganze sechs Polätschkis, von denen man früher nichts gesehen und gehört hatte. Als aber die Babuschka nahezu ihr letztes Geld zu verspielen begann, da hörten sie alle auf, ihre Wünsche zu beachten, ja sie bemerkten sie überhaupt nicht mehr, drängten sich mit größter Rücksichtslosigkeit gegen sie an den Tisch, griffen, ohne zu fragen, nach ihrem Gelde, setzten es nach eigener Willkür, stritten und schrien und behandelten den Pan mit dem „Gónor“ wie ihren Duzbruder, der er auch zu sein schien, und der Pan mit dem „Gónor“ vergaß gleichfalls die Existenz der Babuschka. Und selbst dann noch, als die Babuschka gegen acht Uhr abends, nachdem sie alles verspielt hatte, ins Hotel zurückkehrte, selbst dann noch konnten drei oder vier von ihnen sich nicht entschließen, sie zu verlassen und liefen zu beiden Seiten ihres Stuhles unter lautem Geschrei einher und beteuerten in verwirrend schneller Sprechweise, daß die Babuschka sie irgendwie betrogen habe und ihnen irgend etwas zurückerstatten müsse, – d. h. Geld, natürlich. So kamen sie bis ins Hotel, wo man sie endlich mit Nachdruck abwies.

Nach Potapytschs Berechnung muß die Babuschka an diesem einen Tage an neunzigtausend Rubel verspielt haben, außer dem tags zuvor verlorenen Gelde. Alle ihre Wertpapiere, alle Aktien, die sie mitgenommen, hatte sie eines nach dem anderen und eine nach der anderen hingegeben. Ich wunderte mich, daß sie es ausgehalten hatte, ganze sieben oder acht Stunden ununterbrochen am Tisch zu sitzen, doch Potapytsch erzählte, daß sie dreimal wirklich stark zu gewinnen begonnen habe und da hatte die Hoffnung sie dann wieder von neuem gestärkt. Übrigens, nur Spieler können es verstehen, wie ein Mensch Tag und Nacht auf einem Platz sitzen und für nichts anderes Augen und Ohren haben kann als für das Spiel.

Doch während die Babuschka dort spielte, spielten sich bei uns im Hotel gleichfalls wichtige Dinge ab. Gleich am Morgen, noch vor elf Uhr, als die Babuschka das Hotel noch nicht verlassen hatte, entschlossen sich der General und de Grillet zu einem letzten Schritt, von dem sie die Entscheidung und ihr eigenes Heil erwarteten. Nachdem sie erfahren hatten, daß die Babuschka vorläufig nicht mehr daran denke, zurückzureisen, vielmehr wieder die Spielsäle aufzusuchen beschlossen habe, begaben sie sich zu ihr, um einmal ernstlich mit ihr zu reden und sogar – aufrichtig. Der General, der beim Gedanken an alle zu erwartenden furchtbaren Folgen nur so zitterte, verdarb aber das Ganze: zuerst flehte und bat er eine halbe Stunde lang, und gestand sogar alles ganz offen ein, d. h. alle seine Schulden und selbst seine Leidenschaft zu Mademoiselle Blanche – er verlor offenbar den Kopf – plötzlich aber schlug er einen drohenden Ton an, schrie sie sogar an und stampfte mit dem Fuß auf, sagte ihr, daß sie die ganze Familie kompromittiere, daß die ganze Stadt von ihrem skandalösen Benehmen rede, und schließlich ... schließlich – „Sie verunglimpfen den russischen Namen überhaupt, meine Gnädigste, Sie sind eine Schande für Ihr Vaterland!“ schrie der General – und er fügte noch hinzu, es gäbe doch überall eine Polizei! Kurz, die Szene endete damit, daß die Babuschka ihn mit dem Stock hinausjagte – mit einem wirklichen Stock, den sie stets bei sich hatte.

Der General und de Grillet berieten sich den ganzen Vormittag über, und zwar namentlich über diesen einen Punkt: ob es nicht doch anginge, die Polizei zum Einschreiten zu veranlassen? Es wäre doch so einfach: diese alte, kindisch gewordene Dame, die sonst alle Achtung verdiente, lief ja einfach Gefahr, ihr letztes Geld zu verspielen und dann zu verhungern! Kurz, ließe es sich da nicht machen, daß man sie unter Kuratel stellte oder ... oder gleichviel unter was? ... Doch de Grillet zuckte bloß mit den Achseln und seine Augen lachten spöttisch über den General, der im Zimmer hin und her lief und kaum noch wußte, was er sprach. Endlich hatte de Grillet es satt, und verschwand. Am Abend erfuhren wir, daß er das Hotel verlassen habe und abgereist sei, nachdem er kurz zuvor unter vier Augen und bei verschlossenen Türen eine entscheidende Unterredung mit Mademoiselle Blanche gehabt. Was nun diese betrifft, so hatte sie schon am Morgen ihren Plan ausgearbeitet: der General war für sie erledigt und sogar so erledigt, daß sie ihn nicht einmal mehr bei sich empfing. Und als der General darauf ins Kurhaus eilte, wohin sie sich begeben hatte, und sie dort am Arm des kleinen Fürsten antraf, da mußte er es erleben, daß weder sie noch madame veuve de Cominges ihn erkannten und auch das Fürstchen ihn nicht grüßte. Der letztere wurde den ganzen Tag von Mademoiselle Blanche bearbeitet, in der Erwartung, daß er sich endlich entscheidend aussprechen würde, doch leider wartete ihrer eine große Enttäuschung: gegen Abend stellte es sich nämlich heraus, daß der Fürst nicht nur selbst nichts besaß, sondern noch von ihr sich Geld gegen einen Wechsel verschaffen wollte, um dann gleichfalls Roulette spielen zu können. Da gab denn Blanche ganz empört auch ihm den Laufpaß und schloß sich in ihr Zimmer ein.

Am Morgen desselben Tages ging ich zu Mister Astley, oder richtiger, ich suchte ihn den ganzen Vormittag, ohne ihn finden zu können. Erst gegen fünf Uhr erblickte ich ihn plötzlich, wie er vom Bahnhof kam und die Richtung zum Hotel d’Angleterre einschlug. Er hatte offenbar wenig Zeit und schien sehr besorgt zu sein. Er streckte mir wie gewöhnlich mit einem „Ah!“ die Hand entgegen, blieb aber weder stehen noch verlangsamte er auch nur den Schritt. Ich schloß mich ihm an; aber er antwortete mir so, daß ich nicht recht ins Sprechen kommen und ihn auch nicht nach dem fragen konnte, was ich eigentlich fragen wollte. Überdies schämte ich mich – ich weiß nicht, warum – von Polina zu sprechen, er aber erkundigte sich mit keinem Wort nach ihr. Ich erzählte ihm von der Babuschka und er hörte mir aufmerksam und ernst zu, sagte aber nichts, sondern zuckte nur mit den Achseln.

„Sie wird alles verspielen,“ bemerkte ich.

„O ja,“ meinte er. „Bevor ich fortfuhr, sah ich, wie sie sich wieder in die Spielsäle begab, deshalb war mir Ihre Mitteilung nichts Neues. Wenn ich Zeit finde, werde ich hingehen, um sie mir anzusehen. So etwas ist interessant.“

„Wohin waren Sie gefahren?“ fragte ich, ganz verwundert darüber, daß ich es nicht sogleich gefragt hatte.

„Ich war in Frankfurt.“

„In Geschäften?“

„Ja, in Geschäften.“

Was sollte ich nun weiter fragen? Ich ging übrigens immer noch neben ihm her, doch plötzlich wandte er sich zum Hotel „Des quatre saisons“, an dem wir vorübergingen, nickte mir zum Abschied mit dem Kopfe zu und verschwand im Portal. Ich kehrte in unser Hotel zurück und kam allmählich zur Einsicht, daß ich, selbst wenn ich geschlagene zwei Stunden mit ihm gesprochen hätte, doch nichts würde erfahren haben, denn ... ich hatte ihn doch überhaupt nichts zu fragen! Ja, natürlich nicht! Es wäre mir ganz unmöglich gewesen, meine Frage zu formulieren.

Diesen ganzen Tag hielt sich Polina abwechselnd im Park und im Hotel auf, wo sie in ihrem Zimmer saß, natürlich immer zusammen mit den Kindern und der Kinderfrau. Dem General ging sie schon seit langer Zeit aus dem Wege, wie sie es überhaupt vermied, mit ihm zu sprechen – wenigstens von ernsten Dingen. Das war mir schon früher aufgefallen. Als ich aber an die Situation dachte, in der sich der General an diesem Tage befand, nahm ich an, daß es zwischen ihnen doch wohl zu einer Auseinandersetzung gekommen war, vielleicht sogar zu einer sehr ernsten und folgenschweren. Doch als ich nach meinem Gespräch mit Mister Astley kurz vor dem Hotel Polina mit den Kindern begegnete, sprach ihr Gesichtsausdruck von gleichmütigster Ruhe, als gingen sie alle Familienstürme nicht das geringste an. Auf meinen Gruß nickte sie nur ganz gleichgültig. Wütend suchte ich mein Zimmer auf.

Zum Teil war ich natürlich selbst schuld daran. Seit der Geschichte mit Wurmerhelm hatte ich es geflissentlich vermieden, mich ihr zu nähern oder mit ihr zu sprechen, wenn auch viel Verstellung dabei war. Nach und nach aber verbohrte ich mich so in meine falschen Gefühle, daß sie schließlich echt wurden, und Polinas Verhalten mich wirklich empörte. Selbst wenn sie mich nicht ein bißchen liebte, hätte sie doch, denke ich, meine Gefühle nicht so mit Füßen treten und meine Geständnisse mit solch einer Geringschätzung aufnehmen dürfen. Sie wußte, daß ich sie wirklich liebte: hatte sie doch selbst zugelassen und erlaubt, daß ich von meiner Liebe zu ihr sprach! Freilich, das hatte alles, genau genommen, seine Vorgeschichte. Viel früher schon, vor ganzen zwei Monaten etwa, hatte ich bereits bemerkt, daß sie mich zu ihrem Freunde und Vertrauten zu machen gedachte und zum Teil auch schon versuchte, ihre Absicht zu verwirklichen. Dennoch wollte es nicht gelingen, und statt daß wir vertrauter miteinander wurden, entwickelten sich allmählich unsere Beziehungen zu diesem blödsinnigen Verhältnis. So kam es, daß ich schließlich von meiner Liebe zu sprechen begann. Aber wenn ihr meine Liebe widerwärtig war, weshalb verbot sie mir dann nicht, von ihr zu sprechen?

Nein, sie erlaubte es mir; zuweilen hatte sie mich sogar selbst dazu veranlaßt ... natürlich nur zum Spott. Ich weiß es, ich habe es genau bemerkt: es war ihr angenehm, mir, nachdem sie mich widerspruchslos angehört und bis zum Schmerz gereizt hatte, plötzlich mit irgendeinem Ausfall, durch den sie mir ihre unermeßliche Verachtung und Gleichgültigkeit zu verstehen gab, einen Schlag zu versetzen, der mich einfach betäubte. Und sie wußte doch, daß ich nicht ohne sie leben konnte. Zwei Tage waren erst seit der Geschichte mit dem Baron vergangen und schon konnte ich unsere „Trennung“, die ja eigentlich noch gar keine war, nicht mehr ertragen. Als ich ihr dort in der Allee mit den Kindern begegnete, begann mein Herz so zu klopfen, daß ich erbleichte. „Aber wie lange wird sie es denn ohne mich aushalten!“ fragte ich mich. „Sie braucht mich, sie hat mich nötig – und ... und das doch nicht nur, um ihren Spott mit mir treiben zu können?“

Daß sie ein Geheimnis hatte – das war mir klar! Ihr Gespräch mit der Babuschka hatte mir einen schmerzhaften Stich ins Herz versetzt. Hatte ich sie doch tausendmal geradezu herausgefordert, aufrichtig gegen mich zu sein, und sie wußte auch, daß ich tatsächlich bereit war, meinen Kopf für sie einzusetzen. Aber sie machte sich immer mit fast geflissentlich hervorgekehrter Verachtung von mir los oder verlangte anstatt des Opfers, das ich ihr selbst mit meinem Leben anbot, irgendeine Dummheit wie damals die mit dem Baron! Und da sollte ich nicht – knirschen? Besteht denn die ganze Welt für sie nur in diesem Franzosen? Aber Mister Astley? Nein, hier wurde die Geschichte doch entschieden unbegreiflich, indessen aber – Gott, wie ich mich quälte!

In meinem Zimmer angelangt griff ich, zitternd vor Wut, zur Feder und schrieb ihr folgendes:

„Polina Alexandrowna, ich sehe doch, daß die Entscheidung, die natürlich auch Sie angehen wird, nahe bevorsteht. Zum letztenmal wiederhole ich die Frage: haben Sie meinen Kopf nötig oder nicht? Wenn ich Ihnen auch nur zu irgend etwas dienen kann – verfügen Sie über mich.

Vorläufig bleibe ich in meinem Zimmer, wenigstens den größten Teil des Tages, und werde nicht ausgehen. Falls nötig – schreiben Sie mir oder lassen Sie mich rufen.“

Ich gab den Brief dem Hoteldiener mit der Weisung, ihn ihr persönlich einzuhändigen. Eine Antwort erwartete ich nicht. Doch nach kaum drei Minuten kam der Diener zurück und sagte, das Fräulein lasse grüßen.

Gegen sieben Uhr wurde ich zum General gerufen.

Er war in seinem Kabinett, und zum Ausgehen angekleidet. Hut und Stock lagen auf dem Diwan. Als ich eintrat, stand er breitbeinig mitten im Zimmer, den Kopf gesenkt, und sprach halblaut zu sich selbst. Kaum aber hatte er mich erblickt, da stürzte er mir fast mit einem Schrei entgegen, so daß ich unwillkürlich vor ihm zurückwich und schon flüchten wollte; doch er ergriff meine beiden Hände und zog mich zum Diwan, auf den er sich selbst niederließ, während er mich in einen Sessel drückte, und ohne meine Hände loszulassen sogleich begann: mit bebenden Lippen und flehender Stimme, Tränen in den Augen:

„Alexei Iwanowitsch, retten Sie mich, retten Sie mich, erbarmen Sie sich!“

Es dauerte lange, bis ich begriff, was er von mir wollte. Er sagte immer nur: „Erbarmen Sie sich, erbarmen Sie sich!“

Endlich glaubte ich zu erraten, daß er mich um so etwas wie einen Rat bitten wollte; doch konnte er ebensogut in der Aufregung und im Kummer, verlassen wie er war, nur das Bedürfnis nach einem Menschen gehabt haben, und so hatte er mich vielleicht rufen lassen, nur um zu sprechen, zu sprechen, zu sprechen ...

Jedenfalls war er vor Aufregung ganz konfus und völlig bereit, sich vor mir womöglich auf die Kniee zu werfen, um mich – kaum glaublich aber wahr – um mich anzuflehen, sogleich zu Mademoiselle Blanche zu gehen und sie zu bewegen, zu bereden oder sonstwie zu veranlassen, ihn doch nicht zu verlassen, sondern – zu heiraten.

„Aber ich bitte Sie, General,“ rief ich ganz verdutzt, „Mademoiselle Blanche hat mich ja bisher vielleicht noch nicht einmal bemerkt! – was könnte ich da wohl ausrichten?“

Doch vergeblich war alles Widersprechen: er begriff überhaupt nicht, was ich sagte. Zwischendurch kam er auch auf die Babuschka zu sprechen, sprach aber wie ein Unzurechnungsfähiger und hing immer noch an dem Gedanken, sie durch die Polizei irgendwie unschädlich zu machen.

„Bei uns, bei uns,“ begann er plötzlich in einem Zornesausbruch, „mit einem Wort, bei uns in einem guteingerichteten Staat, in dem es auch wirklich eine Obrigkeit gibt, würde man solche alten Weiber ohne weiteres unter Kuratel stellen! Ja, fraglos, mein Herr, fraglos, sag ich Ihnen!“ fuhr er fort, plötzlich in einen vorwurfsvollen Ton verfallend, und er sprang auf, um im Zimmer hin und her zu gehen. „Das wußten Sie wohl noch nicht, mein Herr,“ wandte er sich an einen mir unsichtbaren Herrn in der Ecke des Zimmers, als stände dort wirklich jemand, der es noch nicht wußte, „ich sage es Ihnen, damit Sie es nun ein für allemal wissen ... ja ... bei uns wird mit alten Weibern dieses Schlages nicht viel Federlesens gemacht, krumm biegt man sie, krumm, sage ich Ihnen, einfach krumm ... Ja! ... O, hol’s doch der Teufel!“

Und er warf sich wieder auf den Diwan und nach einer Weile fuhr er fort – fast schluchzend – und erzählte mir, daß Mademoiselle Blanche ihn nur deshalb nicht heiraten wolle, weil anstatt der Depesche die Babuschka angekommen war und weil es jetzt doch klar sei, daß er nichts mehr erben werde. Er schien zu denken, daß ich noch nichts davon wisse. Ich begann von de Grillet zu sprechen, er aber winkte nur mit der Hand ab, als wolle er nichts von ihm hören:

„Der ist schon fort!“ sagte er. „Alles, was ich habe, habe ich ihm verpfändet, mir bleibt nichts! Jenes Geld, das Sie uns brachten ... jenes Geld – ich weiß nicht, wieviel davon noch da ist ... siebenhundert Franken oder so ungefähr – das ist alles, aber was weiter sein wird, das weiß ich nicht, das weiß ich nicht! ...“

„Aber womit werden Sie denn die Rechnung hier im Hotel bezahlen?“ fragte ich erschrocken, „und ... und was werden Sie dann anfangen?“

Er saß wie in Gedanken versunken und stierte vor sich hin, schien aber meine Frage ganz überhört und auch mich vergessen zu haben. Ich begann von Polina Alexandrowna und den Kindern zu sprechen, doch er sagte nur schnell: „Ja, ja!“ und fing wieder an, vom Fürsten zu reden und davon, daß Blanche jetzt mit diesem fortfahren werde und „dann ... und dann – was soll ich dann tun, Alexei Iwanowitsch?“ wandte er sich plötzlich wieder an mich. „Ich beschwöre Sie! Was soll ich tun, – sagen Sie, das ist doch blanke Undankbarkeit! Das ist doch eine so unfaßbare Undankbarkeit von ihr?“

Tränen stürzten ihm aus den Augen und er weinte wie ein Kind.

Es war nichts mehr zu machen mit ihm; aber ihn ganz allein zu lassen, war fast gefährlich: er konnte sich schließlich, weiß Gott, was antun. Übrigens machte ich mich doch irgendwie von ihm los, sagte aber der Kinderfrau, daß sie von Zeit zu Zeit nach ihm sehen solle und auch mit dem Hoteldiener, einem sehr verständigen Burschen, sprach ich unter vier Augen: er versprach gleichfalls, Ohren und Augen offen zu halten.

Ich war kaum in meinem Zimmer angelangt, als Potapytsch bei mir erschien und meldete, daß die Babuschka mich zu sich bitten lasse. Es war gegen acht Uhr und sie war gerade erst aus dem Kurhaus zurückgekehrt, nachdem sie dort alles verloren hatte.

Ich begab mich natürlich sogleich zu ihr: sie saß ganz erschöpft und sichtlich krank in ihrem Stuhl. Marfa reichte ihr Tee und suchte sie zu bereden, doch etwas zu trinken. Schließlich trank sie denn auch. Ihre Stimme und ihre ganze Redeweise hatten sich auffallend verändert.

„Guten Abend, Väterchen Alexei Iwanowitsch,“ sagte sie, langsam und würdevoll den Kopf neigend, „verzeihe, daß ich dich noch einmal beunruhigt habe, nimm du es einem alten Menschen nicht übel. Ich habe alles dort gelassen, mein Lieber, an hunderttausend Rubel. Recht hattest du, als du gestern nicht mitkamst. Jetzt bin ich ohne Geld, keinen Kopeken habe ich mehr bei mir. Bleiben will ich hier nicht eine Stunde länger als nötig; um halb zehn fahre ich. Ich habe zu diesem deinem Engländer geschickt, Astley, oder wie er da heißt, und will ihn um dreitausend Franken bitten, nur auf eine Woche. Du sprichst vielleicht mit ihm, damit er da nicht etwas denkt und sie mir abschlägt. Ich bin noch reich genug, Väterchen. Ich habe drei Güter und zwei Häuser. Und auch Geld wird sich noch finden, nicht alles hatte ich mitgenommen. Ich sage das deshalb, damit er da nicht irgendwie bedenklich wird. Ah, da ist er ja! Man sieht sogleich den guten Menschen.“

Mister Astley war auf ihre Bitte hin unverzüglich gekommen. Ohne sich einen Augenblick zu bedenken oder ein Wort zu verlieren, zählte er sogleich dreitausend Franken auf den Tisch und nahm den Wechsel in Empfang, den die Babuschka unterschrieb. Nachdem die Angelegenheit erledigt war, verabschiedete er sich und ging.

„Und jetzt geh auch du, Alexei Iwanowitsch. Es bleibt mir noch über eine Stunde bis zur Abfahrt – da will ich mich etwas hinlegen, meine Knochen tun mir weh. Sei mir alten Närrin nicht böse. Jetzt werde ich jungen Leuten nicht mehr ihren Leichtsinn vorwerfen. Und auch jenen Unglücklichen, euren General da, werde ich jetzt nicht mehr beschuldigen. Geld werde ich ihm freilich nicht geben, so wie er es will, denn – ich kann mir nicht helfen – er ist doch gar zu dumm. Nur bin auch ich alte Närrin nicht klüger als er. Ja, wie man sieht, sucht Gott einen auch in alten Jahren heim und bestraft die Stolzen. Nun, leb wohl. Marfuscha, hebe mich!“

Ich wollte sie aber doch noch zur Bahn begleiten. Außerdem war ich zu unruhig, um in meinem Zimmer zu sitzen: ich erwartete irgend etwas, das sogleich, unbedingt geschehen müsse. Das Warten aber hielt ich auch nicht aus, und so ging ich denn im Korridor auf und ab, ging sogar hinaus auf die Straße und ging die Allee hinauf und wieder zurück. Im Hotel hatte ich gehört, daß de Grillet abgereist sei.

„Mein Brief an sie ist doch deutlich,“ dachte ich, „sie sieht doch, daß ich entschlossen bin! Und die Katastrophe – die ist natürlich schon da. Jetzt, nachdem de Grillet sie auch noch verlassen hat! ... Nun gut, wenn sie mich auch als Freund verschmäht, so wird sie mich als Diener vielleicht doch noch nötig haben und nicht zurückweisen. Und wenn sie mich auch nur als Laufburschen gebraucht – gleichviel, ich weiß doch, daß ich ihr immerhin irgendwie zustatten kommen werde!“

Um neun Uhr dreißig war ich auf dem Bahnhof und half der Babuschka beim Einsteigen. Sie fuhr wieder mit ihren Dienstboten in einem besonderen Kupee.

„Hab Dank, Väterchen, für deine uneigennützige Teilnahme,“ sagte sie mir zum Abschied, „und sage Praskowja, daß sie nicht vergessen soll, was ich ihr gestern sagte, – ich werde sie erwarten.“

Ich kehrte ins Hotel zurück. Im Korridor kam mir die Kinderfrau entgegen – und ich erkundigte mich bei ihr nach dem General. „Ach, Väterchen, der hat sich was!“ meinte sie mit einem wehmütigen Lächeln. Trotzdem wollte ich doch auf einen Augenblick zu ihm gehen, aber – an der halb offenen Tür zu seinem Kabinett blieb ich geradezu erschrocken stehen: ich hörte Mademoiselle Blanche und den General förmlich um die Wette lachen und auch madame veuve de Cominges sah ich lächelnd auf dem Diwan sitzen. Der General war augenscheinlich vor Freude über ihren Besuch ganz sinnlos, schwatzte alles mögliche ungereimte Zeug zusammen und brach immer wieder in langes, nervöses Gelächter aus, wobei sein Gesicht sich in unzählige kleine Runzeln legte und seine Augen irgendwohin verschwanden. Später erzählte mir Blanche, daß es ihr, nachdem sie den Fürsten fortgejagt und von der Verzweiflung des Generals gehört hatte, ganz plötzlich in den Sinn gekommen sei, zu diesem zu gehen und ihn ein wenig zu trösten. Der arme General aber ahnte natürlich nicht, daß sein Schicksal bereits entschieden war, und Blanche ihre Sachen schon eingepackt hatte, um am nächsten Morgen mit dem Frühzuge nach Paris zu reisen.

Ich stand noch eine Weile auf der Schwelle, zog es aber vor, nicht einzutreten und entfernte mich unbemerkt. Als ich oben angelangt war und die Tür zu meinem Zimmer öffnete, sah ich im Halbdunkel plötzlich eine Gestalt, die am Fenster auf einem Stuhl saß. Sie erhob sich nicht, als ich eintrat. Sie rührte sich nicht. Ich trat, kurz entschlossen, schnell auf sie zu, sah sie ganz nah vor mir und – mein Atem stockte: es war Polina!

XIV.

Ich stieß einen Schrei aus.

„Was? Was ist?“ fragte sie seltsam. Sie war bleich und sah mich düster an.

„Ja ... Wie? Sie! Sie? Und Sie sind hier bei mir!“

„Wenn ich komme, dann komme ich ganz. Das ist meine Gewohnheit. Sie werden es sogleich erfahren; machen Sie Licht.“

Ich zündete eine Kerze an. Sie stand auf, trat an den Tisch und legte einen offenen Brief vor mich hin.

„Lesen Sie,“ befahl sie.

„Das, – das hat de Grillet geschrieben! Es ist seine Handschrift!“ rief ich aus und griff nach dem Brief. Meine Hände zitterten und die Buchstaben tanzten vor meinen Augen. Die französischen Redewendungen habe ich vergessen, aber der Sinn war folgender:

„Mademoiselle!“ schrieb de Grillet, „leider sehe ich mich durch ungünstige Umstände zu einer sofortigen Abreise gezwungen. Sie werden natürlich selbst bemerkt haben, daß ich absichtlich eine endgültige Aussprache mit Ihnen zu vermeiden gesucht, bevor sich nicht alles weitere entschieden hatte. Die Ankunft de la vieille dame, Ihrer Verwandten, und deren sinnlose Handlungsweise haben aber meinen Bedenken ein Ende gemacht. Meine eigenen zerrütteten Verhältnisse verbieten es mir ganz entschieden, mich noch fernerhin so süßen Hoffnungen hinzugeben, wie ich es eine Zeitlang getan. Ich bedauere das Gewesene, hoffe aber, daß Sie in meinem Verhalten nichts finden werden, das eines gentilhomme et honnête homme unwürdig wäre. Da ich fast mein ganzes Geld Ihrem Stiefvater geliehen und somit verloren habe, sehe ich mich gezwungen, das noch zu retten, was mir geblieben ist: ich habe meinen Freunden in Petersburg bereits depeschiert, daß sie zum Verkauf der mir verpfändeten Besitztümer schreiten sollen. Da ich aber weiß, daß Ihr leichtsinniger Stiefvater auch Ihr Geld verschwendet hat, so habe ich mich entschlossen, fünfzigtausend Franken von seiner Schuld zu streichen und ihm einen Teil des verpfändeten Eigentums in Höhe dieser Summe zu retournieren. Somit ist Ihnen jetzt die Möglichkeit gegeben, alles zurückzuerhalten, was für Sie sonst verloren wäre, indem Sie von ihm die Herausgabe des Geldes auf gerichtlichem Wege verlangen. Ich hoffe, Mademoiselle, daß meine Handlungsweise unter den gegenwärtigen Verhältnissen für Sie von großem Vorteil sein wird. Desgleichen hoffe ich, daß ich damit auch in Ihren Augen die Pflicht eines Ehren- und Edelmannes vollkommen erfüllt habe. Seien Sie versichert, daß die Erinnerung an Sie ewig in meinem Herzen leben wird.“

„Nun was, hier ist doch nichts mißzuverstehen!“ sagte ich, mich an Polina wendend, „oder sollten Sie wirklich etwas anderes von ihm erwartet haben?“ fragte ich geärgert.

„Ich habe nichts erwartet,“ erwiderte sie, scheinbar ganz ruhig, aber ihre Stimme klang, als zucke in ihr etwas, „ich hatte schon längst meinen Entschluß gefaßt. Ich hatte seine Gedanken erraten ... ich wußte, was er dachte. Er dachte, ich werde verlangen ... ich werde darauf bestehen ... daß ...“ Sie stockte, biß sich auf die Lippe und sprach es nicht aus. „Ich habe mit Absicht meine Verachtung für ihn verdoppelt,“ begann sie wieder, „und es ihm bei jeder Gelegenheit gezeigt, wie sehr ich ihn verachte – ich wollte sehen, was er wohl tun werde. Wenn wir die Nachricht von ihrem Tode und der Erbschaft erhalten hätten – so hätte ich ihm ins Gesicht geworfen, was ihm dieser Idiot, mein Stiefvater, schuldet, und hätte ihn fortgejagt! Er war mir schon lange, schon lange verhaßt! O, wie anders war er früher, wie ganz anders, tausendmal anders – jetzt aber, jetzt! ... O, mit welch einer Wonne würde ich ihm diese Fünfzigtausend in sein gemeines Gesicht schleudern und ... ihn anspeien! ... und ...“

„Aber das Papier – diese von ihm retournierte Schuldverschreibung auf Fünfzigtausend – die hat doch der General? So nehmen Sie sie und geben Sie ihm den Wisch zurück.“

„O, nicht das, nicht das ist es! ...“

„Ja, richtig, Sie haben recht, das ist es nicht! Und überhaupt – lassen wir den General aus dem Spiel! Aber die Babuschka?“ rief ich plötzlich.

Polina blickte mich wie zerstreut und ungeduldig an.

„Wozu die Babuschka?“ fragte sie ärgerlich, „ich kann nicht zu ihr gehen ... Und ich will auch niemand um Verzeihung bitten,“ fügte sie gereizt hinzu.

„Ja, aber was dann tun!“ rief ich. „Doch wie, wie ist es möglich, daß Sie einen de Grillet haben lieben können! O, dieses Subjekt, dieses verächtliche Subjekt! Wollen Sie, ich schieße ihn im Duell nieder! Wo ist er jetzt?“

„Er ist in Frankfurt. Er wird dort drei Tage bleiben.“

„Ein Wort von Ihnen und ich fahre hin, morgen mit dem ersten Zug!“ rief ich in einer seltsamen, geradezu dummen Anwandlung von Enthusiasmus.

Sie lachte mich aus.

„Nun und? – er würde ja womöglich noch sagen: geben Sie mir zuerst die Fünfzigtausend zurück. Und weshalb sollte er sich denn schlagen? ... Blödsinn!“

„Aber wo, wo soll man denn diese Fünfzigtausend hernehmen!“ fragte ich knirschend vor Wut – als hätte ich sie vom Fußboden aufraffen wollen! „Hören Sie: Mister Astley?“ wandte ich mich zu ihr mit einer plötzlich aufdämmernden seltsamen Idee.

Ihre Augen blitzten auf.

„Wie, willst du es denn selbst, daß ich von dir zu diesem Engländer gehe!“ sagte sie mit bitterem Lächeln und ihre Augen sahen mich durchdringend an. Es war das erste Mal, daß sie „Du“ zu mir sagte.

Ich glaube, sie wurde im Augenblick wie von einem Schwindel erfaßt: plötzlich sank sie auf den Diwan, als trügen die Füße sie nicht mehr.

Wie ein Blitz durchzuckte es mich. Ich stand und traute meinen Augen, meinen Ohren nicht! Wie, also mich liebte sie! Zu mir war sie gekommen, zu mir und nicht zu Mister Astley! Sie, ein junges Mädchen, kam ganz allein zu mir in mein Zimmer, und das noch dazu in einem Hotel – sie kompromittierte sich öffentlich – und ich, ich stand vor ihr und begriff noch immer nicht!

Ein wilder Gedanke durchzuckte mich.

„Polina! Gib mir nur eine Stunde Zeit! Warte hier nur eine Stunde auf mich, ich ... ich werde sogleich wieder hier sein! Das ... es ist notwendig! Du wirst sehen! Bleib hier, bleib hier!“

Und ich lief aus dem Zimmer ohne auf ihren erstaunt fragenden Blick zu achten, – sie rief mir noch etwas nach, aber ich kehrte mich nicht einmal um.

Ja, bisweilen kann sich der tollste Einfall, der anscheinend unsinnigste Gedanke so in uns festsetzen, daß man ihn zum Schluß selbst für ausführbar hält ... Mehr noch als das: wenn sich dieser Einfall oder diese Idee mit einem starken, leidenschaftlichen Wunsch vereint, so kann man mitunter fast zum Fatalisten werden und das Gewünschte für etwas geradezu Vorherbestimmtes halten, für etwas, das unbedingt geschehen muß und überhaupt nicht ungeschehen bleiben kann! Vielleicht ist hierbei noch etwas anderes mit im Spiel, irgendeine Kombination von Vorgefühlen, irgendeine außergewöhnliche Willensanspannung, eine Selbstvergiftung durch die eigene Phantasie oder sonst etwas – ich weiß es nicht. Mit mir aber geschah an jenem Abend – den ich bis an mein Lebensende nicht vergessen werde – etwas, das ich ein Wunder nennen möchte. Die Tatsache ist zwar mathematisch und logisch ganz plausibel, aber nichtsdestoweniger – für mich bleibt sie auch jetzt noch ein Wunder. Aber warum nur, frage ich noch, warum hatte sich damals, und schon seit langer Zeit, diese Überzeugung in mir so tief und unerschütterlich festgesetzt? Keinen Augenblick habe ich daran als an eine Möglichkeit unter anderen gedacht – also an eine, die ebensogut auch nicht eintreten könne –, sondern immer nur als an ein fest bevorstehendes Geschehnis, dessen Ausbleiben völlig ein Ding der Unmöglichkeit sei!

Es war ein Viertel auf elf. Ich betrat den Kursaal in einer ganz bestimmten und unerschütterlichen Hoffnung, und doch gleichzeitig in einer Aufregung, wie ich sie bis dahin noch nie empfunden hatte. Die Spielsäle waren noch ziemlich besetzt, wenn auch, wie das zu dieser Zeit immer der Fall war, um die Hälfte weniger als am Tage.

Um diese Zeit bleiben nämlich an den Spieltischen nur die wirklichen, die echten Spieler zurück, diejenigen, für die in den Bädern überhaupt nur die Spielsäle existieren, die alles andere kaum bemerken, die nur des Spieles wegen kommen, sich nur für das Spiel während der ganzen Saison interessieren, und die denn auch tatsächlich vom Morgen bis zum Abend zu spielen pflegen und gewiß bereit sein würden, auch noch die ganze Nacht zu spielen, wenn das nur möglich wäre. Wenigstens gehen sie immer unwillig fort, wenn um zwölf Uhr das Roulette geschlossen wird. Und wenn der Hauptcroupier vor dem Schluß ausruft: Les trois derniers coups, messieurs!“ so setzen sie auf diese drei letzten Spiele gewöhnlich alles, was sie noch bei sich haben – und gewöhnlich verspielen sie gerade dann das meiste.

Ich trat an denselben Tisch, an dem die Babuschka gespielt hatte. Das Gedränge war nicht groß, so daß ich mir bald einen Platz am Tisch verschaffen konnte. Ich spielte stehend. Gerade vor mir auf dem grünen Tuch las ich das Wort „passe“.

Unter „passe“ versteht man die Zahlen von neunzehn bis sechsunddreißig. Die erste Zahlenreihe von eins bis achtzehn heißt „manque“. Aber was ging das mich an! Ich berechnete nicht, ich dachte nicht an Chancen, ich wußte nicht einmal, welche Zahl oder welche Farbe vorher herausgekommen war und erkundigte mich nicht einmal danach, bevor ich zu spielen begann – wie es doch jeder nur etwas erfahrenere Spieler getan hätte. Ich zog alle meine zwanzig Friedrichsdor hervor und warf sie auf passe.

Vingt-deux!“ rief der Croupier.

Ich hatte gewonnen – und wieder setzte ich alles: den Einsatz und den Gewinn.

Trente et un,“ rief der Croupier.

Wieder gewonnen. Im ganzen hatte ich schon achtzig Friedrichsdor. Ich schob alle achtzig auf die zwölf mittleren Zahlen (dreifacher Gewinn, doch kamen auf eine Chance zu gewinnen, zwei Chancen zu verlieren). Das Rad drehte sich und es kam vierundzwanzig. Man schob mir drei Goldrollen à fünfzig Friedrichsdor und zehn Goldstücke zu; im ganzen besaß ich nun zusammen mit den früheren zweihundert Friedrichsdor.

Ich war wie im Fieber. Da schob ich diesen ganzen Geldhaufen auf Rot, – und plötzlich kam ich zur Besinnung! Und nur ein einziges Mal an diesem ganzen Abend, während der ganzen Zeit, in der ich spielte, überlief es mich kalt und ließ die Angst meine Hände und Füße erzittern. Entsetzen war das Gefühl der blitzartigen Erkenntnis: was es für mich bedeutete, jetzt zu verlieren! Mein Einsatz war doch mein ganzes Leben!

Rouge!“ rief der Croupier, – und – mein Herz schlug wieder! Feurige Ameisen liefen mir über den Körper. Man zahlte mir meinen Gewinn in Banknoten aus: im ganzen hatte ich schon viertausend Gulden und achtzig Friedrichsdor! Noch konnte ich der Berechnung folgen.

Dann, entsinne ich mich, setzte ich zweitausend Gulden wieder auf die zwölf mittleren Zahlen und verlor; ich setzte achtzig Friedrichsdor und verlor wieder. Da packte mich die Wut: ich raffte die letzten zweitausend Gulden zusammen und setzte sie auf die ersten zwölf – so, wie es gerade kam, ganz ohne Berechnung! Übrigens, es gab doch einen Augenblick der Erwartung, dessen Eindruck demjenigen vielleicht nicht unähnlich gewesen sein mag, den Mademoiselle Blanchard empfunden, als sie über Paris mit dem Luftballon zur Erde stürzte.

Quatre!“ rief der Croupier.

Mit dem Einsatz zusammen hatte ich nun wieder sechstausend Gulden. Jetzt war ich schon siegesgewiß, jetzt fürchtete ich nichts mehr, nichts, und ich warf viertausend Gulden auf Schwarz. Im Augenblick setzten etwa zehn Spieler mir nach ihre Einsätze gleichfalls auf Schwarz. Die Croupiers tauschten untereinander Blicke aus und besprachen sich. Ringsum Geflüster, Bewegung, Erwartung.

Es kam Schwarz. Was dann weiter folgte – alles dessen entsinne ich mich nicht mehr, weder der Höhe meiner Einsätze noch der Reihenfolge der Gewinne. Ich weiß nur noch, so, wie man sich etwa eines Traumes erinnert, daß ich – ich glaube wenigstens – bereits an sechzehntausend Gulden gewonnen hatte, als ich plötzlich durch drei Verluste zwölftausend von ihnen verlor; dann schob ich die letzten viertausend auf passe – doch empfand ich dabei so gut wie nichts: ich wartete nur, und zwar ganz mechanisch, ganz ohne Gedanken – und ich gewann wieder. Darauf gewann ich noch viermal nach der Reihe. Ich weiß nur, daß ich das Geld zu Tausenden zusammenscharrte; doch entsinne ich mich noch, daß am häufigsten die zwölf mittleren Nummern gewannen, denen ich deshalb aus Prinzip treu blieb. Sie gewannen fast ganz regelmäßig drei- bis viermal, dann zweimal nicht und dann wieder drei- oder viermal nach der Reihe. Es kommt mitunter wirklich zu einer ganz erstaunlichen Regelmäßigkeit in der Wiederkehr der Gewinne, – und das ist es gerade, was die eingefleischten Spieler, die mit dem Bleistift in der Hand die Chancen berechnen, vor den Kopf stößt. Und – o Gott! – welch eine Ironie des Schicksals man an Spieltischen oft beobachten kann!

Ich glaube, seit meinem Erscheinen im Saal war noch keine halbe Stunde vergangen: da wandte sich der Croupier zu mir und teilte mir mit, daß ich dreißigtausend Gulden, das Maximum, gewonnen habe, und daß, da die Bank auf einmal nicht mehr auszahle, das Roulette jetzt bis zum nächsten Morgen geschlossen werde. Ich scharrte all mein Gold zusammen, steckte es in meine Taschen, nahm die Banknoten und ging sogleich zum nächsten Roulette, das sich im anderen Saal befand. Alles drängte, stürmte mir nach. Dort wurde mir sofort Platz gemacht und ich begann wieder zu spielen, setzte das Geld ohne zu zählen, ohne zu denken. Ich begreife nicht, was mich rettete!

Zuweilen übrigens kam mir so etwas wie eine Erinnerung an Systeme und Berechnungen und ich dachte, daß ich ja doch auch berechnen müsse: dann hielt ich mich an gewisse Zahlen und erwog die Chancen, doch bald war wieder alles vergessen und ich spielte weiter – fast bewußtlos. Ich muß wohl sehr zerstreut gewesen sein: ich entsinne mich, daß die Croupiers mehrmals meine Einsätze korrigierten. Ich machte grobe Fehler. Meine Haare klebten an den Schläfen und meine Hände zitterten. Neben mir tauchten natürlich wieder die bewußten Polen auf und boten mir ihre Dienste an, doch ich bemerkte sie kaum. Das Glück verließ mich nicht. Plötzlich ringsum lautes Durcheinandersprechen und Lachen. „Bravo, bravo!“ hörte ich rufen und mehrere klatschten in die Hände.

Ich hatte auch hier dreißigtausend Gulden der Bank entrissen und das Roulette wurde auch hier bis zum nächsten Morgen geschlossen.

„Gehen Sie, gehen Sie fort!“ flüsterte mir von rechts jemand ins Ohr.

Es war ein Frankfurter Jude; er hatte die ganze Zeit neben mir gestanden und mir beim Spiel, glaube ich, hin und wieder geholfen.

„Um Gottes willen, gehen Sie fort!“ flüsterte flehentlich eine andere Stimme links von mir.

Ich sah flüchtig hin. Es war eine ganz unauffällig, doch sehr anständig gekleidete Dame von etwa dreißig Jahren mit einem krankhaft bleichen und müden Gesicht, dem man aber doch noch deutlich ansah, daß es einst wundervoll schön gewesen sein mußte. Ich stopfte gerade haufenweise Banknoten und Gold in meine Taschen. Ich nahm die letzte Goldrolle von fünfzig Friedrichsdor und – es gelang mir, sie ganz unbemerkt der bleichen Dame in die Hand zu drücken: mich überkam ein unbezwingbares Verlangen, es zu tun, und ihre dünnen Finger drückten heiß meine Hand zum Zeichen glühender Dankbarkeit. Alles das geschah in einem Augenblick.

Nachdem ich das Geld an mich genommen, ging ich zum Trente et quarante.

An diesem Tisch sitzt ausschließlich aristokratisches Publikum. Das ist kein Roulette, sondern ein Kartenspiel. Hier ist das Maximum, das ein Spieler gewinnen kann, hunderttausend Taler. Der höchste Einsatz ist aber gleichfalls viertausend Gulden. Ich kannte das Spiel noch nicht, ich wußte nur, daß man auch hier auf Rot und Schwarz setzen konnte. Daran hielt ich mich. Alles drängte sich um den Tisch, aus allen Sälen kamen sie. Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich während dieser ganzen Zeit auch nur einmal an Polina gedacht habe. Ich weiß nur, daß es mir ein so unsagbares Vergnügen war, ein Genuß geradezu, die Banknoten und das Geld zusammenzuscharren, die den Geldhaufen vor mir immer größer machten, immer größer.

Wirklich, es war, als triebe mich das Schicksal selbst. Gerade diesmal aber geschah etwas, das im Spiel übrigens ziemlich oft vorkommt: das Glück heftete sich an Rot und fünfzehnmal nach der Reihe kam Rot heraus. Ich hatte noch zwei Tage vorher gehört, daß Rot plötzlich zweiundzwanzigmal nach der Reihe gewonnen habe, was alle ganz verwundert erzählten, denn daß je ein solcher Fall vorgekommen war, dessen entsann man sich überhaupt nicht. Selbstverständlich wagt nach dem zehnten Mal niemand mehr auf Rot zu setzen. Aber auch auf Schwarz, das Gegenteil von Rot, setzt dann – wenigstens von erfahrenen Spielern – kein einziger. Diese wissen nur zu gut, zu was solch ein „Eigenwille des Zufalls“ mitunter auswachsen kann. Die Neulinge aber fallen gewöhnlich ausnahmslos herein, indem sie ihre Einsätze auf das Gegenteil – auf Schwarz z. B. – verdoppeln und verdreifachen und, versteht sich, bei der Gelegenheit riesige Summen verlieren.

Ich aber begann, als ich neben mir sagen hörte, daß Rot schon siebenmal nach der Reihe gewonnen habe, aus Eigensinn gerade auf Rot zu setzen. Doch bin ich überzeugt, daß wenigstens zur Hälfte Prahlerei und Eigenliebe, der Drang, sich hervorzutun, bei meinem Entschluß mitsprach: ich wollte die Zuschauer durch meinen unsinnigen Wagemut in Erstaunen setzen und – o, seltsam war die Empfindung – ich erinnere mich ganz deutlich, daß mich plötzlich ohne bestimmten Anlaß ein unbändiges Verlangen ergriff, zu wagen, immer mehr zu wagen. Vielleicht kam das daher, daß die Nerven, die schon soviel wirbelnde Empfindungen ausgekostet hatten, nur gereizt wurden, anstatt sich zu sättigen, und daher nur nach noch größerer Erregung verlangten, nach noch aufpeitschenderen Gefühlen, immer noch stärkeren Empfindungen, um dann endlich in vollständiger Erschöpfung ausruhen zu können. Und wirklich, ich lüge nicht, wenn ich sage, daß ich, falls es nur möglich gewesen wäre, fünfzigtausend Gulden auf einmal zu setzen – ich sie gesetzt hätte. Ringsum rief man erregt, es sei Wahnsinn, noch auf Rot zu setzen, schon vierzehnmal habe es gewonnen!

Monsieur a gagné déjà cent mille florins!“ hörte ich irgendwo eine Stimme.

Da kam ich zu mir. Wie? ich hatte schon hunderttausend Gulden gewonnen? Was mache ich mit soviel? Mehr habe ich ja gar nicht nötig! Ich raffte das ganze Geld, die Banknoten und das Gold zusammen, stopfte alles in meine Taschen, ohne es zu zählen, ohne darauf zu achten, daß ich so die Banknoten zerknitterte, und schritt fast wankend unter der Schwere des Goldes dem Ausgang des Kurhauses zu. Ringsum lachte man, während ich durch die Säle ging, über meine abstehenden Taschen. Ich glaube, das Gold wog reichlich über zwanzig Pfund. Mehrere Hände streckten sich mir entgegen; ich gab ohne zu zählen, wieviel die Hand aus der Tasche faßte. Am Ausgange hielten mich zwei Juden auf.

„Sie sind kühn! Sie sind sehr kühn!“ sagten sie, „aber fahren Sie morgen früh fort, so früh als möglich, sonst werden Sie alles wieder verspielen ...“

Ich hörte nicht auf sie. Die Allee war dunkel; es war so dunkel, daß man die Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Bis zum Hotel hatte ich etwa fünfhundert Schritt zu gehen. Ich habe mich nie vor Dieben oder Räubern gefürchtet, selbst als kleiner Junge nicht; ich dachte auch gar nicht an die Möglichkeit eines Überfalls, als ich hinaustrat. Übrigens entsinne ich mich nicht mehr, an was ich unterwegs dachte; ich glaube, ich hatte überhaupt keine Gedanken. Ich empfand nur so etwas wie das Auskosten eines Genusses – ein wundervolles Gefühl des Erfolges, des Sieges, der Macht – ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Auch Polinas Gestalt tauchte vor mir auf. Ich wußte, daß ich zu ihr ging, daß ich sogleich bei ihr sein und ihr erzählen, ihr das Geld zeigen würde ... Aber ich entsann mich kaum noch dessen, was sie mir dort in meinem Zimmer gesagt hatte und weshalb ich in die Spielsäle gegangen war, – und alle jene Gefühle, die noch vor anderthalb Stunden in mir getobt hatten, erschienen mir nun als etwas schon längst Vergangenes, Veraltetes, Beigelegtes – dessen wir jetzt doch überhaupt nicht mehr erwähnen würden, da ja nun ein ganz neues Leben begann. Ich hatte fast schon das Ende der Allee erreicht, als mich plötzlich Angst ergriff: „Wie, wenn man mich jetzt überfällt, totschlägt und beraubt!“ Und mit jedem Schritt wuchs die Angst. Ich lief fast. Da stand plötzlich am Ende der Allee unser Hotel vor mir, mit seinen hellen Fensterreihen ... Gott sei Dank – ich war in Sicherheit!

Ich eilte die Treppen hinauf zu meinem Zimmer und stieß die Tür auf. Polina war da: sie saß auf meinem Diwan, das brennende Licht vor sich auf dem Tisch, die Arme verschränkt. Verwundert sah sie mich an – natürlich werde ich in dem Augenblick seltsam genug ausgesehen haben. Ich blieb vor ihr stehen und begann, den ganzen Haufen Geld aus meinen Taschen auf den Tisch zu werfen.

XV.

Ich weiß noch, sie sah mir ins Gesicht, aber sie rührte sich nicht, nicht einmal ihre Stellung veränderte sie.

„Ich habe zweihunderttausend Franken gewonnen!“ sagte ich, indem ich die letzte Rolle auf den Tisch warf.

Die Banknoten, Goldstücke und Goldrollen bedeckten den ganzen Tisch; ich konnte meine Augen nicht abwenden von diesem Haufen und minutenlang vergaß ich ganz Polinas Anwesenheit ... Ich legte die Banknoten in einen Haufen aufeinander, versuchte das Gold zu sortieren, doch bald ließ ich alles liegen und begann, mit schnellen Schritten im Zimmer hin und her zu gehen, den Kopf wie in Gedanken gesenkt; dann trat ich plötzlich wieder an den Tisch und versuchte von neuem das Geld zu ordnen. Plötzlich, als käme ich jetzt erst zur Besinnung, stürzte ich zur Tür und verschloß sie schnell. Zweimal drehte ich den Schlüssel um. Dann blieb ich, noch immer wie in Gedanken versunken, vor meinem kleinen Koffer stehen.

„Oder soll ich es bis morgen in den Koffer legen?“ fragte ich, halb zu Polina gewandt, – und plötzlich, jetzt erst, erinnerte ich mich ihrer wieder und sah mich erschrocken nach ihr um.

Sie saß immer noch regungslos auf demselben Platz und beobachtete mich unausgesetzt, ohne den Blick auch nur einmal von mir abzuwenden. Es lag etwas Eigentümliches in ihrem Gesichtsausdruck, etwas, das mir sehr mißfiel. Ich täusche mich wohl nicht, wenn ich sage, daß Haß in ihm lag.

Ich trat schnell zu ihr.

„Polina, hier sind fünfundzwanzigtausend Gulden, das sind fünfzigtausend Franken, – sogar mehr. Nehmen Sie sie und werfen Sie sie ihm morgen ins Gesicht.“

Sie antwortete nicht.

„Wenn Sie wollen, werde ich sie ihm selbst bringen, morgen früh. Ja?“

Sie begann plötzlich zu lachen. Lange lachte sie.

Verwundert sah ich sie an und ein wehes Gefühl stieg in mir auf. Dieses Lachen erinnerte mich an ihr oft gehörtes spöttisches Lachen, in das sie jedesmal ausgebrochen war, wenn ich am leidenschaftlichsten von meiner Liebe zu ihr gesprochen hatte. Endlich hörte sie auf und wurde ernst. Mit strengem, bösem Blick, unter der Stirn hervor, betrachtete sie mich prüfend.

„Ich nehme Ihr Geld nicht,“ sagte sie mit unverhohlener Verachtung.

„Wie? Was soll das? Warum denn nicht, Polina?“

„Umsonst nehme ich kein Geld.“

„Aber ich biete es Ihnen doch als Freund an, ich bin bereit, mein Leben für Sie hinzugeben!“ ...

Sie sah mich mit einem langen forschenden Blick an, als wolle sie mein Innerstes durchschauen.

„Sie bieten zuviel,“ sagte sie, kurz auflachend, „die Geliebte von de Grillet ist nicht fünfzigtausend Franken wert.“

„Polina, wie können Sie so sprechen!“ rief ich empört. „Bin ich denn de Grillet?“

„Ich hasse Sie! Ja ... ja! ... Ich liebe Sie nicht mehr als de Grillet!“ rief sie zitternd und ihre Augen blitzten.

Plötzlich bedeckte sie das Gesicht mit den Händen und brach in hysterisches Weinen aus. Ganz erschreckt trat ich zu ihr.

Ich sagte mir, daß während meiner Abwesenheit etwas mit ihr geschehen sein müsse. Sie schien jedes seelische Gleichgewicht verloren zu haben. Wie eine Irre war sie.

„Kaufe mich! Willst du? Willst du? für fünfzigtausend Franken wie de Grillet!“ stieß sie plötzlich unter krampfhaftem Schluchzen hervor.

Ich umfing sie, küßte sie, küßte ihre Hände, ihre Füße, fiel vor ihr auf die Kniee.

Ihr Nervenanfall ging vorüber. Sie legte beide Hände auf meine Schultern und betrachtete mich aufmerksam. Ich glaube, sie wollte alle meine Gefühle von meinem Gesicht ablesen. Sie hörte mir wohl zu, aber sie schien nicht zu verstehen, was ich ihr sagte. In ihren Augen lag eine Sorge und sie starrte vor sich hin wie in Gedanken versunken. Ich fürchtete entschieden schon für ihren Verstand. Sie begann, mich leise an sich zu ziehen, ein vertrauensvolles Lächeln huschte über ihr Gesicht; dann aber stieß sie mich wieder fort und wieder begann sie, mit düsterem Blick mir regungslos in die Augen zu schauen.

Plötzlich beugte sie sich zu mir und schlang die Arme um meinen Hals.

„Du liebst mich doch, liebst mich?“ fragte sie, „du wolltest doch, du wolltest ... dich doch mit dem Baron um meinetwillen schlagen! ...“

Und sie lachte auf und lachte – ganz als sei ihr plötzlich etwas Lachhaftes und doch Liebes eingefallen. Und so ging es fort, – bald weinte, bald lachte sie, oder sie tat beides zugleich. Was sollte ich anfangen? Ich war ja selbst wie im Fieber. Ich weiß noch, sie wollte mir etwas erzählen, aber ich wurde nicht klug aus ihren Worten. Es hörte sich fast wie Fieberdelirien an, die dann wieder vom ausgelassensten Lachen unterbrochen wurden. Dieses Lachen begann mich nachgerade zu ängstigen.

„Nein, nein, du bist mein Lieber, mein Lieber, du!“ schmeichelte sie dann wieder. „Du mein Treuer!“ Und wieder legte sie ihre Hände auf meine Schultern, wieder sah sie mir tief in die Augen und – „Du liebst mich ... liebst mich doch ... wirst mich lieben? ... Ja?“ fragte sie.

Ich wandte meine Augen nicht von ihr ab; noch nie hatte ich sie in einem ähnlichen Anfall von Zärtlichkeit und Liebe gesehn. Das war natürlich das Fieber ... doch als sie meinen leidenschaftlichen Blick bemerkte, lächelte sie arglistig; und plötzlich begann sie ganz unvermittelt von Mister Astley zu sprechen.

Übrigens sprach sie ununterbrochen von Mister Astley – was es gerade war, das weiß ich nicht mehr, ich wurde auch damals nicht klug aus ihren Worten. Ich glaube, sie machte sich sogar lustig über ihn. Jedenfalls aber wiederholte sie immer, daß er warte, – „weißt du es nicht? Sicherlich steht er jetzt unter unserem Fenster! Ja, ja, unter dem Fenster – geh nur, geh, sieh nach, überzeuge dich: er steht unten auf der Straße!“ Und sie stieß mich zum Fenster, doch als ich hingehen wollte, begann sie zu lachen und ich blieb bei ihr und sie schlang wieder die Arme um meinen Hals.

„Wir fahren fort? Wir fahren doch morgen fort von hier?“ kam es ihr plötzlich in den Sinn und sie wurde unruhig. „Nun ...“ und sie wurde nachdenklich, – „nun, aber was meinst du, werden wir die Großtante noch einholen? In Berlin, denke ich, werden wir sie einholen. Was meinst du, was wird sie sagen, wenn sie uns erblickt? Aber Mister Astley? ... Nein, der würde nicht vom Schlangenberg hinabspringen! Was meinst du?“ Und sie begann wieder zu lachen. „Höre – weißt du’s schon, wohin er im nächsten Sommer fahren wird? Also höre: er will an den Nordpol, zu wissenschaftlichen Zwecken, und er forderte mich auf, mitzufahren, hahaha! Er sagt, daß wir Russen ohne die Europäer nichts wüßten und zu nichts fähig seien ... Aber er ist ein guter Mensch! Weißt du, er entschuldigt den General. Er sagt, daß Blanche ... daß die Leidenschaft ... nein, ich weiß nicht mehr, wie es war, ich hab’s vergessen ... Die Armen, wie sie mir alle leid tun, auch Babuschka ... Doch höre, sag nur, wie wirst du denn de Grillet niederschießen? Glaubtest du wirklich? Wie konntest du nur glauben, ich würde es zulassen, daß du dich mit de Grillet schlägst? O du dummer Junge du! Wie konntest du nur! Aber du würdest ja auch den Baron nicht töten,“ – und sie begann wieder zu lachen. „O, wie du damals komisch warst mit dem Baron, haha! Ich beobachtete euch beide von der Bank aus, – und wie du nicht gehen wolltest, als ich dich schickte, weißt du noch! Wie ich damals gelacht habe, o! wie ich damals gelacht habe!“ Und sie lachte.

Und plötzlich umarmte sie mich wieder und küßte mich und schmiegte leidenschaftlich und zärtlich ihr Gesicht an mein Gesicht. Ich dachte nichts mehr und ich hörte nichts mehr. Ein Schwindel erfaßte mich ...

Ich glaube, es war gegen sieben Uhr morgens, als ich erwachte; die Sonne schien ins Zimmer. Polina saß neben mir und blickte sich seltsam um, als käme sie jetzt erst aus einer dunklen Bewußtlosigkeit zu sich und als versuchte sie ihre Erinnerungen zu sammeln. Sie war gleichfalls erst jetzt erwacht und sah starr auf den Tisch und das Geld. Mein Kopf war schwer und schmerzte. Ich wollte ihre Hand ergreifen: sie stieß mich zurück und sprang vom Diwan auf. Der beginnende Tag war trübe, vor Sonnenaufgang mußte es geregnet haben. Sie trat ans Fenster, öffnete es, stützte die Hände auf das Fensterbrett und bog sich dann weit hinaus; und so blieb sie eine Weile regungslos stehen, ohne sich nach mir umzuwenden oder darauf zu achten, was ich sagte. Mit Schrecken fragte ich mich: was wird jetzt werden, wie wird das enden? Plötzlich richtete sie sich wieder auf, trat vom Fenster an den Tisch und, indem sie mich mit unendlichem Haß anblickte, sagte sie mit boshaft zitternden Lippen:

„Nun, so gib mir jetzt meine fünfzigtausend Franken!“

„Polina, was soll das schon wieder?“ ... wollte ich vorwurfsvoll beginnen.

„Oder hast du dich bedacht? Hahaha! Dir tut es vielleicht schon leid?“

Die fünfundzwanzigtausend Gulden lagen abgezählt und noch unangerührt auf dem Tisch; ich nahm sie und reichte sie ihr.

„So, jetzt gehören sie doch mir? Nicht wahr? Ganz mir?“ fragte sie mich boshaft, das Geld vor sich in der Hand haltend.

„Sie haben dir von Anfang an gehört,“ sagte ich.

„Nun, dann – da hast du deine fünfzigtausend Franken!“

Sie holte aus und schleuderte sie mir ins Gesicht. Das Paket traf mich schmerzhaft mitten in der Stirn und fiel zerflatternd zu Boden. Nachdem Polina es geworfen, lief sie aus dem Zimmer.

Ich weiß natürlich, sie war in diesem Augenblick nicht zurechnungsfähig, wenn mir auch dieses zeitweilige Irresein in seinen Gründen und Anlässen nicht ganz verständlich wurde. Allerdings ist sie auch jetzt noch krank, obschon seitdem ein ganzer Monat vergangen ist. Was aber war die Ursache dieses ganzen Zustandes und namentlich dieses letzten Ausfalles? Gekränkter Stolz? Verzweiflung darüber, daß sie zu mir gekommen war? Oder hatte ich den Anschein erweckt, als wollte ich mit meinem Glück großtun und im Grunde mich ebenso wie de Grillet von ihr losmachen, indem ich ihr fünfzigtausend Franken schenkte? Aber das war doch gar nicht der Fall! ich kann es schwören! bei meinem Gewissen schwören! Ich denke schließlich, schuld daran war, wenigstens zum Teil, ihre Eitelkeit, die ihr eingeflüstert haben mochte, mir nicht zu glauben und mich zu beleidigen – wenn sie sich auch vielleicht selbst nicht ganz verstand. In dem Fall bin ich für sie wirklich nur der Vertreter von de Grillet gewesen, und meine eigene Schuld war dann nicht gar so groß. Freilich war das alles ja nur auf ihren krankhaften Zustand zurückzuführen. Ich aber hatte gewußt, daß es bei ihr Fieberphantasie war und ... ich hatte diesen Umstand doch nicht weiter berücksichtigt. Vielleicht ist es das, was sie mir jetzt nicht verzeihen kann? Ja, mag sein – jetzt! Aber damals, damals! So krank war sie doch ganz gewiß nicht, daß sie vollständig vergessen haben konnte, was sie tat, als sie mit dem Brief von de Grillet zu mir kam. Folglich, folglich – wußte sie, was sie tat.

Ich kramte schnell den ganzen Geldhaufen zusammen und versteckte alles im Bett unter der Matratze, deckte dann das Bett wieder zu, so wie es gewesen war, und trat, etwa zehn Minuten nachdem Polina hinausgelaufen war, aus meinem Zimmer. Ich war überzeugt, daß sie in ihr Zimmer gegangen, und wollte mich daher unauffällig ins Vorzimmer schleichen, um mich bei der Kinderfrau nach dem Befinden des Fräuleins zu erkundigen. Wie groß war aber meine Verwunderung, als ich von der Kinderfrau, die mir auf der Treppe entgegen kam, erfuhr, daß das Fräulein überhaupt noch nicht zurückgekehrt sei und daß sie, die Kinderfrau, sich gerade zu mir habe begeben wollen, um Polina zu rufen.

„Aber sie ist ... sie ist doch vor kaum zehn Minuten erst von mir fortgelaufen, wo kann sie denn geblieben sein?“ fragte ich ganz ratlos.

Die Kinderfrau sah mich vorwurfsvoll an.

Das Hotelpersonal schien aber schon alles zu wissen. In der Portierloge und in der Kammer des Oberkellners flüsterte man sich zu, daß das Fräulein um sechs Uhr morgens aus unserem Hotel in den Regen hinausgelaufen und in der Richtung zum Hotel d’Angleterre weitergelaufen sei. Aus ihren Andeutungen und Mienen erriet ich, daß sie bereits wußten, daß Polina die Nacht in meinem Zimmer zugebracht hatte. Übrigens unterhielt man sich über die ganze Familie des Generals: man sprach davon, daß der General am Abend wie ein Irrsinniger geweint hatte und daß die Babuschka seine Mutter gewesen sei, die aus Rußland die weite Reise gemacht habe, um ihrem Sohn ausdrücklich zu verbieten, Mademoiselle de Cominges zu heiraten, und daß sie ihn nun zur Strafe für seinen Ungehorsam enterben werde. Deshalb habe sie dann ihr ganzes Geld verspielt, damit für ihn nichts mehr übrigbliebe.

„Diese Russen!“ wiederholte der Oberkellner nach jeder weiteren Neuigkeit mit mißbilligendem Kopfschütteln. Die anderen lachten. Der Hotelverwalter stellte die Rechnung aus. Von meinem Gewinn hatte man gleichfalls schon gehört: Karl, mein Zimmerdiener, war der erste, der gratulierte. Ach, hol’ sie der Teufel, was gingen sie mich an! Ich eilte ins Hotel d’Angleterre.

Es war noch früh am Morgen. Mister Astley empfing niemanden; als er jedoch hörte, daß ich es sei, der ihn sprechen wollte, trat er aus seinem Zimmer in den Korridor und blieb vor mir stehen, sah mich mit seinem bleiernen Blick an und erwartete ruhig, was ich sagen würde. Ich fragte ihn nach Polina.

„Sie ist krank,“ sagte er, ohne mit einer Wimper zu zucken oder den Blick von mir abzuwenden.

„So ist sie jetzt wirklich bei Ihnen?“

„O, ja, sie ist bei mir.“

„Ja, wie? ... haben Sie denn die Absicht, sie bei sich zu behalten?“

„O, ja, die habe ich.“

„Mister Astley, das wird einen Skandal geben, das geht doch nicht! Und ganz abgesehen davon – sie ist doch krank! – Sie haben das vielleicht noch nicht bemerkt?“ ...

„O, ja, ich habe es sehr wohl bemerkt und es Ihnen soeben bereits selbst gesagt. Wäre sie nicht krank, so hätte sie doch ganz sicherlich nicht die Nacht bei Ihnen verbracht.“

„So wissen Sie auch das schon?“

„Ich weiß es. Sie wollte schon gestern zu mir kommen und ich hätte sie dann zu meiner Verwandten gebracht, da sie aber krank war, verirrte sie sich und ging zu Ihnen.“

„Denken Sie doch! Nun, ich gratuliere Ihnen, Mister Astley. Apropos, Sie bringen mich auf einen Gedanken: standen Sie nicht die ganze Nacht unter dem Fenster? Miß Polina wollte in der Nacht immer wieder, daß ich das Fenster öffne und hinaussähe, ob Sie nicht unter dem Fenster ständen. Dabei lachte sie unaufhörlich.“

„Wirklich? Nein, ich stand nicht unter dem Fenster; ich wartete nur im Korridor und ging um das Hotel herum.“

„Aber man muß doch etwas für ihre Gesundheit tun, Mister Astley.“

„O, ja, ich habe schon einen Arzt rufen lassen, und wenn sie stirbt, werden Sie mir Rechenschaft geben.“

Ich sah ihn fragend an.

„Ich bitte Sie, Mister Astley, was wollen Sie?“

„Ist es wahr, daß Sie gestern zweihunderttausend Taler gewonnen haben?“

„Im ganzen nur hunderttausend Gulden, ja.“

„Nun, sehen Sie! Dann fahren Sie also heute nach Paris!“

„Wozu das?“

„Alle Russen reisen, wenn sie Geld haben, nach Paris,“ erklärte Mister Astley mit einer Stimme und in einem Ton, als lese er es irgendwo gedruckt.

„Was soll ich jetzt im Sommer in Paris machen? Ich liebe sie, Mister Astley! Sie wissen es doch.“

„Wirklich? Ich bin überzeugt, daß das nicht der Fall ist. Überdies werden Sie, wenn Sie hier bleiben, unfehlbar alles wieder verspielen und dann hätten Sie nichts, womit Sie nach Paris fahren könnten. Nun, adieu, ich bin fest überzeugt, daß Sie heute nach Paris reisen werden.“

„Nun, gut, adieu, nur werde ich bestimmt nicht nach Paris reisen. Bedenken Sie doch nur, Mister Astley, was jetzt aus der ganzen Familie werden soll! Der General ist in einem Zustande, der ... und jetzt noch dieses mit Miß Polina – die ganze Stadt wird doch darüber sprechen!“

„Ja, die ganze Stadt. Der General übrigens, der scheint jetzt nicht daran zu denken, er hat anderes im Sinn. Miß Polina aber hat das volle Recht, zu leben, wo es ihr gefällt. Und was diese Familie sonst noch betrifft, so kann man sagen, daß sie als solche aufgehört hat, zu existieren.“

Ich ging und lachte innerlich über die verrückte Annahme dieses Engländers, daß ich jetzt im Sommer nach Paris reisen würde. „Aber er scheint Lust zu haben, mich im Duell niederzuschießen,“ dachte ich, „wenn Polina stirbt, – eine nette Bescherung!“ Ich schwöre es: Polina tat mir wirklich leid, aber seltsam – von dem Augenblick an, als ich an den Spieltisch getreten war und das Geld nur so zusammengescharrt hatte, war meine Liebe gewissermaßen zurückgetreten. Das sage ich allerdings jetzt: damals jedoch war ich mir alles dessen durchaus nicht so klar bewußt. Oder sollte ich wirklich ein Spieler sein, sollte ich wirklich ... so seltsam Polina geliebt haben? Nein, ich liebe sie auch heute noch, Gott weiß es! Damals aber, als ich Mister Astley verließ und in unser Hotel zurückkehrte, litt ich aufrichtig und machte mir die bittersten Vorwürfe. Doch ... doch da kam etwas ganz Unvorhergesehenes dazwischen, etwas, das eine ganze lange dumme Geschichte zur Folge hatte.

Ich stieg die Treppen hinauf und bog in den Korridor ein, um mich zum General zu begeben, als sich plötzlich eine Tür öffnete und jemand mich bei meinem Namen rief. Es war madame veuve de Cominges, die mich bat, zu Mademoiselle Blanche zu kommen. Ich trat ein.

Sie bewohnten nur zwei Zimmer. Ich hörte die Stimme und das Lachen der Mademoiselle Blanche aus ihrem Schlafzimmer. Sie schien noch im Bett zu sein.

A, c’est lui! Viens donc! Ist es wahr, que tu as gagné une montagne d’or et d’argent? J’aimerais mieux l’or.

„Ja,“ sagte ich lachend.

„Wieviel?“

„Hunderttausend Gulden.“

Bibi, comme tu es bête. Aber so komm doch her, ich höre ja nichts. Nous ferons bombance, n’est-ce pas?

Ich trat in ihr Schlafzimmer. Sie lag unter einer rosa Atlasdecke, die aber ihre bräunlichen, runden wundervollen Schultern nicht bedeckte – Schultern, wie man sie allenfalls im Traum sieht, und deren Schönheit noch erhöht wurde durch die blendendweiße, spitzenbesetzte Batistwäsche, die wundervoll den bräunlichen Farbenton ihrer Haut zur Geltung brachte.

Mon fils, as-tu du coeur?“ rief sie lachend, als sie mich erblickte. Gewöhnlich lachte sie ansteckend lustig und mitunter sogar herzlich.

Tout autre ...“ wollte ich beginnen, Corneille zu paraphrasieren, doch sie unterbrach mich.

„Siehst du, vois-tu,“ plapperte sie drauf los, „zuerst such mir meine Strümpfe auf und hilf mir beim Ankleiden; und dann – si tu n’es pas trop bête, je te prends à Paris. Du weißt doch, ich reise sogleich ab.“

„Sogleich?“

„In einer halben Stunde.“

In der Tat, es war alles schon eingepackt. Alle ihre Koffer und Kartons standen bereit und das Frühstück hatte sie schon eingenommen.

Eh bien, willst du, tu verras Paris? Dis donc qu’est-ce que c’est qu’un outchitel? Tu étais bien bête quand tu étais outchitel. Wo sind denn meine Strümpfe? Nun, zieh sie mir an, da!“

Und sie streckte wirklich ein entzückendes braunes kleines Füßchen unter der Decke hervor, eines, das gar nicht durch enges Schuhwerk entstellt war, wie es sonst alle diese Füße sind, die in den Stöckelschuhen so klein aussehen. Ich machte mich lachend daran, den seidenen Strumpf überzuziehen. Mademoiselle Blanche saß währenddessen auf dem Bett und plauderte ganz harmlos weiter:

Eh bien, que feras-tu, si je te prends avec moi? Erstens – je veux cinquante mille francs. Die gibst du mir in Frankfurt. Et nous allons à Paris; dort leben wir dann zusammen et je te ferai voir des étoiles en plein jour. Du sollst dort solche Damen kennen lernen, wie du sie bisher noch nie gesehen hast. Höre ...“

„Wart mal: also ich soll dir fünfzigtausend Franken geben – aber wofür und was bleibt mir dann übrig?“

Les cent cinquante mille francs, die du wohl vergessen hast, und außerdem willige ich doch ein, in deiner Wohnung zu wohnen, sagen wir, einen, zwei Monate – que sais-je! Die Hundertfünfzigtausend werden wir natürlich verleben in diesen zwei Monaten. Siehst du, je suis bonne enfant und sage es dir im voraus, mais tu verras des étoiles.“

„Was, alles in zwei Monaten!“

„Wie! Das wundert dich? Ah, vil esclave! Weißt du auch, daß ein einziger Monat eines solchen Lebens mehr wert ist als dein ganzes Dasein! Ein Monat – et après le déluge! Mais tu ne peux comprendre, va! Geh, marsch, du bist es überhaupt nicht wert! ... Ah, que fais-tu?“

Ich zog ihr gerade den anderen Strumpf an, konnte mich aber nicht bezwingen und küßte das Füßchen. Sie riß es weg und wollte mir mit der Fußspitze ins Gesicht schlagen. Ich solle mich zum Teufel scheren, rief sie, doch schon im nächsten Augenblick tat es ihr leid und sie rief mir nach:

Eh bien, mon outchitel, je t’attends, si tu veux; in einer Viertelstunde fahre ich!“

Als ich in meinem Zimmer anlangte, war ich schon wie von einem Schwindel erfaßt. Nun ja, es war doch nicht meine Schuld, daß Mademoiselle Polina mir ein ganzes Geldpaket ins Gesicht geworfen und noch tags zuvor den Mister Astley mir vorgezogen hatte! Ein paar Banknoten lagen noch auf dem Fußboden. Ich hob sie auf. Da ging die Tür auf und der Hotelverwalter, der mich bis dahin kaum zu beachten geruht hatte, erschien in höchst eigener Person in meinem Zimmer, und zwar: um sich zu erkundigen, ob ich nicht vielleicht in eines der Appartements der unteren Stockwerke übersiedeln wolle, zumal im Augenblick eines der besten frei geworden sei, in dem soeben noch Graf W. gewohnt hatte.

Ich stand, dachte.

„Meine Rechnung!“ rief ich, „ich reise sogleich – in zehn Minuten!“

Bei mir dachte ich:

„Egal, dann reise ich eben nach Paris! – wenn’s das Schicksal mal so will!“

Nach einer Viertelstunde saßen wir tatsächlich alle drei im Eisenbahnkupee: ich, Mademoiselle Blanche und madame veuve de Cominges. Mademoiselle Blanche saß mir vis-à-vis, sah mich an und lachte Tränen. Madame veuve de Cominges lachte gleichfalls. Ich kann nicht behaupten, daß ich fröhlich war. Mein Leben brach auseinander, doch seit der letzten Nacht hatte ich mich daran gewohnt, va banque zu spielen. Vielleicht ist es wirklich wahr, daß ich dem Gelde nicht gewachsen war und es mir nur so den Kopf verdrehte, daß mir schwindelig wurde. Peut-être, je ne demandais pas mieux. Es schien mir, daß sich nur die Dekorationen für kurze Zeit veränderten – nur für kurze Zeit. „Nach einem Monat aber werde ich wieder hier sein, und dann ... und dann werden wir uns noch einmal messen, Mister Astley!“ dachte ich.

Wie ich mich jetzt entsinne, war mir damals doch unsagbar weh zumut, obschon ich mit der Blanche ordentlich um die Wette lachte.

„Aber weshalb lachst du denn? Wie dumm du bist! Oh mon Dieu, wie dumm du bist!“ rief Blanche, die für einen Augenblick das Lachen vergaß und mich im Ernst zu schelten begann. „Nun ja, nun ja, ja, wir werden deine zweihunderttausend Franken verleben, mais tu seras heureux comme un petit roi. Ich werde dir eigenhändig die Krawatte binden, wenn du willst, und ich werde dich mit Hortense bekannt machen. Wenn wir aber alles verlebt haben, kommst du wieder her und sprengst noch einmal die Bank. Was haben die Juden gesagt? Die Hauptsache ist: Mut – und den hast du! Oh, du wirst mir nicht nur dieses eine Mal Geld nach Paris bringen! Quant à moi je veux cinquante mille francs de rente et alors ...“

„Aber der General?“ unterbrach ich sie.

„Der General, du weißt doch, geht jeden Tag um diese Zeit aus, um die Blumen für mich zu besorgen. Heute sollte er mir, habe ich ihm gestern gesagt, ganz besonders seltene Blumen bringen. Der Arme! Wenn er zurückkehrt, wird er erfahren, daß der Vogel schon aus dem Bauer geflogen ist. Er wird uns nachreisen, du wirst sehen. Hahaha! Ich werde sehr froh darüber sein. In Paris wird er mir zustatten kommen. Hier wird Mister Astley für ihn bezahlen ...“

Und so kam es denn, daß ich damals wirklich nach Paris fuhr.

XVI.

Was soll ich von Paris sagen? Alles das war natürlich halb Fiebertraum, halb Blödsinn. Drei Wochen und ein paar Tage verlebte ich in Paris, und in dieser Zeit waren meine hunderttausend Franken restlos verausgabt. Ich rede nur von dem einen Hunderttausend; das andere Hunderttausend habe ich in barem Gelde Blanche gegeben: fünfzigtausend Franken in Frankfurt, und drei Tage später in Paris einen Wechsel wieder auf fünfzigtausend Franken, für dessen Tilgung sie aber nach einer Woche das bare Geld von mir verlangte, – „et les cent mille francs, qui nous restent,“ sagte sie mir bei der Gelegenheit, „tu les mangeras avec moi, mon outchitel.“ Sie nannte mich nie anders als „mon outchitel“.

Es ist schwer, sich etwas Geizigeres, Berechnenderes und Knauserigeres vorzustellen als es diese Geschöpfe von der Art der Mademoiselle Blanche sind. Natürlich nur, was ihr eigenes Geld betrifft! Mit meinem Gelde dagegen pflegte sie ganz anders umzugehen. Die hunderttausend Franken z. B., die mir geblieben waren, knüpfte sie mir nach und nach gleichfalls ab, und zwar mit der Begründung, daß sie sie unbedingt nötig habe, um sich in Paris erst einmal einzurichten. Später erklärte sie mir: „Aber jetzt habe ich auch ein für allemal hier Fuß gefaßt, jetzt wird mich niemand mehr so leicht aus meiner Position drängen, – wenigstens habe ich meine Vorkehrungen getroffen.“

Übrigens habe ich diese Hunderttausend kaum zu Gesicht bekommen, denn das Geld bewahrte sie auf, und in meinem Portemonnaie, das sie täglich untersuchte, sammelte sich nie mehr an als – hundert Franken, gewöhnlich aber nicht einmal soviel.

„Wozu brauchst du Geld?“ fragte sie zuweilen mit der naivsten Miene, und ich widersprach ihr nicht. Dafür aber richtete sie ihre Wohnung sehr, ich sage sehr vorteilhaft ein, und als sie mich dann durch alle Zimmer ihres neuen Heims führte, konnte sie mit einer gewissen nicht unerheblichen Selbstzufriedenheit sagen: „Sieh, was man, wenn man zu rechnen versteht und Geschmack hat, mit den lumpigsten Mitteln machen kann!“ Diese Lumpigkeit kostete aber nichtsdestoweniger rund fünfzigtausend Franken. Für die anderen fünfzigtausend Franken schaffte sie sich eine Equipage und Pferde an, außerdem gaben wir zwei Bälle oder vielmehr Soireen, zu denen auch Hortense und Lisette und Cléopatre eingeladen wurden – Damen, die in vielen, in sehr vielen Beziehungen bemerkenswert waren und aussahen. An diesen Abenden war ich gezwungen, die höchst dumme Rolle eines Hausherrn zu spielen, reich gewordene, doch stumpfsinnig gebliebene Geschäftsleute zu empfangen und zu unterhalten, desgleichen in ihrer Unwissenheit und zugleich Schamlosigkeit unerträgliche unbedeutende Leutnants und verschiedene kleine Autoren und Zeitungsmenschen, die in Fracks nach neuester Mode und mit hellgelben Glacéhandschuhen erschienen und sich mit einer Eigenliebe und Aufgeblasenheit brüsteten, wie es in dem Maße sogar bei uns in Petersburg undenkbar wäre – das aber will viel sagen. Sie ließen es sich sogar einfallen, über mich zu lachen, doch ich zog mich bald in eines der hinteren Zimmer zurück und trank Champagner. Alles das war mir im höchsten Grade widerlich.

C’est un outchitel,“ erzählte derweilen Blanche ihren Gästen, „il a gagné deux cent mille francs, die er ohne mich nicht auszugeben verstände. Nachher wird er wieder outchitel, – weiß nicht jemand von Ihnen eine Stelle für ihn? Man muß etwas für ihn tun.“

Ich nahm allmählich immer öfter meine Zuflucht zum Champagner. Ich war dabei beständig traurig gestimmt ... und dann – dann war es auch so furchtbar langweilig! Ich lebte in einem echt bourgeoisen, echt krämerhaften Milieu, in dem jeder Sou berechnet und gewogen wurde. In den ersten zwei Wochen liebte mich Blanche durchaus nicht, sogar im Gegenteil, und das merkte ich natürlich sehr gut. Zwar legte sie sehr viel Gewicht darauf, daß ich stets elegant gekleidet war, ja sie bestand sogar darauf, mir täglich selbst die Krawatte zu binden, aber im Grunde verachtete sie mich doch aufrichtig. Nur war mir das alles furchtbar gleichgültig. Gelangweilt und schwermütig, wie ich war, gewöhnte ich mir an, mich ins Château des Fleurs zu begeben, wo ich mir jeden Abend einen Rausch antrank und mich in den Künsten und Kenntnissen des Cancans unterrichten ließ (der dort übrigens miserabel getanzt wird), so daß ich mir zum Schluß sogar eine gewisse Berühmtheit erwarb. Endlich aber lernte mich Blanche doch besser verstehen. Es hatte sich in ihr vom ersten Tage an die Vorstellung festgesetzt, daß ich während der ganzen Zeit unseres Zusammenlebens nichts anders tun würde, als ihr mit Bleistift und Notizbuch in der Hand auf Schritt und Tritt zu folgen, um nur ja alles zu notieren und zu summieren, was sie ausgegeben und was sie gestohlen, was sie ausgeben werde und voraussichtlich noch stehlen werde. Und selbstverständlich war sie überzeugt, daß es zwischen uns wegen jedes Zehnfrankenstückes zu einer Schlacht kommen werde. Und so hatte sie schon im voraus auf jeden meiner erwarteten Angriffe eine Antwort bereit. Als aber dann alle diese Angriffe meinerseits ausblieben, begann sie von selbst, ohne jede Veranlassung, ihre Erklärungen und Rechtfertigungen vorzutragen. Zuweilen machte sie sich sogar mit einem wahren Übereifer daran, plötzlich aber, wenn es ihr dann auffiel, daß ich mit dem größten Gleichmut schwieg – gewöhnlich faulenzte ich auf der Chaiselongue herum und sah ruhig zur Decke hinauf – da begann sie sich doch zu wundern. Anfangs dachte sie, ich sei einfach nur bodenlos dumm – „un outchitel“ und nichts weiter – und sie verstummte dann plötzlich, wahrscheinlich mit dem Gedanken: „Er ist ja doch dumm, wozu ihn also darauf bringen, wenn er nicht selbst darauf verfällt.“ Doch vergingen dann keine zehn Minuten und sie begann von neuem mit ihrer Verteidigung – namentlich in der letzten Zeit, als ihre Ausgaben immer verschwenderischer wurden, als sie z. B. ein Paar Pferde für sechzehntausend Franken gekauft hatte.

„Nun, also du, Bibi, ärgerst dich nicht,“ kam sie wieder darauf zurück.

„N–n–ein! Laß – mich – in – Ruh!“ sagte ich müde und gelangweilt und schob sie mit der Hand von mir fort – doch das war für sie so interessant, daß sie sich sogleich neben mich setzte.

„Siehst du, wenn ich mich entschlossen habe, soviel für sie zu zahlen, so tat ich es doch nur, weil es ein Gelegenheitskauf war. Man kann sie für zwanzigtausend Franken wieder verkaufen.“

„Ja, ja, ich glaub’s ja schon. Die Pferde sind tadellos und du hast jetzt ein wundervolles Gespann. Gut so. Wird dir zustatten kommen. Aber jetzt genug davon.“

„So ärgerst du dich wirklich nicht?“

„Worüber? Es ist doch sehr klug von dir, daß du dich mit einigen notwendigen Sachen versorgst. Alles das wird dir später sehr nützlich sein. Ich sehe doch ein, daß du dir zuerst eine gute Grundlage verschaffen mußt: anders wirst du’s nicht zur Millionärin bringen. Hier sind unsere hunderttausend Franken nur der Anfang, nur ein Tropfen im Meer.“

Blanche, die alles eher als eine solche Antwort erwartet hatte – an Stelle der Vorwürfe und womöglich Szenen! – fiel aus den Wolken.

„So bist du ... Also so bist du! Mais tu as l’esprit pour comprendre! Sais-tu, mon garçon, du bist zwar ein outchitel, aber du hättest als Prinz geboren werden müssen! So tut es dir nicht leid, daß das Geld bei uns so schnell – geht?“

„Ach nun, mag’s doch, wenn’s doch nur schneller ginge!“

Mais ... sais-tu ... mais dis donc, bist du denn reich? Mais sais-tu, du verachtest mir das Geld schon gar zu sehr! Qu’est-ce que tu feras après, dis donc?

Après fahre ich nach Homburg und gewinne wieder hunderttausend Gulden.“

Oui, oui, c’est ça, c’est magnifique! Und ich weiß, du wirst unbedingt gewinnen und das Geld herbringen. Dis donc, – du bringst es wahrhaftig fertig, daß ich dich wirklich zu lieben beginne! Eh bien, dafür, daß du so bist, werde ich dich jetzt die ganze Zeit lieben und werde dir kein einziges Mal untreu sein. Denn sieh, wenn ich dich bis jetzt auch nicht geliebt habe, parce que je croyais, que tu n’es qu’un outchitel (quelque chose comme un laquais, n’est-ce pas?) so bin ich dir doch immer treu gewesen, denn – je suis bonne fille.“

„Na, und das soll ich glauben? Und jener Albert, jener Leutnant mit dem schwarzglänzenden Haar – habe ich dich denn nicht mit ihm gesehen?“

„Oh, oh, mais tu es ...“

„Na, lüge nur nicht, schon gut; oder glaubst du, daß ich mich darüber ärgere? Das ist mir doch furchtbar egal. Il faut que jeunesse se passe. Du kannst ihn doch nicht vor die Tür setzen, wenn er ältere Rechte hat und du ihn liebst. Nur Geld brauchst du ihm deshalb nicht zu geben, hörst du?“

„So bist du auch darüber nicht böse? Mais tu es un vrai philosophe, sais-tu? Un vrai philosophe!“ rief sie ganz begeistert. „Eh bien, je t’aimerai, je t’aimerai – tu verras, tu seras content!

Und wirklich, von dem Tage an bezeugte sie eine gewisse Anhänglichkeit, ja sogar eine gewisse Freundschaft entwickelte sich zwischen uns, und so vergingen die letzten zehn Tage. Die verhießenen „Sterne“ habe ich zwar nicht gesehen, aber in gewissen anderen Beziehungen hielt sie tatsächlich ihr Versprechen. Außerdem machte sie mich mit Hortense bekannt, einer in ihrer Art allerdings sehr bemerkenswerten Dame, die in unserem Kreise „Thérèse philosophe“ genannt wurde ...

Übrigens, es lohnt nicht, sich darüber zu verbreiten. Alles das ließe sich als Vorwurf zu einer anderen Erzählung mit einem anderen Kolorit, wie ich es hier nicht hineinbringen will, verwenden. Kurz, die Sache war die, daß ich keinen sehnlicheren Wunsch hatte, als diesen einen: daß alles möglichst schnell zu Ende sei. Doch leider reichten meine hunderttausend Franken, wie gesagt, fast für einen ganzen Monat aus, worüber ich selbst aufrichtig erstaunt war. Von diesem Gelde kaufte sich Blanche für mindestens achtzigtausend Franken „das Notwendigste“, verlebt aber haben wir ganz gewiß nicht mehr als zwanzigtausend Franken. Blanche, die zum Schluß sogar aufrichtig gegen mich war – wenigstens in gewissen Dingen belog sie mich nicht mehr – machte mich noch vor der Trennung darauf aufmerksam, ganz gerührt durch ihre eigene Güte, daß mir wenigstens nicht die Schulden zur Last fallen würden, welche sie früher zu machen gezwungen gewesen sei.

„Ich habe dich keine Rechnungen und Wechsel unterzeichnen lassen,“ sagte sie, „denn du tatest mir leid; eine andere aber hätte das bestimmt getan und dich ins Schuldgefängnis gebracht. Siehst du, siehst du jetzt, wie ich dich geliebt habe und wie gut ich bin! Und bedenk doch nur, was mich allein diese verwünschte Hochzeit kosten wird!“

Es wurde nämlich wirklich eine Hochzeit gefeiert, gegen Ende des Monats, und es ist anzunehmen, daß sie die letzten Reste meiner Hunderttausend verschlang. Und damit war dann alles erledigt, d. h. es war das Ende unseres Monats und ich erhielt meinen Abschied. Mit der Hochzeit aber verhielt es sich folgendermaßen: Eine Woche nach unserer Ankunft in Paris traf auch der General dort ein. Er kam gleich zu Blanche und blieb von seinem ersten Besuch an so gut wie ganz bei uns, obwohl er da irgendwo auch eine Wohnung hatte. Blanche empfing ihn hocherfreut, lief ihm mit Jubel und Gelächter entgegen und umarmte ihn sogar. Und es kam bald so weit, daß sie ihn kaum noch fort ließ und er sie überallhin begleiten mußte: auf die Boulevards und auf den Spazierfahrten, ins Theater und zu Bekannten. Dazu ließ sich der General noch sehr gut verwenden: er zeichnete sich immerhin durch eine ganz imposante Erscheinung aus, war groß von Wuchs, hinzu kamen gute Manieren, ein etwas gefärbter Backenbart, ein riesiger Schnurrbart, wie ihn die Mode verlangte – er war ehemaliger Kürassier – und ein noch ganz sympathisches Gesicht, wenn auch die Züge schon ein wenig zu verschwimmen begannen. Kurz, sein Auftreten war tadellos und sein Frack war es nicht minder. Und in Paris trug er nun auch seine Orden. Mit einem solchen Herrn aber auf den Boulevards zu promenieren, war nicht nur „möglich“, sondern sogar empfehlenswert. Natürlich war der gute und jetzt mehr denn je auf den Kopf gefallene General sehr zufrieden mit dieser Verwendung seiner Person, – hatte er doch gar nicht auf so viel Freundlichkeit ihrerseits zu hoffen gewagt, als er uns nach Paris gefolgt war! Er zitterte ja förmlich vor Angst, als er erschien, denn er fürchtete zunächst, Blanche werde ihn anschreien und hinauswerfen lassen. Da kann man sich denken, wie selig ihn dieser unerwartete Empfang machen mußte. Er war die ganze Zeit, während der ich mit ihm zusammen war, geradezu und wörtlich genommen: sinnlos glücklich. Ich hatte ihn bis dahin noch nie in einem solchen Zustande gesehen, und in diesem Rausch befand er sich auch dann noch, als ich sie drei Wochen später verließ.

Erst hier habe ich genauer erfahren, wie damals unsere plötzliche Abreise aus Roulettenburg auf ihn gewirkt hatte: er war bewußtlos zusammengebrochen – vielleicht ist es sogar eine Art Schlaganfall gewesen – und dann hatte er sich eine Woche lang wie ein Irrsinniger benommen. Die Ärzte sollen ihn nach bestem Wissen behandelt haben, doch plötzlich hatte er sich auf und davon gemacht – um in Paris aufzutauchen. Selbstverständlich war dann der Empfang, den Blanche ihm unerwarteterweise bereitete, das beste Heilmittel für ihn; dennoch verrieten sich noch lange die Folgen der überstandenen Krankheit, trotz seiner frohen, ja sogar begeisterten Stimmung. Denken oder auch nur ein etwas ernstes Gespräch führen, konnte er überhaupt nicht mehr. Wenn andere zu ihm sprachen, begnügte er sich damit, nach jedem Satz „Hm!“ zu sagen und tiefernst mit dem Kopf zu nicken. Das nahm sich dabei gar nicht so übel aus. Sehr oft aber hörte ich ihn lachen, doch klang es wie das nervöse Gelächter eines Kranken: oft wiederum saß er stundenlang wie in Gedanken versunken, mit düsterem Gesicht, die buschigen Brauen zusammengezogen, und rührte sich nicht. Vieles war ganz aus seinem Gedächtnis entschwunden; gewöhnlich war er unglaublich zerstreut und überdies hatte er sich angewöhnt, mit sich selbst zu sprechen. Nur Blanche vermochte ihn aufzuheitern und zu beleben. Übrigens bedeuteten diese Anfälle von düsterer Gedankenversunkenheit und stumpfem Vorsichhinbrüten – er saß dann ganz zurückgezogen in einem Winkel – nichts anderes, als daß er Blanche lange nicht gesehen hatte, z. B. wenn sie ausgefahren war, ohne ihn mitzunehmen oder ohne sich herzlich von ihm verabschiedet zu haben. Er hätte aber gewiß selbst nicht zu sagen gewußt, was ihm dann fehlte, und ich glaube, er wußte es ebensowenig, daß er traurig und düster war. Nachdem er dann ein bis zwei Stunden so gesessen (ich habe es zweimal beobachtet, als Blanche für den ganzen Tag ausgefahren war, wahrscheinlich zu ihrem Albert), zuckte er plötzlich zusammen, schaute sich nach allen Seiten um, als suche er jemanden; doch da er niemanden sah und natürlich nicht wußte, was er eigentlich haben oder fragen wollte, versank er wieder in sein dumpfes Brüten – bis dann endlich Blanche erschien, heiter, ausgelassen lustig, in schöner Toilette und mit ihrem hellen Lachen. Sie eilte dann lachend auf ihn zu, schüttelte ihn und küßte ihn womöglich – mit letzterem beglückte sie ihn übrigens nur selten. Einmal brach er vor lauter Seligkeit sogar in Tränen aus, als sie nach längerer Abwesenheit heimkehrte und ihn wieder so begrüßte. Ich wunderte mich im stillen nicht wenig.

Gleich nachdem der General bei uns aufgetaucht war, schwang sich Blanche zu seiner Verteidigerin vor mir auf. Und sie redete, wie ein raffinierter Advokat es nicht besser verstanden hätte. Zuerst hielt sie mir vor, daß sie ihm um meinetwillen untreu geworden sei, sie, die doch schon so gut wie seine Braut gewesen, die ihm sogar ihr Wort gegeben! Und er habe doch um ihretwillen seine Familie verlassen, ich aber, nicht zu vergessen, ich habe doch einst bei ihm „gedient“; das dürfe ich nicht so ohne weiteres unberücksichtigt lassen, und ... und – ob ich mich denn gar nicht schäme! ... Ich schwieg unentwegt und sie redete hochtrabender denn je weiter. Endlich brach ich in schallendes Gelächter aus, und damit war die Sache erledigt, d. h. zuerst dachte sie, ich sei ein unverbesserlicher Esel, dann aber blieb sie bei der Meinung, daß ich ein sehr guter und vernünftiger Mensch sei. Mit einem Wort, ich hatte das Glück, die unschätzbare Geneigtheit dieser ehrenwerten Demoiselle zu verdienen. Übrigens war Blanche wirklich ein herzensgutes Mädchen – allerdings, versteht sich, nur in ihrer Art. Ich hatte sie eben anfangs nicht richtig zu schätzen gewußt!

„Du bist ein kluger und guter Mensch,“ sagte sie mir zum Schluß, „und ... und ... schade nur, daß du so ein Dummkopf bist! Nichts, nichts wirst du dir ersparen, zu nichts wirst du es bringen!“ Ich sei eben ein „vrai russe, un kalmouk!“

Als solchen schickte sie mich mit dem General spazieren, genau wie einen Diener mit einem Windspiel. Doch das war mir natürlich gleich und so ging ich denn mit ihm ins Theater, in die Restaurants, und sogar der „Bal Mabille“ hat uns gesehn. Für diese Zerstreuungen gab Blanche selber das nötige Geld, obschon der General auch welches besaß und mit besonderer Vorliebe seine Brieftasche hervorzog, wenn andere zugegen waren. Einmal mußte ich fast Gewalt anwenden, um ihn zu verhindern, im Palais Royal eine Brosche für siebenhundert Franken zu kaufen, die er Blanche schenken wollte. Was war für sie eine Brosche zu siebenhundert Franken? Und übrigens besaß ja der General selbst nicht mehr als etwa tausend Franken. Leider habe ich nicht erfahren können, von wem er sie hatte. Ich nehme an – von Mister Astley, da dieser ja auch im Hotel für ihn bezahlt hatte! Was aber mein Verhalten zum General und dessen Verhalten zu mir betrifft, so glaube ich, daß er von meinen wirklichen Beziehungen zu Blanche keine Ahnung hatte. Er hatte wohl gehört, daß ich ein Vermögen gewonnen, doch schien er trotzdem anzunehmen, daß ich bei Blanche die Stellung – nun, etwa die eines Privatsekretärs oder vielleicht sogar eines Dieners einnahm. Wenigstens sprach er mit mir nur in herablassendem Tone, ganz wie ehedem, als ich noch Hauslehrer seiner Kinder war, und zuweilen hielt er mir sogar eine Standrede. Ich weiß noch, einmal erheiterte er uns, Blanche und mich, beim Frühstück so köstlich, daß wir Tränen lachten. Er war eigentlich kein empfindlicher Mensch, plötzlich aber fühlte er sich durch mich gekränkt – warum? wodurch? – ja das weiß ich heute noch nicht. Selbstverständlich wußte er es damals ebensowenig! Kurz, er brach einen Streit vom Zaun – der eigentlich kein Streit war, denn ich widersprach ihm ja nicht – und redete ohne Ende: à bâtons rompus, schrie, daß ich ein Bengel sei, daß er mich lehren werde ... daß er mir den Standpunkt klarmachen werde ... und so weiter, und so weiter. Doch konnten wir leider nichts davon begreifen. Blanche lachte Tonleitern. Endlich gelang es uns, ihn einigermaßen zu beruhigen: und dann wurde er wieder spazieren geführt. Doch oft bemerkte ich, daß er traurig wurde, daß ihm, wie es schien, irgend etwas oder irgend jemand leid tat, daß ihm trotz der Anwesenheit Blanches irgend jemand fehlte. In solchen Augenblicken begann er mit mir zu sprechen, doch niemals konnte ich aus seinen Worten klug werden: er sprach von seinem Dienst, von seiner verstorbenen Frau, von seinem Gut und seinem früheren Hausstand. Verfiel er dann plötzlich auf irgendein besonderes Wort, so freute er sich darüber so, daß er es hundertmal am Tage wiederholte, obgleich es weder seine Gefühle, noch seine Gedanken irgendwie ausdrückte. Ich versuchte, ihn an seine Kinder zu erinnern, damit er auf sie zu sprechen käme, doch er sagte nur hastig: „Ja, ja! die Kinder, die Kinder, Sie haben recht, die Kinder!“ – und ging dann schnell, doch offenbar ganz ohne Absicht, wieder auf ein anderes Thema über. Nur einmal wurde er wirklich weich – wir gingen gerade ins Theater: „Diese armen, unglücklichen Kinder!“ sagte er plötzlich, „ja ... ja ... mein Herr, unglückliche Kinder sind es!“ Und dann wiederholte er an diesem Abend noch etlichemal: „diese unglücklichen Kinder! ... diese unglücklichen Kinder!“

Als ich aber einmal auf Polina zu sprechen kam, rief er fast jähzornig: „Dieses undankbare Frauenzimmer!“ und er schien aufrichtig empört zu sein. „Boshaft ist sie und undankbar! Sie hat die ganze Familie beschimpft! Wenn es hier Gesetze gäbe, würde ich ihr schon zeigen, was es heißt! ... Jawohl, mein Herr, jawohl!“

Doch von de Grillet konnte er nicht einmal den Namen hören: dann wurde er schon wild: „Er hat mich zugrunde gerichtet, er hat mich bestohlen! er hat mich erwürgt! Ganze zwei Jahre lang war er mein Albdruck! Ganze Monate habe ich ihn Nacht für Nacht im Traume gesehn! Das, das, das ... O, erinnern Sie mich nie mehr an diesen Menschen!“

Ich merkte natürlich bald, daß Blanche und er schon so ziemlich einig waren, schwieg aber nach meiner Gewohnheit. Eine Woche vor unserer Trennung erklärte mir dann Blanche den ganzen Sachverhalt.

Il a de la chance,“ damit begann sie, denn das war die Hauptsache. „La babouchka ist jetzt wirklich krank und wird bestimmt bald sterben. Mister Astley hat schon depeschiert. Nun, und er ist doch immerhin ihr Erbe. Aber selbst dann, wenn er nichts von ihr erben sollte, so schadet das ja weiter auch nichts. Denn, erstens hat er doch seine Pension, und zweitens wird er dort in dem Hinterzimmer leben und sehr glücklich sein. Und ich bin dann madame la générale und gehöre zur besten Gesellschaft.“ Daran dachte sie mit besonderer Vorliebe. „Und späterhin werde ich eben russische Gutsbesitzerin, j’aurai un château, des moujiks, et puis j’aurai toujours mon million.“

„Nun, aber wenn er eifersüchtig wird und verlangt ... Gott weiß was, – verstehst du?“

„Oh nein, non, non, non! Wie darf er es wagen! Ich habe Maßregeln getroffen, beruhige dich. Ich habe ihn einige Wechsel mit Alberts Namen unterzeichnen lassen. Sollte je etwas – dann wird er sofort bestraft! Aber er wird ja nichts wagen!“

„Nun, so heirate ihn ...“

Die Hochzeit wurde ohne besonderen Pomp still und ganz „unter uns“ gefeiert. Eingeladen waren nur Albert und noch ein paar Bekannte. Hortense, Cléopatre und die übrigen von dieser Kategorie wurden von nun an unerbittlich von uns ferngehalten. Der Bräutigam war sehr eingenommen von seiner neuen Würde. Blanche band ihm eigenhändig die Krawatte, und in seinem Frack und der weißen Weste sah er très comme il faut aus.

Il est pourtant très comme il faut,“ erklärte mir Blanche, als sie aus seinem Zimmer trat, ganz als habe die Tatsache, daß er très comme il faut sei, sie selbst verblüfft. Ich interessierte mich so wenig für all diese Einzelheiten und da ich eben nur als tödlich gelangweilter Zuschauer an den Ereignissen teilnahm, so habe ich wohl sehr vieles von dem, was geschah, vergessen oder überhaupt nicht bemerkt. Ich weiß nur noch, daß Blanche plötzlich nicht mehr de Cominges hieß, ebensowenig wie ihre Mutter nicht madame veuve de Cominges, sondern – du Placet. Weshalb sie sich aber bis dahin de Cominges genannt hatten, das weiß ich nicht. Der General war aber auch mit dieser Veränderung zufrieden, und du Placet schien ihm sogar noch mehr zu gefallen, als de Cominges. Am Morgen des Hochzeitstages ging er, bereits zur Trauung angekleidet, im Salon auf und ab und murmelte mit ungewöhnlich ernster und wichtiger Miene vor sich hin: „Mademoiselle Blanche du Placet! ... Blanche du Placet ... du Placet! Fräulein Blanche du Placet! ...“ und in seinem Gesicht drückte sich eine nicht unerhebliche Zufriedenheit aus. In der Kirche, beim Maire und zu Hause beim Diner sah er nicht nur froh und zufrieden aus, sondern war sogar ersichtlich stolz. Es war, als sei in das Brautpaar etwas Besonderes gefahren. Auch Blanche blickte ungeheuer würdevoll drein.

„Ich muß mich jetzt ganz anders halten,“ sagte sie mir sehr ernst. „Mais vois-tu, an dieses eine verwünschte Hindernis habe ich noch gar nicht gedacht: stelle dir vor, ich kann noch immer nicht meinen neuen Familiennamen behalten: Sa–go–rjanskij, Sago–sjanskij, madame la générale de Sago–Sago–, ces diables de noms russes! Enfin madame la générale à quatorze consonnses! Comme c’est agréable, n’est-ce pas?

Endlich aber kam dann der Augenblick der Trennung, und Blanche, diese dumme Blanche brach beim Abschied sogar in Tränen aus.

Tu étais bon enfant,“ sagte sie schluchzend. „Je te croyais bête et tu en avais l’air, aber das paßt zu dir.“ Doch nachdem sie mir schon endgültig „zum letzten Mal“ die Hand gedrückt hatte, rief sie plötzlich: „Attends!“ lief schnell in ihr Boudoir und kehrte nach einer Minute wieder zurück – in der Hand zwei Tausendfranknoten, die sie mir aufdrängte. Ich traute meinen Augen nicht! Nein, alles eher, aber das hätte ich niemals von ihr erwartet!

„Nimm nur, du wirst es brauchen können! Du bist vielleicht ein sehr kluger outchitel, aber du bist doch ein furchtbar dummer Mensch. Mehr als Zweitausend gebe ich dir auf keinen Fall, denn du wirst das Geld doch sowieso verspielen. Nun, leb wohl! Nous serons toujours bons amis, wenn du aber wieder gewinnst, so komme unbedingt zu mir, et tu seras heureux!“

Ich hatte selbst noch an fünfhundert Franken, außerdem eine goldene Uhr von tausend Franken Wert, moderne Hemdknöpfe mit Brillanten und dergl., so daß ich hier noch ziemlich lange sorgenfrei werde leben können. Ich habe mich absichtlich in diesem kleinen Städtchen und nicht in einer großen Stadt niedergelassen, um mich gewissermaßen erst einmal zu sammeln. Und dann – ich erwarte Mister Astley. Ich habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, daß er sich auf der Durchreise vierundzwanzig Stunden hier aufhalten wird – in Geschäften. Von ihm werde ich dann alles hören ... und dann – dann sofort nach Homburg! Nach Roulettenburg werde ich nicht fahren, wenigstens nicht in diesem Jahre! Im nächsten – vielleicht! In der Tat, man sagt ja, es sei ein schlechtes Omen, wenn man zweimal an ein und demselben Tisch sein Glück versucht. In Homburg aber, da wird ja noch ganz anders gespielt.

XVII.

Ein Jahr und acht Monate sind nun schon vergangen, seit ich diese Aufzeichnungen nicht mehr angerührt habe. Erst heute kam mir nach langer Zeit der Gedanke, die Blätter wieder hervorzusuchen und das Geschriebene durchzulesen, um darüber Sorgen und Sehnsucht vielleicht zu vergessen.

Ich blieb dabei stehen, daß ich nach Homburg fahren wollte. Gott! Mit wie leichtem Herzen, im Vergleich zu jetzt, schrieb ich damals jene letzten Zeilen! Das heißt, nicht buchstäblich mit leichtem Herzen, aber doch – mit welch einem Selbstvertrauen, mit wie unerschütterlichen Hoffnungen! Zweifelte ich etwa auch nur im geringsten an mir selbst? – Und nun? Noch sind keine zwei Jahre seitdem vergangen und ich bin, meiner eigenen Überzeugung nach, schlimmer als ein Bettler! Was ist ein Bettler! Ich pfeife auf Armut! Ich aber habe mich einfach zugrunde gerichtet! Verkommen bin ich. Übrigens – es gibt nichts, womit ich mich überhaupt noch vergleichen könnte ... Aber wozu sich jetzt Moral predigen! Nichts kann dümmer sein, als Moral in solchen Zeiten! O, ihr selbstzufriedenen Leute! – mit welch stolzer Selbstgerechtigkeit sind diese Schwätzer jederzeit bereit, einem ihre Sentenzen zu predigen! Wenn sie wüßten, in welchem Maße ich den ganzen Ekel meines gegenwärtigen Zustandes begreife, so würde ihnen ihre Zunge, denke ich, nicht mehr gehorchen, wollten sie mich noch belehren. Was könnten sie mir wohl Neues sagen, das ich nicht selbst wüßte? Aber kommt es denn darauf an? Nein, sondern darauf, daß – eine Drehung des Rades alles ändern kann, und daß dann diese selben Moralprediger, die ersten sein werden, die (davon bin ich überzeugt) mit freundschaftlichen Scherzen zu mir kommen, um zu gratulieren. Und niemand wird sich dann so von mir abwenden, wie es jetzt alle tun. Ach, zum Teufel mit ihnen, was gehen sie mich an! Aber was bin ich jetzt? Zéro. Und was kann ich morgen sein? Morgen kann ich von den Toten auferstehen und von neuem zu leben beginnen! Ich kann den Menschen in mir wieder emporrichten, solange er noch nicht ertrunken ist in Verkommenheit.

Ich fuhr damals wirklich nach Homburg, aber ... dann war ich auch wieder in Roulettenburg, war auch in Spa, war sogar in Baden, wohin ich als Kammerdiener eines Herrn Hinze reiste, eines ekelhaften Menschen, der hier mein Brotherr war. Jawohl: ich bin sogar bis zum Diener herabgesunken – ganze fünf Monate war ich es! Das war nach dem Gefängnis. (Ich habe doch auch im Gefängnis gesessen, in Roulettenburg, wegen einer Schuld, die ich dort nicht bezahlen konnte. Ein Unbekannter hat mich losgekauft, – wer? Mister Astley? Polina? Ich weiß es nicht, aber die Schuld ist bezahlt worden, im ganzen zweihundert Taler: und so wurde ich aus dem Gefängnis entlassen.) Wo sollte ich bleiben? Ich kam also zu diesem Hinze. Er ist ein junger, leichtsinniger Mensch, der eine besondere Vorliebe fürs Faulenzen hat und ungern Briefe schreibt, ich aber beherrsche drei Sprachen in Wort und Schrift. Anfangs war ich sein Sekretär, denn als solcher hatte ich die Stelle angenommen, und erhielt dreißig Gulden monatlich. Doch bald erlaubten es ihm seine Mittel nicht mehr, soviel zu zahlen, und er verringerte mein Gehalt. Ich aber hatte nichts und blieb bei ihm. So machte es sich schließlich ganz von selbst, daß ich zu guter Letzt sein Diener wurde. Ich hungerte und trank keinen Tropfen, solange ich bei ihm war, dafür aber ersparte ich mir innerhalb dieser fünf Monate siebzig Gulden. Und eines Abends, es war in Baden, erklärte ich ihm, daß ich meine Stelle aufgäbe: und noch an demselben Abend suchte ich die Spielsäle auf. O, wie mein Herz schlug! Nein, nicht um das Geld war es mir zu tun! Damals wollte ich nur, daß morgen alle diese Hinzes, alle diese Oberkellner, alle diese reichen Damen der vornehmen Gesellschaft Badens – daß sie alle von mir sprechen, daß sie von meinem Glück erzählen, daß sie sich über mich wundern, mich loben und beneiden und alle sich vor der Macht meines neuen Reichtums beugen sollten. Das waren natürlich nur kindische Träume und kindischer Ehrgeiz, aber ... wer weiß: vielleicht hätte ich Polina getroffen, und dann hätte ich mit ihr gesprochen und sie hätte gesehen, daß ich über dem Schicksal stehe, daß mir alle Schicksalsschläge nichts anhaben können ... O, nicht am Gelde liegt mir! Bin ich doch überzeugt, daß ich es wieder irgendeiner Blanche hinwerfen und wieder in Paris drei Wochen lang mit eigenen Pferden zu sechzehntausend Franken fahren würde! Ich weiß ja doch ganz genau, daß ich nicht geizig bin; ich glaube sogar, ich bin ein Verschwender, – aber dennoch: mit welchem Zittern, mit welchem atemraubenden Herzklopfen horche ich auf den Ruf des Croupiers: trente et un, rouge, impair et passe, oder: quatre, noir, pair et manque! Mit welcher Gier starre ich auf den grünen Tisch, auf dem Louisdors, Friedrichsdors und Taler umherliegen, auf die kleinen Säulen von Goldmünzen, wenn sie durch die Krücke des Croupiers umfallen und sich in einen wie Glut brennend glänzenden Haufen zerstreuen, oder auf die langen, über einen halben Meter langen Silberrollen, die rings um das Rad liegen. Noch bevor ich den Spielsaal betreten, noch zwei Säle von ihm entfernt – sobald ich nur das Klingen und Klirren des Geldes, der zusammengescharrten Geldberge höre – ist es mir, als erfaßten mich Krämpfe.

O, auch jener Abend, an dem ich meine siebzig Gulden zum Spieltisch trug, war merkwürdig. Ich begann mit zehn Gulden und setzte sie wieder auf passe. Ich habe nun einmal Vertrauen zu passe. Ich verlor. Es blieben mir noch sechzig Gulden in Silber; ich dachte nach und entschied mich für zéro. Ich setzte immer zu fünf Gulden auf einmal. Das dritte Mal setzte ich – da kam zéro. Ich starb fast vor Freude, als mir hundertundfünfundsiebzig Gulden zugeschoben wurden. So froh war ich nicht gewesen, als ich damals hunderttausend Gulden gewonnen hatte. Ich setzte sofort hundert Gulden auf rouge und gewann; alle zweihundert auf rouge – und gewann; alle vierhundert auf noir – und gewann; alle achthundert auf manque – und gewann! Alles in allem hatte ich jetzt tausendundsiebenhundert Gulden und das – in weniger als fünf Minuten! Ja, in solchen Augenblicken vergißt man alle früheren Mißerfolge! Hatte ich sie doch gewonnen, indem ich mehr als mein Leben aufs Spiel gesetzt. Ich hatte es gewagt, und ich gehörte wieder zu den Menschen!

Ich nahm ein Zimmer im Hotel, schloß mich ein und saß bis drei Uhr nachts und zählte mein Geld. Als ich am Morgen erwachte, war ich nicht mehr Lakai. Ich beschloß, sogleich nach Homburg zu fahren: dort war ich nicht Diener gewesen und hatte nicht im Gefängnis gesessen. Eine halbe Stunde vor der Abfahrt des Zuges ging ich noch einmal in den Spielsaal, um noch zwei Einsätze zu machen, nicht mehr, und ich verlor tausendfünfhundert Gulden. Ich fuhr aber trotzdem nach Homburg und nun bin ich schon einen Monat hier.

Ich lebe natürlich in beständiger Aufregung, spiele nur sehr vorsichtig, wage nur die kleinsten Einsätze und warte auf irgend etwas, das ich selbst nicht zu nennen vermöchte, berechne und rechne, stehe ganze Tage lang am Spieltisch und beobachte das Spiel, sogar im Traume sehe ich nur noch das Spiel, – aber bei alledem scheint es mir, daß ich doch schon gleichsam verknöchert, daß ich wie in einem Moor versunken bin, aus dem ich mich nicht mehr herausreißen kann. Ich schließe das aus dem Eindruck, den meine Begegnung mit Mister Astley auf mich gemacht hat. Ich hatte ihn seit jenem Morgen im Hotel d’Angleterre nicht wiedergesehen und traf ihn hier plötzlich ganz zufällig. Ich ging gerade in den Parkanlagen spazieren und rechnete und dachte daran, daß ich jetzt fast ganz ohne Geld sei, nur fünf Gulden besaß ich noch. Aber im Hotel, wo ich ein kleines, billiges Zimmer genommen, hatte ich vor drei Tagen alles bezahlt. Ich konnte also noch einmal spielen, nur einmal, sagte ich mir: gewinne ich, so kann ich das Spiel fortsetzen, verliere ich – so muß ich wieder Diener werden, falls ich nicht im Augenblick hier Russen finde, die gerade einen Lehrer brauchen. Mit diesen Gedanken beschäftigt, machte ich meinen täglichen Spaziergang durch den Park. Sehr oft ging ich weiter durch den Wald, bis ins nächste Fürstentum, und kehrte dann erst nach mehreren Stunden müde und hungrig nach Homburg zurück. Kaum aber war ich diesmal aus den Anlagen in den Park getreten, als ich plötzlich auf einer Bank Mister Astley erblickte. Er hatte mich zuerst bemerkt und mich angerufen. Ich setzte mich neben ihn. Doch da mir eine gewisse Kühle an ihm auffiel, mäßigte ich sogleich meine Freude. Sonst hätte ich mich fürchterlich über das Wiedersehen gefreut.

„Also Sie sind hier!“ sagte er. „Ich dachte es mir, daß ich Ihnen hier begegnen würde. – Bemühen Sie sich nicht, mir von Ihren Erlebnissen zu erzählen, ich weiß alles; Ihr ganzes Leben in diesen anderthalb Jahren, mehr als anderthalb Jahren, ist mir bekannt.“

„Bah! Also so viel ist Ihnen daran gelegen, Ihre alten Freunde im Auge zu behalten!“ versetzte ich. „Das macht Ihnen ja alle Ehre, daß Sie sie nicht vergessen ... Apropos! Sie bringen mich auf einen Gedanken: sind nicht Sie es gewesen, der mich aus dem Roulettenburger Gefängnis, in dem ich wegen einer Schuld von zweihundert Gulden saß, befreit hat? Ein Unbekannter hat die Schuld für mich bezahlt.“

„Nein, o nein, ich nicht, aber ich habe es gewußt, daß Sie wegen einer Schuld von zweihundert Gulden im Gefängnis saßen.“

„Und so wissen Sie doch auch, wer es getan hat?“

„O nein, ich kann nicht sagen, daß ich’s wüßte.“

„Sonderbar. Von den hiesigen Russen kennt mich keiner, und übrigens würden diese Russen hier wohl kaum einen Landsmann loskaufen; bei uns dort in Rußland, ja, dort kaufen Rechtgläubige wohl Rechtgläubige los. Und da dachte ich denn, daß es vielleicht irgendein englischer Sonderling aus Sonderbarkeit getan habe.“

Mister Astley hörte mit einiger Verwunderung zu. Ich glaube, er hatte erwartet, daß ich ganz niedergeschlagen und bekümmert sein würde.

„Nun, es freut mich, daß Sie sich Ihre alte geistige Unabhängigkeit und sogar noch Munterkeit bewahrt haben, wie ich sehe,“ sagte er mit ziemlich mißvergnügter Miene.

„Das heißt, innerlich knirschen Sie vor Ärger darüber, daß ich nicht niedergeschlagen und bekümmert bin,“ sagte ich lachend.

Er begriff nicht sogleich, als er mich aber dann verstand, lächelte er.

„Ihre Bemerkungen gefallen mir. Ich erkenne in ihnen meinen alten begeisterten und gleichzeitig doch zynischen Freund von früher. Nur die Russen können soviel Gegensätze in sich vereinigen. In der Tat, der Mensch liebt es, seinen Nächsten, auch wenn er sein bester Freund ist, vor sich erniedrigt zu sehen: auf der Erniedrigung des anderen beruht zum größten Teil die Freundschaft. Das ist nun einmal eine alte, allen erfahrenen Leuten längst bekannte Wahrheit. Doch in diesem Fall, ich versichere Sie, bin ich aufrichtig froh, daß Sie den Mut nicht sinken lassen. Sagen Sie, Sie haben wohl nicht die Absicht, das Spiel aufzugeben?“

„O, der Teufel hole es! Sofort gebe ich es auf, wenn ich nur erst ...“

„Wenn ich nur erst das Verlorene wiedergewonnen habe? Das dachte ich mir – es ist nicht nötig, daß Sie weiterreden – ich weiß schon. Sie haben es ganz unbedacht gesagt, folglich waren Sie aufrichtig. Sagen Sie, außer mit dem Spiel beschäftigen Sie sich sonst mit nichts?“

„Nein, mit nichts.“

Er begann, mich nach allem möglichen auszufragen, das in der letzten Zeit in der Welt geschehen war.

Ich wußte von nichts, ich hatte ja kaum eine Zeitung zur Hand genommen, kaum mehr ein Buch aufgeschlagen.

„Sie sind abgestumpft,“ bemerkte er zum Schluß, „Sie haben nicht nur dem Leben, Ihren eigenen Interessen und denen der ganzen Menschheit den Rücken gewandt, Ihren Pflichten als Bürger und Mensch und außerdem auch Ihren Freunden – und Sie hatten doch wirklich Freunde –, Sie haben sich nicht nur von jedem Lebensziel und -zweck losgesagt – außer dem einen: im Spiel zu gewinnen –, Sie haben auch Ihre Erinnerungen als überflüssigen Ballast über Bord geworfen. Ich denke daran, wie Sie einmal in einer heißen und großen Stunde Ihres Lebens vor mir standen – aber ich bin überzeugt, daß Sie alle Ihre besten Empfindungen und Absichten von damals vergessen haben, und Ihre jetzigen Gedanken und Wünsche nicht hinausreichen über pair, impair, rouge, noir – und so weiter ... davon bin ich überzeugt!“

„Genug, Mister Astley, bitte, erinnern Sie mich nicht daran!“ rief ich ärgerlich, fast erbittert. „Ich habe nichts vergessen – ich habe nur jetzt zeitweilig alles das aus meinem Denken und Sinnen ausgeschlossen, ja, auch die Erinnerungen, Sie haben recht, – aber nur vorläufig, bis ich meine pekuniäre Lage radikal gebessert habe; dann aber ... dann werden Sie sehen, daß ich von den Toten auferstehe!“

„In zehn Jahren werden Sie noch hier sein,“ erwiderte Mister Astley darauf. „Ich gehe mit Ihnen jede Wette ein, daß ich Sie an diese meine Worte noch nach zehn Jahren, wenn ich lebe, hier auf dieser Bank erinnern werde.“

„Nun gut,“ schnitt ich ungeduldig ab, „doch um Ihnen zu beweisen, daß ich das Vergangene doch nicht ganz so vergessen habe, wie Sie annehmen, erlauben Sie die Frage: wo ist jetzt Miß Polina? Wenn nicht Sie mich aus dem Gefängnis befreit haben, so hat es bestimmt Miß Polina getan. Seit jenem letzten Tage damals in Roulettenburg habe ich nichts von ihr gehört.“

„Nein, o nein! Ich glaube nicht, daß sie Sie losgekauft hat. Sie ist jetzt in der Schweiz, aber Sie würden mir einen großen Gefallen erweisen, wenn Sie mich nicht weiter nach ihr fragten,“ sagte er kurz und sichtlich verstimmt.

„Das bedeutet wohl, daß auch Ihr Herz schon gar zu sehr durch sie verwundet ist!“ sagte ich unwillkürlich lachend.

„Miß Polina verdient die größte Hochachtung und ist der beste Mensch, aber ich sage Ihnen nochmals, daß Sie mir einen großen Gefallen erweisen würden, wenn Sie mich nicht weiter nach ihr fragen wollten. Sie haben sie überhaupt nicht gekannt und ich empfinde es als Beleidigung, wenn Sie ihren Namen aussprechen.“

„Ah! Also so stehen wir! Übrigens täuschen Sie sich. Und wovon sollte ich denn mit Ihnen sprechen, sagen Sie doch selbst, wenn nicht – davon? Andere gemeinsame Erinnerungen haben wir ja gar nicht. Doch beunruhigen Sie sich nicht, ich frage ja nicht nach Geheimnissen oder Gefühlen ... ich interessiere mich sozusagen nur für die äußere Lage der Miß Polina, nur für die Verhältnisse, in denen sie jetzt lebt. Das aber läßt sich ja in zwei Worten sagen.“

„Nun gut, aber unter der Bedingung, daß die Sache damit abgetan ist. Miß Polina war lange krank; sie ist auch jetzt noch krank; eine Zeitlang lebte sie bei meiner Mutter und Schwester in Schottland. Vor einem halben Jahr starb ihre Großtante – Sie erinnern sich doch noch jener alten Dame? Nun, die ist jetzt tot, hat aber testamentarisch siebentausend Pfund Sterling Miß Polina vermacht. Augenblicklich reist sie mit der Familie meiner verheirateten Schwester in der Schweiz. Ihr kleiner Bruder und die kleine Schwester sind in London und lernen dort. Für sie ist gleichfalls durch das Testament der Großtante gesorgt. Der General, ihr Stiefvater, ist vor einem Monat in Paris am Schlage gestorben. Mademoiselle Blanche hat ihn gut behandelt, dafür aber alles, was er von der Tante geerbt hat, auf ihren Namen schreiben lassen ... Das ist, glaube ich, alles.“

„Und de Grillet? Reist er nicht gleichfalls in der Schweiz?“

„Nein, de Grillet reist nicht in der Schweiz, ich weiß nicht, wo er sich aufhält. Ich möchte Sie aber ein für allemal ersuchen, ähnliche Bemerkungen und Andeutungen, die Ihnen jedenfalls nicht Ehre machen, fernerhin zu unterlassen, anderenfalls werden Sie es mit mir zu tun haben.“

„Was! Ungeachtet unserer früheren freundschaftlichen Beziehungen?“

„Ja, ungeachtet unserer früheren freundschaftlichen Beziehungen.“

„Ich bitte Sie tausendmal um Entschuldigung, Mister Astley. Aber erlauben Sie ... einstweilen – hierbei ist doch nichts Beleidigendes, ich mache ihr doch keinen Vorwurf oder ... sonst was. Außerdem ist, im allgemeinen gesprochen, die – nun: Zusammenstellung eines Franzosen und eines russischen jungen Mädchens etwas so Haarsträubendes, daß Sie und ich das Problem weder lösen noch überhaupt begreifen können.“

„Wenn Sie de Grillet nicht in einem Atemzuge mit dem anderen Namen nennen wollten oder überhaupt in Verbindung bringen, so würde ich ganz gern erfahren wollen, weshalb Sie so verallgemeinernd von dem Problem der ‚Zusammenstellung‘ eines ‚Franzosen mit einem russischen jungen Mädchen‘ reden. Wie kommen Sie überhaupt darauf?“

„Sehen Sie, da hat es nun auch Ihr Interesse geweckt. Aber: das ist ein langes Thema, Mister Astley. Und es sind auch einige Vorkenntnisse vonnöten. Übrigens ist es ein sehr bedeutsames Problem, wie lächerlich das auch auf den ersten Blick scheinen mag. Ein Franzose, Mister Astley, ist die vollendete hübsche Form. Sie als Engländer brauchen sich damit nicht einverstanden zu erklären, Sie sind wahrscheinlich anderer Meinung. Und ich als Russe bin gleichfalls nicht damit einverstanden, wenn auch nur – nun, sagen wir meinetwegen, aus Neid. Unsere jungen Damen aber sind anderer Meinung. Wir beide können Racine unnatürlich finden, phrasenhaft, geziert und parfümiert, und lesen werden Sie ihn zu Ihrem Vergnügen ganz gewiß nicht. Ich finde ihn einfach lächerlich; aber er ist äußerlich von guter Form, Mister Astley, und ein Meister der poetischen Ausdrucksweise, gleichviel ob wir das anerkennen wollen – oder nicht. Die nationale Form des Franzosen, d. h. des Parisers, hat sich schon zu einer Zeit, als wir noch Bären waren, zu einer ausgesprochen eleganten Form entwickelt. Die Revolution stellte den Bourgeois neben den Edelmann. Und heutzutage kann der lumpigste Franzusischka Manieren, eine Ausdrucksweise und sogar Gedanken von durchaus eleganter Form haben, ohne dabei an dieser Form weder durch seine Erfindungsgabe, noch mit seiner Seele, seinem Herzen, seinem Geist irgendwie beteiligt zu sein: er hat eben alles das einfach geerbt. An sich kann er leerer als leer und gemeiner als gemein sein. Nun und jetzt, Mister Astley, sage ich Ihnen, daß es in der ganzen Welt kein Wesen gibt, das vertrauensvoller, aufrichtiger und von Herzen zutraulicher wäre, als die klugen, jungen russischen Mädchen, selbst wenn sie auch noch so verbildet sind. Freilich gar zu verbildet dürfen sie nicht sein. Daher kann so ein de Grillet, wenn er in einer schönen Rolle, d. h. also maskiert, unter ihnen erscheint, mit größter Leichtigkeit das Herz eines russischen Mädchens erobern; er hat die elegante Form, Mister Astley, und das betreffende Mädchen hält diese Form, diese äußere Maske, für das wahre Gesicht des inneren Menschen, für die natürliche Form seines Charakters und seines Herzens, und nicht bloß für ein Gewand, das ihm durch Erbschaft zugefallen ist.

Leider muß ich Ihnen sagen – Sie werden wohl kaum sehr erbaut davon sein –, daß die Engländer größtenteils eckig und steif sind, die Russinnen aber haben ein recht feines Empfinden für Schönheit und lassen sich durch sie am leichtesten ködern. Denn, um die innere Schönheit eines Menschen und die Originalität seiner Persönlichkeit erkennen zu können, dazu gehört unvergleichlich mehr Selbständigkeit und Sicherheit in der Beurteilung eines Menschen, als ihn unsere Frauen besitzen und erst recht unsere jungen Mädchen, und vor allen Dingen, versteht sich: weit mehr Erfahrung. Miß Polina aber – verzeihen Sie, was ausgesprochen ist, läßt sich nicht mehr unausgesprochen machen – muß sich sehr, sehr lange bedenken, bis sie sich entschließen kann, Sie dem Gauner de Grillet vorzuziehen. Sie wird Sie schätzen lernen, sie wird Ihr Freund werden, wird Ihnen ihr ganzes Herz öffnen, aber dennoch wird in diesem Herzen der verhaßte Lump, der kleinliche, gemeine und habgierige Wucherer de Grillet herrschen. Dabei bleibt es. Ihr Eigensinn und ihre Eigenliebe halten daran fest: denn dieser de Grillet ist ihr nun einmal in der Aureole eines eleganten Marquis, eines enttäuschten und wie es hieß, verarmten Menschenfreundes erschienen, der ihrer Familie und dem leichtsinnigen General aus der Not geholfen hat. Die ganze Komödie, die er gespielt hat, ist ja jetzt für sie kein Geheimnis mehr, aber das hat nichts zu sagen, trotzdem: bitte, geben Sie ihr den früheren de Grillet, – das ist alles, was sie haben will! Und je mehr sie den jetzigen de Grillet haßt, um so mehr sehnt sie sich nach dem früheren, obschon der frühere nur in ihrer Phantasie existiert hat. Sie sind Zuckersieder, Mister Astley?“

„Ich bin Mitinhaber der bekannten Zuckerfabrik Lowell und Kompagnie.“

„Nun, sehen Sie wohl! Hier ein Zuckersieder – dort ein Apoll! Das geht eben nicht, es harmoniert nicht, es läßt sich nicht vereinigen. Ich aber bin nicht einmal Zuckersieder, sondern einfach nur ein kleiner Spieler, bin sogar ein Diener gewesen, was Miß Polina sicherlich bereits wissen wird, denn wie ich sehe, scheint sie eine gute Geheimpolizei zu haben ...“

„Sie sind verbittert, deshalb reden Sie diesen ganzen Unsinn,“ sagte Mister Astley kaltblütig, nach kurzem Nachdenken. „Außerdem entbehren Ihre Worte der Originalität.“

„Einverstanden! Aber gerade darin liegt ja das Entsetzliche, mein verehrter Freund, daß alle diese meine Beschuldigungen, so veraltet, so billig und phrasenhaft sie sein mögen, dennoch die Wahrheit selbst sind! Immerhin haben wir beide nichts erreichen können!“

„Das ist nichts weiter als ganz abscheulicher Unsinn ... denn ... denn ... so hören Sie!“ rief plötzlich Mister Astley mit aufblitzenden Augen, und seiner Stimme hörte man die innere Erregung an, „ich will es Ihnen sagen, Sie undankbarer und unwürdiger, gesunkener und unglücklicher Mensch: ich bin in ihrem Auftrage nach Homburg gekommen, nur um Sie zu sehen und aufrichtig und herzlich mit Ihnen zu sprechen, und ihr dann alles mitzuteilen, alles – Ihre Gefühle, Gedanken, Hoffnungen und ... Erinnerungen!“

„Nicht möglich! Das ist nicht möglich!“ rief ich, und plötzlich stürzten mir Tränen aus den Augen.

Ich konnte sie nicht zurückhalten, und das geschah, glaube ich, zum erstenmal in meinem Leben.

„Ja, Sie unglücklicher Mensch, sie liebte Sie – das kann ich Ihnen jetzt mitteilen, weil Sie ja doch schon ein verlorener Mensch sind. Ja, ich glaube sogar, selbst wenn ich Ihnen sage, daß sie Sie auch jetzt noch liebt – Sie werden trotzdem hier bleiben! Ja, Sie haben sich zugrunde gerichtet. Sie hatten einige Fähigkeiten, einen lebhaften Charakter und Sie waren kein schlechter Mensch. Sie könnten sogar Ihrem Vaterlande etwas sein – und Rußland hat doch einen solchen Mangel an Menschen – Sie aber werden hier bleiben. Ihr Leben ist zu Ende. Ich schreibe Ihnen keine Schuld zu. Meiner Ansicht nach sind alle Russen so – oder sind geneigt, so zu sein. Ist es nicht das Roulette, dann ist es etwas anderes, Ähnliches. Die Ausnahmen sind gar zu selten. Sie sind nicht der Erste, der nicht weiß, was Arbeit ist – natürlich rede ich nicht vom Volk. Das Roulette wird vorzugsweise von Russen gespielt. Bis jetzt waren Sie noch ehrlich und haben es vorgezogen, Diener zu werden, als zu stehlen ... Aber mir graut vor dem Gedanken, was in Zukunft geschehen wird. Doch genug, reden wir nicht davon! Leben Sie wohl. Sie haben Geld nötig? Hier haben Sie von mir zehn Louisdor, mehr gebe ich Ihnen nicht, denn Sie werden sie ja doch verspielen. Nehmen Sie und leben Sie wohl! So nehmen Sie doch!“

„Nein, Mister Astley, nach allem, was Sie soeben gesagt haben ...“

„Nehmen Sie!“ rief er impulsiv, „ich bin überzeugt, daß Sie noch ein anständiger Mensch sind und ich gebe es Ihnen als Freund. Könnte ich überzeugt sein, daß Sie sofort das Spiel aufgeben und Homburg verlassen würden, um in Ihr Vaterland zurückzukehren – ich wäre ohne weiteres bereit, Ihnen tausend Pfund Sterling für den Anfang eines neuen Lebens zu geben. Statt dessen gebe ich Ihnen nur zehn Louisdor, denn für Sie sind sie im Augenblick dasselbe wie tausend Pfund: sie werden ja doch alles verspielen! So, und jetzt nehmen Sie das Geld und leben Sie wohl.“

„Ich werde es annehmen, aber nur, wenn Sie mir erlauben, Sie zum Abschied zu umarmen.“

„O, das mit Vergnügen!“

Wir umarmten uns herzlich und Mister Astley verließ mich.

Nein, er hat nicht recht! Wenn ich mich vorschnell und dumm über Polina und de Grillet geäußert habe, so hat er das Gleiche in seiner Beurteilung der Russen getan. Von mir will ich nicht reden. Übrigens ... übrigens ist das ja vorläufig gar nicht, was – das sind ja nur Worte, Worte und Worte, während doch gerade Taten nottun! Die Hauptsache ist hier jetzt die Schweiz! Morgen noch – o, wenn ich doch morgen schon abreisen könnte! Ich muß ein neuer Mensch werden, ich muß auferstehen. Ich muß ihnen beweisen ... Polina soll wissen, daß ich noch Mensch sein kann. Ich brauche ja nur ... Jetzt ist es übrigens schon zu spät, – aber morgen ... O, ich habe ein gutes Vorgefühl, es kann nicht anders sein! Ich habe jetzt außer meinen fünf Gulden noch zehn Louisdor, und habe doch schon mit viel weniger, habe mit nur fünfzehn Gulden zu spielen begonnen! Wenn man vorsichtig beginnt ... – o, bin ich denn wirklich, wirklich ein so kleines Kind! Begreife ich denn wirklich nicht, daß ich ein verlorener Mensch bin? Aber – was hindert mich denn, aufzuerstehen? Ja! Man braucht nur einmal im Leben Berechnung und Ausdauer zu beweisen, einmal nicht die Geduld zu verlieren – und das ist alles! Ich muß nur einmal charakterfest sein und in einer Stunde kann sich mein ganzes Schicksal umdrehen! Die Hauptsache ist, wie gesagt – Charakter! Wenn ich daran denke, was ich vor sieben Monaten in Roulettenburg in der Beziehung erlebt habe! – es war gerade vor meinem großen Verlust. O, das ist das beste Beispiel dafür, was mitunter Entschlossenheit bedeuten kann. Ich hatte alles verloren, alles ... Wie ich aus dem Kurhaus hinaustrete – fühle ich plötzlich, daß in meiner Westentasche noch ein Gulden sich regt. „Ah, da habe ich ja noch was, wofür ich zu Mittag speisen kann!“ dachte ich bei mir, doch – keine hundert Schritte weiter hatte ich mich anders bedacht und kehrte zurück. Ich setzte den Gulden auf manque (damals war gerade manque an der Reihe) und wirklich, es liegt etwas Eigentümliches in unserem Gefühl und Bewußtsein, wenn man ganz allein in der Fremde, fern von der Heimat, fern von Freunden und Bekannten, ohne zu wissen, was man essen und wo man schlafen wird, den letzten, den allerletzten Gulden aufs Spiel setzt! Ich gewann, und nach zwanzig Minuten verließ ich das Kurhaus mit hundertsiebzig Gulden in der Tasche. Tatsache! Da sieht man, was mitunter der letzte Gulden bedeuten kann! Wie, wenn ich damals den Mut verloren hätte, wenn ich nicht gewagt hätte, den Entschluß zu fassen? ...

Morgen, morgen wird alles ein Ende haben!

Der ewige Gatte

I.
Weltschaninoff.

Der Sommer war da und Weltschaninoff war ganz gegen alle Erwartung doch in Petersburg geblieben. Aus seiner beabsichtigten Reise nach dem Süden Rußlands war nichts geworden, sein Prozeß aber zog sich immer noch hin, ohne daß man auch nur das Ende hätte absehen können. Ja, dieser Prozeß – ein Rechtsstreit in Vermögenssachen – hatte in letzter Zeit sogar eine äußerst unangenehme Wendung genommen: noch vor drei Monaten war er ihm so klar und unverwickelt erschienen, fast als brauche man da überhaupt keine Worte mehr zu verlieren – plötzlich aber begann alles, sich zu verwickeln und zum Ungünstigen zu verändern.

„Und überhaupt scheint sich jetzt alles gegen mich zu verschwören: alles nimmt eine ungünstige Wendung!“ sagte Weltschaninoff neuerdings oft zu sich selbst, wobei er geradezu eine gewisse Schadenfreude empfand.

Er hatte sich an einen geschickten, berühmten und teuren Rechtsanwalt gewandt und scheute keine Ausgaben; seine Ungeduld und sein Mißtrauen verleiteten ihn aber, sich auch persönlich mit der Angelegenheit zu befassen: er las verschiedene, ihm wichtig scheinende Schriftstücke, verfaßte sogar selbst welche, die sein Rechtsanwalt jedoch ausnahmslos in den Papierkorb warf, lief von einer Gerichtsbehörde zur anderen, stellte auf eigene Faust Nachforschungen an und hielt den natürlichen Verlauf des Rechtsstreites vermutlich weit mehr auf, als daß er ihn beschleunigte. Wenigstens beklagte sich sein Rechtsanwalt wiederholt über diese Einmischungen seinerseits und redete ihm nach Kräften zu, doch irgendeine Sommerfrische aufzusuchen. Er aber konnte sich nicht einmal dazu entschließen. Und so blieb er in Petersburg, blieb ungeachtet des Staubes, der drückenden Schwüle und der nervenreizenden hellen Nächte.

Auch seine Wohnung, die er in der Nähe des Großen Theaters vor kurzem erst bezogen hatte, wollte ihm nicht gefallen. Kurz – „alles ging schief“! – und seine Hypochondrie wuchs mit jedem Tage. – Übrigens war er schon von jeher zum Hypochonder veranlagt gewesen.

Weltschaninoff hatte ein flottes, genußreiches Leben hinter sich, war freilich auch nicht mehr jung – etwa achtunddreißig, wenn nicht gar neununddreißig – das aber war doch schon „das Alter“, wie er sich selbst gestand, oder glaubte, sich gestehen zu müssen, – in das er sich „ganz plötzlich und unerwartet“ hineinversetzt sah. Er begriff jedoch vollkommen, daß es weniger die Zahl als die Art der Jahre war, was ihn alt machte, daß das Alter sich daher, wenn man so sagen darf, mehr von innen heraus in ihm verbreitete, als daß es ihn von außen sichtbar überkam. Denn nach seinem Äußeren zu urteilen, war er immer noch ein stattlicher Mann in den besten Jahren, der es mit jedem aufnehmen konnte: er war sehr groß von Wuchs und dabei stämmig, hatte dichtes hellblondes Haar und einen langen blonden Bart, in dem sich ebenso wie auf seinem Haupte noch kein einziges graues Härchen finden ließ. Auf den ersten Blick mochte er jetzt vielleicht etwas plump und im Vergleich zu früher vielleicht auch vernachlässigt erscheinen, doch wenn man ihn genauer beobachtete, erkannte man in ihm sofort den feinen Herrn und Weltmann, der eine vorzügliche Erziehung genossen hatte. Sein Auftreten war auch jetzt noch sicher, ungezwungen und sogar elegant, trotz einer gewissen Behäbigkeit und Schwerfälligkeit, die er sich im Laufe der Jahre erworben hatte: Trotz alledem hatte sich Weltschaninoff noch sein ganzes unverfrorenes, wahrhaft unerschütterliches Selbstvertrauen bewahrt, dessen ganzer Größe er sich als Lebemann nicht einmal bewußt zu sein schien, obschon er kein dummer, in manchen Dingen sogar ein recht gescheiter, fast kann man sagen gebildeter und zweifellos ein in mancher Hinsicht begabter Mensch war. Sein offenes, frisches Gesicht hatte einst in jungen Jahren durch seine fast frauenhaft zarten Farben die Aufmerksamkeit der Damen auf sich gelenkt, und auch jetzt noch sagte so manch einer, wenn er ihn sah: „Welch ein kerngesunder Mensch, wahrhaftig, Milch und Blut!“

Und dennoch kannte dieser „kerngesunde Mensch“ bereits alle Qualen der Hypochondrie. Noch vor zehn Jahren hatten seine großen blauen Augen so siegesgewiß in die Welt geblickt: es waren noch so helle und gute, so lustige und sorglose Augen gewesen, daß ein jeder, der ihn sah, sich ohne weiteres zu ihm hingezogen fühlte. Jetzt aber, auf der Schwelle der vierziger Jahre, waren die Klarheit und Güte in ihnen fast ganz erloschen: um sie herum begannen sich schon leichte Runzeln einzugraben, und statt der jungen Sorglosigkeit sprach aus ihnen der Zynismus eines ermüdeten Menschen, dessen Lebenswandel, vom Standpunkt der Sittlichkeit aus betrachtet, nicht ganz einwandfrei gewesen war. Zu diesem Zynismus aber gesellte sich noch eine gewisse mißtrauische Schlauheit, sehr oft auch Spott, und dann noch ein neuer Ausdruck, den er früher nicht in ihnen gehabt hatte: es lag nämlich wie ein Schatten von Schwermut und Schmerz über ihnen – einer gleichsam zerstreuten, gewissermaßen gegenstandslosen Schwermut, die aber doch tief und echt zu sein schien. Diese Schwermut überkam ihn namentlich dann, wenn er allein blieb. Und sonderbar, dieser Mensch, der noch vor etwa zwei Jahren ein so lebenslustiger, in seiner Unterhaltung übersprudelnder Gesellschaftsmensch gewesen war und mit so köstlichem Humor seine lustigen Geschichten wiederzugeben verstanden hatte – der liebte jetzt nichts so sehr, als ganz allein zu sein. Mit Absicht gab er eine Menge seiner früheren Bekanntschaften auf, obschon er sie trotz seiner im Augenblick sehr zerrütteten Vermögensverhältnisse auch jetzt noch hätte fortsetzen und pflegen können. Doch um die Wahrheit zu sagen: hier war sein Ehrgeiz das ausschlaggebende Moment. Ein Mensch, der so argwöhnisch, eitel und ehrgeizig war wie er, mußte es allerdings als unmöglich empfinden, mit Leuten, die ihn nur in glänzenden Verhältnissen gekannt hatten, nun in minder glänzenden weiter zu verkehren. Doch auch seine Eitelkeit und sein Ehrgeiz begannen sich unter dem Einfluß der Einsamkeit allmählich zu verwandeln. Nicht, daß sie sich verringert hätten – o nein, sogar im Gegenteil; aber sie entwickelten sich zu einer ganz besonderen Art von Ehrgeiz und Eitelkeit, die von ihrer früheren Art merklich abstach: er grämte sich jetzt immer öfter um ganz andere Dinge, als es die Ursachen seiner früheren kleinen menschlichen Leiden gewesen waren. Es waren das ganz entschieden „höhere“ Dinge als bisher – das heißt, wenn man sich nur so ausdrücken darf, wenn es in der Beziehung wirklich höhere und niedrigere Ursachen und Dinge gibt ... wie Weltschaninoff zu sich selbst sagte.

Ja, so weit war es mit ihm gekommen: diese sogenannten „höheren“ Ursachen, an die er früher überhaupt nicht gedacht hatte, quälten ihn jetzt regelrecht. Als „höher“ aber betrachtete er seiner Erkenntnis gemäß und vor seinem Gewissen alle diejenigen „Ursachen“, über die er sich (zu seiner eigenen Verwunderung) nicht mehr lustig zu machen vermochte – bei sich im stillen, versteht sich –, was bis dahin, wenigstens wenn er allein gewesen, noch nie vorgekommen war. Denn in Gesellschaft – o, da war es etwas ganz anderes! Er wußte ja nur zu gut, daß er auch jetzt noch – es brauchten sich nur die äußeren Umstände so zu fügen – ohne zu zögern und ungeachtet aller stillen Erkenntnisse und festen Vorsätze seines besseren Selbst, mit der größten Kaltschnauzigkeit alle diese „höheren Ursachen“ leugnen und selbst als erster über sie lachen würde – natürlich ohne dabei einzugestehen, daß es Stunden gab, in denen er anders dachte. Mit dieser Selbsterkenntnis täuschte er sich durchaus nichts vor: so war es, oder vielmehr, so wäre es unfehlbar gewesen, sogar trotz einer gewissen ganz erheblichen Portion Unabhängigkeit im Denken, die er sich neuerdings von den ihn bis dahin vorwiegend beherrschenden „niedrigeren Ursachen“ abgerungen hatte. Doch wie oft hatte er sich, wenn er sich morgens aus dem Bett erhob, seiner Gedanken und Gefühle geschämt, die er in den schlaflosen Stunden der Nacht gedacht und gefühlt! (In der ganzen letzten Zeit litt er nämlich wirklich an Schlaflosigkeit.) Hinzu kam, was ihm schon vor längerer Zeit aufgefallen: daß er in jeder Beziehung furchtbar mißtrauisch geworden war, und zwar sowohl in kleinen wie in großen Dingen. Infolgedessen nahm er sich vor, auch in Zukunft sich selbst möglichst wenig zu trauen. Indessen gab es da doch Verschiedenes, was einfach als eine Tatsache vor ihm stand, die er ganz unmöglich als solche nicht anerkennen oder leugnen konnte. So ließ es sich nicht aus der Welt schaffen, daß sich z. B. seine Gedanken und Gefühle nachts immer veränderten, wenigstens hatte er früher noch niemals solche gehabt, wie er sie jetzt hatte, und größtenteils glichen sie auch nicht im geringsten denjenigen, die er tagsüber oder wenigstens in der ersten Hälfte des Tages noch immer hatte. Das gab ihm zu denken. Ja, er sprach sogar – natürlich nur so bei Gelegenheit und im Scherz – mit einem berühmten Arzt, einem näheren Bekannten, über diesen „sonderbaren Fall“. Jener erwiderte ihm darauf, daß diese Veränderung oder vielmehr daß dieser Widerspruch der Gedanken und Gefühle in schlaflosen Nächten, oder überhaupt nachts, bei „viel denkenden und temperamentvollen“ Menschen keineswegs eine so ungewöhnliche Erscheinung sei: unter dem melancholischen Einfluß der Nacht käme es bei ihnen oft vor, daß sich ihre Überzeugungen, an denen sie ihr ganzes Leben gehangen, plötzlich änderten und daß sie ebenso plötzlich und ohne jeden triftigen Grund die schwerwiegendsten Entschlüsse faßten. Freilich habe das immer noch eine gewisse Grenze; wenn aber der Betreffende diese Widersprüche, diese Zwieheit fast schon als Pein empfinde, so müsse man sie fraglos als ein Krankheitssymptom betrachten und folglich – je früher desto besser – zur Behandlung schreiten. Das Zweckmäßigste sei in diesem Fall wohl eine radikale Veränderung der Lebensweise, eine andere Diät, wenn möglich eine Reise. Auch Abführmittel wären angebracht.

Weiter wollte Weltschaninoff nichts mehr hören, doch seine Krankheit betrachtete er jetzt als bewiesen.

„Also nichts weiter als ein Krankheitssymptom, alles dieses ‚Höhere‘, also Krankheit, nichts als Krankheit!“ sagte er mit einem gewissen Ingrimm zu sich selbst, sagte es sich sogar ziemlich oft, denn es widerstrebte ihm doch gar zu sehr, innerlich derselben Meinung zu sein.

Sehr bald übrigens begann sich auch vormittags dasselbe zu wiederholen, was er sonst nur in einzelnen Nachtstunden gekannt hatte, bloß mit dem Unterschiede, daß ihn dabei weit mehr Galle überkam, als in der Nacht, daß er anstatt der Reue nur Bosheit empfand und bitteren Spott statt der nächtlichen Rührung.

Im Grunde wurden diese Stimmungen durch nichts anderes heraufbeschworen, als durch „plötzlich und Gott weiß weshalb“ auftauchende Erinnerungen an verschiedene Erlebnisse aus längst vergangenen und auch schon längst vergessenen Jahren, die ihm aber jetzt regelmäßig in einer ganz besonderen Weise wieder ins Gedächtnis traten. Ja, diese Begleitumstände waren vielleicht gerade das Merkwürdigste an der Sache. Weltschaninoff klagte zum Beispiel schon seit längerer Zeit über die augenscheinliche Abnahme seines Gedächtnisses: so vergaß er die Gesichter seiner Bekannten, die sich dann gekränkt fühlten, wenn er sie auf der Straße nicht grüßte; Bücher, die er vor einem halben Jahr gelesen, konnte er in dieser kurzen Frist so vergessen, als hätte er sie nie in der Hand gehabt. Andererseits aber, trotz dieser doch greifbar tatsächlichen Abnahme seiner Gedächtniskräfte, die ihn nicht wenig beunruhigte, begann jetzt alles längst Vergangene, was über zehn, fünfzehn Jahre zurücklag und ebenso lange sogar ganz vergessen gewesen war, wieder aufzutauchen – alles das fiel ihm jetzt plötzlich wieder ein, und zwar mit einer so erstaunlichen Deutlichkeit bis in die geringsten Details, als durchlebe er es in Wirklichkeit von neuem. Ja, einige dieser Erlebnisse hatte er in der Zwischenzeit so vergessen, daß ihm allein schon das Faktum, daß er sich ihrer überhaupt wieder erinnern konnte, als unfaßbares Wunder erschien. Dabei war das noch nicht alles; doch übrigens – welcher Lebemann hätte nicht seine besonderen Erinnerungen?

In seinem Falle freilich lag das Auffällige darin, daß alle diese Erlebnisse, die in seiner Erinnerung wieder auftauchten, jetzt in einer gleichsam von irgend jemandem vorbereiteten, früher ganz undenkbaren, ganz neuen Beleuchtung erschienen, d. h. er betrachtete und beurteilte sie jetzt von einem ganz, ganz anderen Standpunkt aus. Das befremdete ihn am meisten. Warum erschien ihm jetzt so manches geradezu als Verbrechen, was er früher kaum ernst genommen hatte? Und nicht nur sein Verstand urteilte jetzt so: dem allein hätte er, der in der Einsamkeit krank, griesgrämig, düster und innerlich einsam Gewordene, nicht so ohne weiteres getraut; aber es war ja bei ihm schon aus dem bloßen Gefühl heraus zu Verwünschungen und Flüchen gekommen und fast sogar zu Tränen – wenn auch nicht gerade zu äußerlich sichtbaren, so doch immerhin zu innerlichen. Noch vor zwei Jahren aber hätte er es nicht für möglich gehalten, daß er jemals weinen würde!

Anfangs waren es übrigens mehr unangenehme, sogar peinliche Erlebnisse, die ihm seine Erinnerung wieder ins Gedächtnis rief, wie zum Beispiel gesellschaftliche Mißerfolge, Blößen, die er sich mal gegeben, kleine Kränkungen; etwa: wie ihn einmal ein „Intrigant verleumdet“ hatte, weshalb er in einem angesehenen Hause nicht mehr empfangen worden war; wie man ihn ein andermal – und das war gar nicht so lange her – öffentlich und im Ernst beleidigt und wie er damals den Beleidiger nicht gefordert; wie man ihn ein drittes Mal im Kreise der reizendsten Frauen mit einem geistvollen Epigramm abgetrumpft und wie er darauf keine Antwort gefunden hatte, während alle auf eine schlagfertige Replik warteten. Dann fielen ihm noch zwei oder drei unbezahlte Schulden ein, freilich nur geringe Summen, aber doch Ehrenschulden und überdies an Leute, mit denen er den Verkehr abgebrochen und über die er sich schon mehrfach abfällig geäußert hatte. Auch quälte ihn – jedoch nur in den bösesten Stunden – die Erinnerung an die zwei Vermögen, die er in der dümmsten Weise durchgebracht und von denen jedes nichts weniger als unbedeutend gewesen war.

Doch bald kamen auch die von ihm gefürchteten Erinnerungen an die Reihe, jene der „höheren“ Kategorien, wie er sie klassifizierte.

So sah er plötzlich und „ganz ohne jede Veranlassung“ die längst vergessene, in seinem Gedächtnis bis dahin spurlos ausgelöscht gewesene Gestalt eines alten guten Männleins vor sich, eines komischen kleinen Beamten mit silberweißem Haar, den er einmal vor langer, langer Zeit öffentlich und ungestraft beleidigt hatte, und zwar einzig deshalb, um einen guten Witz, der nachher viel belacht und weitererzählt worden war, im Augenblick anbringen zu können. Er hatte den Fall so sehr vergessen, daß er sich nicht einmal auf den Namen des Alten besinnen konnte, obschon er sich im Moment selbst der kleinsten Einzelheit der Umgebung – „und wie sich das alles zugetragen“ – mit geradezu fabelhafter Deutlichkeit entsann. Er erinnerte sich noch ganz genau, wie der Alte damals für die Ehre seiner Tochter – ein unverheiratetes, nicht mehr ganz junges Mädchen, das bei ihm lebte, und über das man in der Stadt zu munkeln begonnen – eingetreten war. Der Alte hatte seine Tochter zu verteidigen gesucht, hatte nur so gezittert vor Empörung und Aufregung, und plötzlich war er in Tränen ausgebrochen und hatte laut geschluchzt – vor der ganzen Gesellschaft, die selbst eine gewisse Peinlichkeit zu empfinden schien. Geendet aber hatte die Geschichte damit, daß man ihm zum Scherz immer wieder das Champagnerglas gefüllt, um dann nach Herzenslust über ihn lachen zu können.

Als Weltschaninoff sich nun auf einmal jener Szene erinnerte, in der der arme Alte in Tränen ausgebrochen war und sein Gesicht mit den Händen bedeckt hatte, wie es kleine Kinder tun, da war es ihm plötzlich, als habe er alles das nie auch nur einen Augenblick vergessen. Und sonderbar: damals war ihm der ganze Vorfall sehr komisch erschienen; jetzt aber war gerade das Gegenteil der Fall – namentlich jenes Verbergen des Gesichts in den Händen kam ihm fast tragisch vor. Dann fiel ihm ein, wie einmal die Frau eines Schullehrers – ein ganz entzückendes Frauchen – „nur so zum Scherz“ von ihm verleumdet worden war. Die Folgen waren ihm unbekannt geblieben, da er das Städtchen gleich darauf verlassen hatte; er wußte nur, daß die Verleumdung ihrem Manne zu Ohren gekommen sei. Jetzt aber begann er plötzlich sich diese Folgen auszumalen, und Gott weiß, bis zu welchen Schreckbildern seine Phantasie sich noch verstiegen hätte, wenn nicht plötzlich ein viel näher liegendes Erlebnis aufgetaucht wäre: die Erinnerung an ein Mädchen aus ganz einfachen, kleinbürgerlichen Verhältnissen, das ihm nicht einmal gefallen hatte, ja, dessen er sich, genau genommen, sogar geschämt, mit dem er aber, ohne selbst recht zu wissen warum und wozu, ein Kind in die Welt gesetzt. Und dann – ja, dann hatte er sie mit dem Kinde sitzen lassen und hatte sich nicht einmal von ihr verabschiedet (freilich nicht vorsätzlich, sondern so – aus Zeitmangel!) als er Petersburg verlassen. Später freilich hatte er dann ein ganzes Jahr lang nach diesem Mädchen geforscht, doch vergeblich: beide, sie und das Kind, waren spurlos verschwunden gewesen. Übrigens fielen ihm jetzt, wie ihm schien, hunderte solcher Geschichten ein – ja, es war ihm sogar, als ziehe eine jede dieser Erinnerungen gleich Dutzende ähnlicher nach sich. Alles das aber bewirkte, daß ihn mit der Zeit auch noch seine Eitelkeit zu quälen begann.

Wie bereits erwähnt, hatte sich seine Eitelkeit, oder, wenn man will, sein Ehrgeiz – der Unterschied ist nicht groß – zu einer ganz besonderen Abart entwickelt. Das war Tatsache. Mitunter – allerdings kam das nur selten vor – ging er in seiner Selbstvergessenheit so weit, sich nicht einmal dessen zu schämen, daß er keine eigene Equipage besaß, daß er zu Fuß die verschiedenen Gerichtsbehörden aufsuchte, daß er sich ein wenig nachlässiger kleidete; und hätte ihn einer seiner früheren Bekannten deshalb etwas erstaunt angesehen oder sich gar einfallen lassen, ihn nicht zu grüßen, so hätte seine Anmaßung ganz gewiß ausgereicht, die Kränkung zu übersehen und zwar, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken – auch innerlich nicht zu zucken, also nicht bloß, um sich äußerlich darüber erhaben zu zeigen. Natürlich galt das nur von Ausnahmefällen, wie es die Augenblicke vollständiger Apathie in diesen Dingen immerhin noch waren. Doch gleichviel, wie dem auch sein mochte – jedenfalls begann sein Ehrgeiz aus seinen früheren Grenzen herauszutreten und sich auf ein psychologisches Problem, mit dem er sich jetzt fast unausgesetzt beschäftigte, zu beschränken.

„Sonderbar,“ begann er zuweilen in sarkastischer Überlegenheit sein Selbstgespräch (wenn er an sich selbst dachte, begann er stets mit Sarkasmus), „da scheint sich ja wahrhaftig jemand um die Hebung meiner Sittlichkeit zu bemühen und mir diese verdammten Erinnerungen auf den Hals zu schicken, um mir lobesame Reuetränchen abzupressen! Nun, mag er, es ist ja doch zwecklos! Das sind ja nur blinde Schüsse! Als ob ich nicht wüßte, genau wüßte, mehr noch als genau, einfach mit tödlicher Sicherheit, daß trotz aller Reuetränen und Selbstverurteilung kein Atom Selbstbeherrschung in mir steckt, sogar ungeachtet meiner albernen vierzig Jahre! Es braucht ja doch morgen nur wieder mal so eine Versuchung an mich heranzutreten – nun, sagen wir zum Beispiel, die Umstände fügen es so, daß es mir vorteilhaft erscheint, zu sagen, die junge Frau jenes Lehrers habe von mir Geschenke angenommen – und ich werde es doch unbedingt wieder sagen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, – und es wird dann alles noch gemeiner und schmutziger herauskommen, als das erstemal, denn diesmal wäre es eben das zweitemal, da ist man schon geübter. Nun, oder sagen wir, jener junge Fürst, der einzige Sohn seiner Mutter, dem ich damals vor elf Jahren das Bein abschoß, der sollte mich wieder so beleidigen – ich würde ihn doch sofort wieder fordern und ihm wieder zu einem Stelzfuß verhelfen. Nun – und da sollen das nicht blinde Schüsse sein?! Nützen tun sie jedenfalls nichts! Wozu also diese Erinnerungen, wenn ich’s nun mal nicht verstehe, mich wenigstens einigermaßen mit Anstand von mir loszumachen!“

Und wenn er auch keine junge Frau wieder verleumdete und keinem jungen Fürsten zu einem Stelzfuß verhalf, so war für ihn doch allein schon der Gedanke, daß sich alles unfehlbar wiederholen würde, wenn nur die Umstände es wieder so fügten, fast tötend ... d. h. – bisweilen! Man kann doch, in der Tat, nicht immer unter Erinnerungen leiden! Man darf sich doch wohl auch etwas erholen und zerstreuen – in den Zwischenpausen.

Das tat denn auch Weltschaninoff: er war bereit, die Zwischenpausen auszunutzen; aber je länger die Sache dauerte, um so unangenehmer wurde ihm sein Leben in Petersburg. Der Juli stand schon vor der Tür. Ihm kam wohl mitunter der Gedanke, alles liegen zu lassen, sogar den Prozeß zu vergessen, und irgendwohin fortzufahren, nur fort, ohne sich umzuschauen, und ganz plötzlich, wie zufällig, gleichviel wohin, etwa nach der Krim zum Beispiel. Doch schon nach einer Stunde hatte er nur noch ein verächtliches Lächeln und blanken Spott für diesen Einfall. Sarkastisch sagte er sich dann: „Diesen miserablen Gedanken wird auch kein Süden ein Ende machen können, wenn sie einmal angefangen haben, mich heimzusuchen, und wenn ich wenigstens nur ein halbwegs anständiger Mensch bin! Folglich aber – wozu vor ihnen fliehen? Es liegt ja auch gar kein Grund vor!“

„Und überhaupt – wozu das Weite suchen,“ fuhr er vor Trübsal zu philosophieren fort, „hier ist es so staubig, so drückend schwül, in diesen Häusern der Gerichtsbehörden, in denen ich mich herumtreibe, ist doch alles so schmutzig, in diesen kleinen Geschäftsleuten, die sich dort drängen, steckt so viel nichtige, hastende, widerliche Geschäftigkeit, ganz als wären sie Mäuse und nicht Menschen, so viel bettelhafte Kopekensorgen! – in diesem ganzen Pöbel, der jetzt noch in der Stadt geblieben ist, in all diesen Gesichtern, die vom Morgen bis zum Abend an mir vorüberstreifen, drückt sich so aufrichtig ihre ganze dumme Gemeinheit aus, die ganze Feigheit ihrer kleinen Seelen, die ganze Hühnerherzigkeit ihrer kleinen Herzen, – daß man, bei Gott, Petersburg im Sommer nur das wahre Eldorado eines Hypochonders nennen kann! Im Ernst! Alles ist unmaskiert, alles offenkundig, nichts wird verdeckt, man denkt nicht mal daran, Verbergen für notwendig zu halten – ähnlich wie es unsere Damen in der Sommerfrische tun, oder in ausländischen Bädern! – Folglich verdient ja alles allein schon wegen dieser Offenheit und naiven Einfachheit meine vollste Hochachtung! ... Ich fahre nirgends hin! Basta! Und sollte ich auch bersten, ich rühr’ mich nicht von hier! ...“

II.
Der Herr mit dem Trauerflor um den Hut.

Es war am dritten Juli. Die Schwüle und Hitze wurden um die Mittagszeit schier unerträglich. Und gerade an diesem Tage hatte Weltschaninoff so viele Gänge vor wie noch nie: den ganzen Tag ging und fuhr er in der Stadt umher, hierhin und dorthin, und für den Abend stand ihm noch ein äußerst wichtiger Besuch bei einem sehr angesehenen, einflußreichen Herrn bevor, einem Staatsrat, von dem fast der Ausgang seines Prozesses abhing, und der im Sommer außerhalb der Stadt irgendwo dort am Schwarzen Flüßchen in seinem Landhause lebte. Diesen Herrn galt es jetzt ganz plötzlich zu Hause zu überrumpeln, um einmal persönlich mit ihm sprechen zu können. Kurz vor sechs trat Weltschaninoff endlich in ein recht zweifelhaftes französisches Restaurant am Newskij-Prospekt in der Nähe der Polizeibrücke, setzte sich in einer stilleren Ecke auf seinen einmal gewohnten Platz und bestellte wie immer sein Mittagessen.

Er pflegte jetzt täglich nur zu einem Rubel zu Mittag zu speisen – den Wein natürlich nicht mitgerechnet, – was er für ein Opfer hielt, das er vernünftigerweise seinen zerrütteten Vermögensverhältnissen brachte. Während er aß, wunderte er sich darüber, wie man so was Geschmackloses überhaupt essen konnte, verzehrte aber nichtsdestoweniger alles bis auf das letzte Krümchen – und tat das jedesmal mit einem solchen Appetit, als habe er vorher drei Tage lang nichts genossen.

„Das ist entschieden etwas Krankhaftes,“ murmelte er vor sich hin, wenn ihn sein Appetit bisweilen doch selbst wundernahm.

Diesmal setzte er sich in der denkbar schlechtesten Laune an seinen Tisch, warf Hut und Stock auf irgendeinen Stuhl, stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und versank in Nachdenken. Wenn jetzt sein Nachbar, der am nächsten Tisch ruhig speiste, irgendwie unruhig oder laut geworden wäre, oder wenn der Kellner seine Bestellung nicht sogleich verstanden hätte: er, Weltschaninoff, der sonst so höflich, so erhaben ruhig zu sein verstand, sobald es nötig war, – er wäre unfehlbar aufgebraust wie irgend so ein Grünschnabel und hätte womöglich einen Skandal hervorgerufen.

Man brachte ihm die Suppe, er nahm den Löffel – plötzlich aber, noch bevor er die Suppe angerührt hatte, fuhr er so zusammen, daß er fast vom Stuhl aufgesprungen wäre und unwillkürlich den Löffel auf den Tisch warf. Ein ganz unerwarteter Gedanke hatte ihn wie ein Blitz durchzuckt, und in derselben Sekunde hatte er – Gott weiß, wie das zuging – plötzlich die Ursache seiner Unruhe erkannt, die Ursache einer ganz besonderen, eigentümlichen Nervosität, die ihn schon seit mehreren Tagen quälte und mit den Erinnerungen nichts zu schaffen hatte, die, Gott weiß weshalb, über ihn gekommen waren und sich trotz aller Versuche nicht hatten abschütteln lassen. Und nun plötzlich war es wie Schuppen von seinen Augen gefallen und alles wurde ihm klar und er begriff den ganzen Zusammenhang.

„Das ist ja alles nur jener Hut!“ sagte er sich, und diese Erleuchtung erfüllte ihn geradezu mit Begeisterung. „Nur dieser verdammte runde Hut mit diesem abscheulichen Trauerflor, der ist an allem schuld!“

Er begann nachzudenken – und je länger er nachdachte, um so mehr verdüsterte sich sein Gesicht und um so wunderlicher erschien ihm diese ganze Begebenheit.

„Aber ... aber, wo ist hier denn eine Begebenheit?“ protestierte er mißtrauisch gegen die eigene Bezeichnung. „Was liegt denn hier überhaupt vor, dem auch nur entfernt die Bezeichnung, ‚Begebenheit‘ zustände?“

Die Sache verhielt sich folgendermaßen. Vor etwa vierzehn Tagen (genau wußte er selbst nicht, wie lange es her war, aber es mochte immerhin annähernd stimmen) war ihm auf der Straße zum erstenmal – es war an der Ecke der Podjatscheskaja und der Meschtschanskaja gewesen, dessen entsann er sich plötzlich genau – ja, dort war ihm zum erstenmal ein Herr begegnet, der auf seinem Hut einen Trauerflor trug. Der Herr hatte wie jeder andere Herr ausgesehen, sagte sich Weltschaninoff, es war gar nichts Außergewöhnliches an ihm gewesen: er war schnell an ihm vorübergegangen, hatte ihn aber ... irgendwie – ja: irgendwie aufmerksam angesehen, so daß er unwillkürlich auch Weltschaninoffs Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, und das sogar in hohem Maße. Wenigstens war ihm das Gesicht des Fremden bekannt erschienen. „Ach, übrigens – wer kann all die tausend Physiognomien behalten, denen man im Leben begegnet ist!“ hatte er jedoch im nächsten Augenblick bei sich gedacht und seinen Weg fortgesetzt. Und nach etwa zwanzig Schritten, so schien es ihm nun, hatte er die Begegnung wieder vergessen, obschon der erste Eindruck kein geringer gewesen war. Und tatsächlich war er denn auch diesen Eindruck den ganzen Tag nicht losgeworden – freilich war es ganz unbewußt sozusagen ahnungslos geschehen, daß er ihn mit sich herumtrug, es war gewesen, wie wenn eine ganz eigentümliche, undeutliche, gegenstandslose Wut in ihm gelegen hätte, deren Ursache er selbst nicht anzugeben vermochte. Jetzt, nachdem fast schon zwei Wochen darüber vergangen waren, entsann er sich dessen ganz genau; und er erinnerte sich sogar, daß er damals nicht hatte verstehen können, woher diese Wut, diese Verbissenheit geradezu, über ihn gekommen war: er wäre wohl auf alles eher als auf den Gedanken verfallen, seine mißliche Gemütsverfassung an diesem Tage auch nur entfernt mit jener Begegnung am Morgen in Verbindung zu bringen, um wieviel weniger noch, in ihr die alleinige Ursache seiner unruhigen Stimmung zu suchen. Doch jener Unbekannte sorgte selbst dafür, daß er ihn nicht vergaß: am nächsten Tage begegnete er Weltschaninoff auf dem Newskij-Prospekt und wieder sah er ihn so eigentümlich an. Weltschaninoff spie aus, doch kaum war es geschehen, da wunderte er sich über sich selbst. Es gibt ja allerdings Physiognomien, die im Augenblick einen ganz grundlosen und zwecklosen Widerwillen erwecken, doch deshalb –

„Ja, ich muß ihm wirklich schon früher einmal begegnet sein,“ murmelte Weltschaninoff nachdenklich, als bereits eine halbe Stunde nach dieser Begegnung vergangen war. Den Rest des Tages verbrachte er aber wiederum in der unangenehmsten Stimmung, und in der Nacht hatte er sogar einen bösen Traum. Und doch kam er nicht darauf, daß die ganze Ursache dieser neuen und eigentümlichen Hypochondrie nur jener Herr mit dem Trauerflor um den Hut war, obschon er im Laufe des Abends mehr als einmal an ihn gedacht und sich vorübergehend sogar gallig darüber geärgert hatte, daß „solch ein Subjekt“ sich breit zu machen wagte; doch diesem „Subjekt“ nun gar seine ganze Unruhe zuzuschreiben – das hätte er entschieden für eine Erniedrigung gehalten, wenn er überhaupt auf den Gedanken gekommen wäre.

Zwei Tage darauf begegnete er ihm wieder, im dichtesten Gedränge an einer Landungsstelle der Newadampfer. Diesmal hätte Weltschaninoff darauf schwören mögen, daß der Herr mit dem Trauerflor um den Hut ihn erkannt und sich krampfhaft zu ihm hin gedrängt habe, doch die Menge brachte sie auseinander. Einen Moment hatte es ihm sogar geschienen, als habe sich jener „erfrecht“, ihm die Hand entgegen zu strecken, ja, vielleicht hatte er ihn sogar angerufen, sogar beim Namen gerufen! Letzteres hatte er übrigens nicht genau gehört, aber –

„Wer, zum Teufel, ist denn dieser Schuft und weshalb kommt er nicht auf mich zu, wenn er mich erkannt hat und doch offenbar etwas von mir haben will?“ dachte er ärgerlich, während er in eine Droschke stieg und in der Richtung des Ssmolnaklosters davonfuhr. Eine halbe Stunde darauf stritt er sich bereits heftig mit seinem Rechtsanwalt, doch am Abend und in der Nacht kamen wieder die Qualen seiner allerabscheulichsten und sogar ins Phantastische ausartenden Hypochondrie.

„Oder sollte etwa meine Galle nicht in Ordnung sein?“ fragte er sich argwöhnisch und betrachtete sich im Spiegel, um sein Gesicht auf etwaige Anzeichen der Gelbsucht hin zu prüfen.

Es war die dritte Begegnung gewesen. Darauf sah er ihn fünf Tage lang kein einziges Mal: der „Schuft“ schien verschwunden zu sein. Inzwischen aber, ob er wollte oder nicht, trat ihm der Mann mit dem Trauerflor doch immer wieder ins Gedächtnis und seine Gedanken beschäftigten sich unaufhörlich mit dem Unbekannten. Mit einer gewissen Verwunderung ertappte er sich selbst auf seinen Gedanken.

„Es ist ja, bei Gott, als hätte ich Sehnsucht nach ihm! – oder was ist es sonst? Hm! ... Er muß hier in Petersburg viel zu tun haben – um wen er wohl trauern mag? Augenscheinlich hat er mich erkannt, ich aber – ’s ist doch zu dumm! Ich kann mich wirklich nicht ... Und wozu nur diese Leute einen Trauerflor um den Hut tragen? Es steht ihnen nicht ... Ich glaube, wenn ich ihn genauer betrachtete, würde ich ihn erkennen ...“

Und da war es ihm, als beginne sich etwas ... so ... so wie zu regen in seinem Gedächtnis: gleichsam ein bekanntes, doch aus irgendeinem Grunde vergessenes Wort wollte aufsteigen, auf das er sich durch krampfhaft konzentriertes Denken zu besinnen suchte, wie man es so oft vergeblich tut: man kennt das im Moment entfallene Wort sehr gut und man weiß, daß man es kennt; man weiß auch, was es bedeutet, man windet sich förmlich darum herum, und doch – man kommt nicht darauf, so sehr man sich auch quält!

„Das war ... das ist schon lange her ... und das war irgendwo ... nicht hier. Da war etwas ... da war ... – ach, hol’s der Teufel, was dort war oder nicht war!“ rief er plötzlich entschieden verärgert aus, „und ist denn dieser Lump es überhaupt wert, daß man sich seinetwegen so ... abquält und erniedrigt? ...“

Und er ärgerte sich furchtbar; als er sich jedoch am Abend plötzlich erinnerte, daß er sich geärgert, und sogar furchtbar geärgert hatte, da war ihm das wieder sehr, wirklich, sehr unangenehm. Es war ihm, als habe ihn jemand in irgendeiner Beziehung gewissermaßen eingefangen. Das verwirrte ihn. Und er wunderte sich.

„So muß denn doch eine Ursache vorhanden sein, weshalb ich mich ärgere ... so ganz ohne jede Veranlassung ... bei der bloßen Erinnerung ...“ Er wollte aber seinen Gedanken nicht zu Ende denken.

Doch am nächsten Tage ärgerte er sich noch mehr, nur glaubte er diesmal, allen Grund dazu zu haben, und mit seinem Ärger durchaus im Recht zu sein, denn – „die Frechheit war unerhört!“ – jener war ihm zum vierten Male begegnet.

Wie aus dem Boden geschossen war plötzlich dieser verwünschte Hut mit dem Trauerflor vor ihm aufgetaucht. Weltschaninoff hatte gerade jenen einflußreichen Staatsrat, den er neuerdings in seiner Villa aufzusuchen, d. h. quasi zu überrumpeln gedachte, ganz zufällig auf der Straße getroffen und es war ihm sogar gelungen, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Er bemühte sich aber vergeblich, den alten Schlaukopf, dem diese Begegnung mit Weltschaninoff natürlich sehr unangenehm war, durch entsprechende Fragen auf das gewünschte Thema zu bringen, um ihn dann geschickt zu zwingen, doch irgend etwas über den Ausgang seines Prozesses verlauten zu lassen. Das verlangte ein gutes Stück Mühe, Gedankenverbindung und Politik, denn der alte Fuchs ließ sich nicht so leicht in die Enge treiben. Und da – gerade in dem Augenblicke, als Weltschaninoff eine geschickte Frage einflechten wollte – gerade da fügte es das Schicksal, daß er über die Straße sah und dort auf dem anderen Trottoir plötzlich – den Mann mit dem Trauerflor erblickte. Er stand und sah von dort aus aufmerksam zu den beiden hinüber: er mußte ihnen gefolgt sein, das war klar, und wie es schien, lächelte er sogar höhnisch.

„Zum Teufel!“ fluchte Weltschaninoff, nachdem er sich vom Staatsrat verabschiedet hatte und nun seinen ganzen Mißerfolg dem Erscheinen dieses „Frechlings“ zuschrieb. „Zum Teufel, sollte er etwa ein Spion sein, der mich nicht aus dem Auge lassen will? Daß er mich verfolgt, liegt ja auf der Hand! Sollte er etwa von irgend jemandem dazu angestellt sein ... und ... und bei Gott, das Vieh grinste noch obendrein! Ich werde ihn ... prügeln, daß ihm kein Knochen im Leibe heil bleiben soll, bei meiner Ehre! Schade nur, daß ich keinen Stock trage! ... Ich werde mir einen kaufen, ganz einfach! Das lasse ich mir nicht bieten! Wer er wohl sein mag? Das muß ich unbedingt in Erfahrung bringen!“

Drei Tage nach dieser vierten Begegnung, es war am dritten Juli, fühlte sich Weltschaninoff, als er das Restaurant betrat, in dem er zu speisen pflegte, bereits ernstlich erregt, beunruhigt und in etwas sogar aus dem Geleise gebracht. Doch das haben wir schon oben erwähnt. Nur konnte er sich jetzt nicht mehr über die Ursache dieses seines Zustandes Täuschungen hingeben, obschon sein Stolz diese letzteren der Wahrheit gern vorgezogen hätte. Wie die Dinge nun einmal lagen, wurde er ja geradezu zu der Erkenntnis gezwungen, daß seine ganze eigentümliche Stimmung, seine vierzehntägige Übellaunigkeit und Unruhe auf nichts anderes zurückzuführen waren, als auf „diesen selben Trauerflormenschen“, obschon dieses „nichtswürdige Subjekt“ einer solchen Ehre gar nicht wert war.

„Schön, sagen wir, nehmen wir an, ich bin ein Hypochonder,“ dachte Weltschaninoff, „und folglich geneigt, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, – so fragt es sich doch, ob es mir denn dadurch leichter wird, wenn ich mir sage, daß alles das vielleicht nur meine Einbildung ist? Denn, wäre in der Tat jedes ähnliche Subjekt imstande, einen Menschen vollständig aus dem Gleichgewicht zu bringen, so wäre das doch ... so wäre das doch ...“

Er fand nicht sogleich den richtigen Ausdruck.

Allerdings hatte sich der Elefant diesmal bei der fünften Begegnung, die Weltschaninoff so aus dem „Gleichgewicht“ gebracht hatte, fast ganz als Mücke gezeigt: er war wie gewöhnlich aufgetaucht und an ihm vorübergeglitten, hatte ihn aber weder angesehen, noch sonstwie zu zeigen versucht, daß er ihn erkannt habe und überhaupt kenne, wie er es früher jedesmal getan, sondern hatte im Gegenteil den Blick gesenkt und offenbar ganz unbemerkt verschwinden wollen. Da hatte sich aber Weltschaninoff brüsk nach ihm umgekehrt und laut gerufen:

„He! Sie da! Hut mit dem Trauerflor! Jetzt laufen Sie! He! Stillgestanden! Wer sind Sie?“

Die Frage, wie der ganze Anruf waren natürlich sehr dumm, doch Weltschaninoff sah das erst ein, als es schon zu spät war. Der Herr war zusammengezuckt und stehen geblieben, hatte sich halb umgedreht und gelächelt – sichtlich verwirrt – und so hatte er eine Weile gestanden, offenbar in der größten Unentschlossenheit, und dann plötzlich hatte er kehrtgemacht und war davongeeilt, ohne sich noch einmal umzusehen. Verwundert sah ihm Weltschaninoff nach.

„Aber wie? ...“ fragte er sich plötzlich, „wie, wenn in Wirklichkeit nicht er es ist, der mich verfolgt, sondern ich es bin, der ihn verfolgt, und wenn das schließlich die Sache ganz anders erklärt?“

Nachdem er gespeist und bezahlt hatte, begab er sich sogleich nach dem Landhause jenes einflußreichen Staatsrats. Er traf ihn jedoch nicht zu Hause an. Man sagte ihm, der Herr sei am Morgen ausgegangen und werde wohl kaum vor drei oder vier Uhr nachts aus der Stadt zurückkehren, da er zu einer Namenstag-Feier eingeladen sei. Das fand nun Weltschaninoff dermaßen „beleidigend“, daß er in der ersten Wut ohne weiteres beschloß, den Staatsrat dort im fremden Hause aufzusuchen, und so nannte er dem Kutscher die Adresse. Unterwegs wurde er zum Glück etwas ruhiger und sagte sich, daß er in seinem Vorhaben doch wohl zu weit gehe, und nachdem er das eingesehen, ließ er den Kutscher halten und stieg aus, um sich zu Fuß nach Hause zu begeben. Es stand ihm freilich noch ein weiter Weg bevor – bis zum Großen Theater – aber er hatte das Bedürfnis, sich Bewegung zu machen: um seine Nerven zu beruhigen, mußte er sich um jeden Preis einmal gut ausschlafen; um jedoch überhaupt einschlafen zu können, mußte er sich physisch ermüden. So langte er erst gegen elf Uhr in seiner Wohnung an und fühlte sich durch den weiten Gang auch wirklich ganz erschöpft.

Seine Wohnung, die er im März bezogen hatte, und an der er mit einer gewissen Schadenfreude alles auszusetzen fand – doch entschuldigte er sich gewöhnlich wieder damit, daß er ja nur durch „diesen verdammten Prozeß“ en passant in Petersburg steckengeblieben sei, was ihn dann etwas zu beruhigen schien – diese Wohnung war in Wirklichkeit durchaus nicht so schlecht und „geradezu schmachvoll“, wie er sich selbst ausdrückte. Der Eingang war allerdings etwas dunkel, was die Bezeichnung Weltschaninoffs, er sei „einfach schwierig“ in etwas rechtfertigte, zumal die Tür zum Treppenhaus sich unter dem Torbogen befand. Dafür aber war die Wohnung selbst, die im zweiten Stockwerk lag, sogar sehr anständig: sie bestand aus zwei großen, hohen und hellen Zimmern, die ein dunkles Vorzimmer voneinander trennte und von denen das eine nach der Straße, das andere nach dem Hofe lag. An letzteres schloß sich seitlich noch ein kleineres Zimmer an, das eigentlich als Schlafzimmer gedacht war, doch Weltschaninoff benutzte es als Aufbewahrungsraum, in dem er Bücher und Papiere kunterbunt liegen ließ. Als Schlafraum benutzte er dagegen das größte Zimmer, jenes, das an der Straßenseite des Hauses lag. Dort schlief er auf einem Diwan. Seine Möbel waren zwar nicht mehr ganz neu, aber doch nicht übel, und sogar einige kostbare Sachen waren darunter vorhanden – Reste einstiger Wohlhabenheit: kleine Kunstgegenstände in Bronze und Porzellan, große bucharische Teppiche, sogar zwei ganz gute Gemälde. Nur befand sich alles in einer gewissen Unordnung, alles stand wie nicht auf dem richtigen Platze und stellenweise war sogar Staub zu sehen, seitdem sein Dienstmädchen Pelageja zu ihren Verwandten nach Nowgorod gefahren war und ihn vorläufig allein gelassen hatte. Diese sonderbare Tatsache, daß er als unverheirateter Lebemann, der doch immer noch in erster Linie für einen Gentleman gelten wollte, nur einen einzigen dienstbaren Geist und noch dazu weiblichen Geschlechts hatte, ließ Weltschaninoff oft fast vor sich selber erröten, obschon er mit dieser Pelageja sehr zufrieden war. Im Frühling, als er die Wohnung bezogen, hatte er sie von einer bekannten Familie, die ins Ausland reiste, übernommen und sich so an sie gewöhnt, daß er sich nicht entschließen konnte, für die Zeit ihrer Abwesenheit ein anderes weibliches Wesen zu nehmen. Einen Diener zu engagieren, das lohnte sich für die kurze Zeit nicht, und außerdem hatte er Diener eigentlich nicht gern. So kam denn jeden Morgen die Schwester der Portiersfrau, Mawra, um aufzuräumen, und ihr übergab er auch jedesmal den Türschlüssel, wenn er ausging. Nur tat diese Mawra für das Geld, das er ihr zahlte, so gut wie nichts und allem Anscheine nach stahl sie sogar. Doch Weltschaninoff befand sich in einer Stimmung, in der er alles Nebensächliche gehen ließ, wie es eben ging, und zuweilen war er sogar sehr zufrieden damit, daß er jetzt ganz allein sein konnte. Doch auch das hatte seine Grenze und wenn er verbittert in sein Heim zurückkehrte, rebellierten seine Nerven empfindlich gegen diesen ganzen „Schmutz“, wie er sich ausdrückte, und mit Widerwillen betrat er dann seine Zimmer.

Diesmal langte er aber so müde in seiner Wohnung an, daß er nichts als den einen Wunsch empfand – „nur zu schlafen“. Und kaum hatte er sich so – ohne sich ganz zu entkleiden – auf sein Lager geworfen und die Augen geschlossen, da vergaß er auch schon alles und schlief ein, während ihn sonst den ganzen Monat über fast in jeder Nacht Schlaflosigkeit gequält hatte.

Er schlief etwa drei Stunden, doch war es ein schwerer, unerquickender Schlaf mit so seltsamen Träumen, wie sie sonst nur Fieber und Krankheit zusammenzudichten vermögen. Es handelte sich da um irgendein Verbrechen, das er begangen haben sollte und nun zu verheimlichen suchte, doch wurde er einstimmig von Menschen, die ununterbrochen irgendwoher ins Zimmer traten, dieses Verbrechens beschuldigt. Es hatte sich schon eine ganze Menge versammelt, aber es kamen immer noch mehr hinzu, so daß die Tür gar nicht geschlossen wurde, sondern offen stand. Doch das allgemeine Interesse konzentrierte sich schließlich auf einen sonderbaren Menschen, den er gekannt und der ihm einmal sehr nahe gestanden hatte, jedoch schon seit Jahren verstorben, jetzt aber aus irgendeinem Grunde plötzlich gleichfalls eingetreten war. Am meisten quälte Weltschaninoff, daß er nicht wußte, wer dieser Mensch war, daß er seinen Namen vergessen hatte und sich nicht auf ihn besinnen konnte; er entsann sich nur noch, ihn einst sehr gern gehabt zu haben. Und von diesem Menschen schienen alle Anwesenden voll Ungeduld das entscheidende Wort zu erwarten: die Beschuldigung oder die Freisprechung Weltschaninoffs. Doch jener saß regungslos am Tisch und schwieg und wollte nicht sprechen. Die Menge wurde immer lauter, der Lärm wuchs unaufhaltsam, man war aufgebracht, gereizt, und plötzlich wurde Weltschaninoff von rasender Wut erfaßt, er holte aus und schlug diesen Menschen, weil er nicht sprechen wollte. Das Gefühl aber, das diese Tat in ihm hervorrief, war wie eine seltsame Genugtuung, wie ein Genuß: sein Herz stand still vor Entsetzen und Schmerz über seine Tat, doch gerade in diesem Aussetzen des Herzschlages lag der Genuß. Und da packte ihn plötzlich grimmiger Haß und er schlug ihn noch einmal und schlug ihn zum drittenmal, und wie trunken vor Jähzorn und sinnloser Angst, die fast an Wahnsinn grenzte und dennoch nur eine grenzenlose Lust war, zählte er nicht mehr seine Schläge, er schlug nur und schlug. Er wollte alles, alles „jenes“ vernichten. Plötzlich aber war irgend etwas geschehen: das Geschrei der Menge schwoll laut an und alle wandten sich wie in gespannter Erwartung zur Tür, und in derselben Sekunde wurde jäh die Türglocke gezogen, gellend laut, und mit solcher Kraft, als wolle man den Glockenzug abreißen. Weltschaninoff erwachte, kam im Augenblick zu sich, sprang auf und stürzte zur Tür – er war überzeugt, daß wirklich geläutet worden sei, – denn das konnte doch kein Traum sein! „Es wäre doch gar zu unnatürlich, wenn ich diesen lauten, greifbar hörbaren Schall nur im Traum gehört haben sollte!“ sagte er sich.

Zu seiner größten Verwunderung aber erwies sich der Schall doch nur als Traum. Er öffnete die Tür, trat in den Flur hinaus, sah auch hinunter ins Treppenhaus – es war niemand zu sehen. Die Glocke hing regungslos. Er wunderte sich, fühlte sich aber doch leichter gestimmt, und kehrte ins Zimmer zurück. Während er das Licht anzündete, fiel es ihm ein, daß er die Tür wohl geschlossen, aber nicht verschlossen und verriegelt hatte. Auch früher schon hatte er nachts, wenn er nach Haus kam, oft vergessen, den Schlüssel umzudrehen, ohne der Sache irgendwelche Bedeutung beizumessen, obschon Pelageja ihm deshalb jedesmal Vorwürfe gemacht hatte. So ging er jetzt ins Vorzimmer zurück, öffnete noch einmal die Tür und sah in den Flur hinaus, dann schloß er sie wieder und schob den Riegel vor – nur um den Schlüssel umzudrehen, dazu war er doch zu faul. Die Uhr schlug halb drei; er mußte also über drei Stunden geschlafen haben.

Der Traum hatte ihn so aufgeregt, daß er sich nicht gleich wieder hinlegen wollte und im Zimmer eine halbe Stunde auf- und abzugehen beschloß – „Zeit, um eine Zigarette zu rauchen,“ sagte er sich. Er zog die vorhin abgeworfenen Kleidungsstücke wieder an, trat ans Fenster, schob den schweren Stoffvorhang zur Seite und zog das weiße Rouleau in die Höhe. Auf der Straße war es bereits hell genug, um alles deutlich unterscheiden zu können. Die hellen Petersburger Sommernächte hatten von jeher eine gewisse nervöse Reizbarkeit in ihm hervorgerufen, und in der letzten Zeit waren sie gewiß auch an seiner Schlaflosigkeit schuld gewesen, wenigstens zum Teil. Deshalb hatte er vor etwa zwei Wochen diese dicken Vorhänge gekauft, die das Zimmer vollständig verdunkelten, wenn er sie vorzog. Von draußen drang jetzt das fahle Dämmerlicht der hellen Nacht ins Zimmer, doch Weltschaninoff vergaß die brennende Kerze auf dem Tisch und ging mit einem eigentümlich schweren und kranken Gefühl auf und ab. Der Eindruck des Traumes wirkte noch nach. Er litt noch im Ernst darunter, daß er seine Hand gegen diesen Menschen hatte erheben und ihn schlagen können.

„Aber diesen Menschen gibt es ja gar nicht, hat es nie gegeben und wird es nie geben, das war doch nur ein Traum – was fällt mir denn ein?“

Und er zwang sich mit einer förmlichen Erbitterung – und als sei das seine einzige Sorge – nur daran zu denken, daß er entschieden einer Krankheit entgegengehe und daß er „überhaupt ein kranker Mensch“ sei.

Es fiel ihm gar zu schwer, sich einzugestehen, daß er eben älter, daß er alt und schwach werde, und nur in den schlimmsten Stunden übertrieb er wohl in Gedanken alle Altersanzeichen geflissentlich und bis zur Boshaftigkeit, nur um sich in seinem Ingrimm noch mehr zu reizen.

„Ja: das ist das Alter!“ murmelte er dann vor sich hin, während er ruhelos auf- und abging, „bin schon der richtige Klappergreis – das Gedächtnis schwindet, sehe Halluzinationen, verrückte Träume, höre Glocken läuten ... Hol’s der Teufel! Ich weiß doch aus Erfahrung, daß solche Träume immer eine Krankheit bei mir ankünden! ... Ich bin überzeugt, daß auch diese ganze Geschichte mit dem Trauerflor gleichfalls nur ein Traum ist. Ganz entschieden habe ich gestern recht gehabt: nicht er ist es, der mir nachläuft, sondern umgekehrt: ich, ich bin es, der ihm nachläuft! Ich habe mir da ’ne ganze Ballade um seine Person zusammengereimt und bin vor Angst fast unter den Tisch gekrochen. Und wie komme ich eigentlich darauf, ihn mit allen nur ausdenkbaren Schimpfwörtern zu betiteln? Er kann sogar ein äußerst anständiger Mensch sein. Sein Gesicht – das ist wahr – ist allerdings unsympathisch, obschon darin eigentlich nichts ausgesprochen Häßliches liegt. Kleidet sich wie alle anderen. Der Blick ist zwar irgendwie so ... Doch schon wieder denke ich an ihn! Schon wieder! Was zum Teufel geht mich sein Blick an! Bei Gott, es ist ja, als konnte ich überhaupt nicht mehr leben ohne diesen ... Spitzbuben!“

Es fuhren ihm verschiedene Gedanken durch den Sinn, von denen ihn aber einer höchst unangenehm berührte; es war ihm, als sei er plötzlich überzeugt, daß dieser Mensch mit dem Trauerflor irgendwo und -wann einmal mit ihm befreundet gewesen sein müsse und jetzt bei jeder Begegnung über ihn lache, weil er um irgendein großes Geheimnis seiner Vergangenheit wußte und ihn nun in einer so „erniedrigenden Situation“ sah. Mit diesen Gedanken beschäftigt, trat er ganz mechanisch ans Fenster, um es zu öffnen und die Nachtluft einzuatmen und – und plötzlich, er hatte den Fenstergriff noch nicht angerührt, erschrak er so heftig, daß er zusammenfuhr: es war die jähe Empfindung, daß dort vor ihm etwas Unerhörtes, Unmögliches geschehen sei.

Im Augenblick versteckte er sich hinter dem dunklen Vorhang, um vorsichtig, ohne selbst gesehen werden zu können, auf die Straße zu spähen: und richtig: auf dem gegenüberliegenden Trottoir der menschenleeren Straße sah er plötzlich, seinem Hause gerade gegenüber, den Herrn mit dem Trauerflor stehen. Der Herr stand, das Gesicht den Fenstern seiner Wohnung zugewandt, (doch offenbar hatte er ihn nicht am Fenster bemerkt) und betrachtete neugierig und wie mit bestimmten Gedanken vorbeschäftigt, das Haus. Es machte den Eindruck, als könne er mit den Gedanken nicht zu Ende kommen, obschon er sich sichtlich gern zu etwas entschließen wollte: er hob die Hand und schien den Finger an die Stirn zu legen. Endlich hatte er sich entschlossen: er sah sich flüchtig nach beiden Seiten um und schlich dann schnell auf den Fußspitzen über die Straße, und – richtig! – er verschwand unter dem Torbogen des Hauses –: das Nebenpförtchen, das im Sommer oft nicht vor dem Morgen verschlossen wurde, kreischte leise.

„Er kommt zu mir!“ fuhr es Weltschaninoff wie ein Blitz durch den Sinn, und plötzlich eilte er schnell, doch leise und auf den Fußspitzen, ins Vorzimmer zur Tür und – hielt den Atem an, die zuckende Rechte leicht auf den vorgeschobenen Riegel gelegt, und so lauschte er in äußerster Spannung auf das Geräusch der erwarteten Schritte im Treppenhaus.

Sein Herz pochte so laut, daß er fürchtete, zu überhören, wie der Unbekannte auf den Fußspitzen die Treppen hinaufschlich. Er dachte nicht an die Bedeutung des Vorgangs, er fühlte nur alles mit einer wie verzehnfachten Schärfe. Sein Traum von vorhin schien mit der Wirklichkeit eins geworden zu sein. Weltschaninoff war von Natur mutig, doch liebte er es zuweilen, seine Furchtlosigkeit in Erwartung der Gefahr so weit zu treiben, daß sie förmlich an Prahlerei gemahnte – sogar dann, wenn niemand zugegen war; er tat’s eben, um sich selbst zu gefallen. Jetzt aber kam noch etwas anderes hinzu. Der Hypochonder und angehende Greis von vorhin hatte sich vollständig verwandelt, er war ein ganz anderer Mensch geworden. Ein nervöses, unhörbares Lachen erschütterte ihn innerlich. Hinter der geschlossenen Tür stehend, erriet er jede Bewegung des Unbekannten.

„Ah! Da kommt er! ... Jetzt ist er angelangt ... hält Umschau ... horcht hinunter ... atmet kaum, schleicht ... ah! Da hat er die Klinke gefaßt, drückt, versucht! Er hat wohl darauf gerechnet, daß meine Tür offen sein wird! Dann muß er also schon erfahren haben, daß ich bisweilen vergesse, zuzuschließen! Wieder drückt er die Klinke, zieht ... was er wohl denken mag? – daß der Riegel von selbst zurückschnellen wird? Er kann sich nicht trennen! Es tut ihm gewiß leid, umsonst gekommen zu sein!“

Und in der Tat, es mußte dort hinter der Tür wirklich alles so geschehen sein, wie er es sich vorstellte: jemand stand dort und versuchte leise und vorsichtig die Tür zu öffnen, und tat es – „versteht sich, nicht ohne besondere Absicht“, wie sich Weltschaninoff sagte: und im Nu hatte er seinen Entschluß gefaßt, wie er das Rätsel lösen wollte. Mit einer gewissen Begeisterung geradezu wartete er auf den richtigen Augenblick, stellte er sich zurecht und machte sich bereit: er wollte plötzlich den Riegel zurückziehen und die Tür aufstoßen und Auge in Auge dem „Schreckgespenst“ gegenüberstehen. – „Wenn ich bitten darf, was tun Sie denn hier, Verehrtester?“

Und so geschah es auch: als er den richtigen Moment abgepaßt hatte, zog er den Riegel zur Seite, riß die Tür auf und – prallte fast zusammen mit dem Herrn, der auf dem Hut einen Trauerflor trug.

III.
Pawel Pawlowitsch Trussozkij.

Der Fremde schien sprachlos zu sein. Beide standen sie sich auf der Schwelle dicht gegenüber und sahen einander unbeweglich an. So vergingen mehrere Sekunden und plötzlich – erkannte Weltschaninoff seinen Gast!

Gleichzeitig schien auch der Gast zu erraten, daß Weltschaninoff ihn erkannt hatte: das verriet sein aufblitzender Blick. Und im Augenblick taute sein ganzes Gesicht auf und lächelte das freundlichste Lächeln ...

„Ich habe wohl das Vergnügen, mit Alexei Iwanowitsch zu sprechen?“ fragte er fast singend mit einer süßlichen und zur ganzen Situation so unpassenden Stimme, daß sie direkt komisch wirkte.

„Ja sind Sie denn wirklich Pawel Pawlowitsch Trussozkij?“ fragte endlich Weltschaninoff noch ganz verdutzt.

„Wir waren vor etwa neun Jahren in T. miteinander bekannt, und – wenn Sie mir gestatten, Sie daran zu erinnern – waren sogar befreundet.“

„Ja ... nun ja ... schön, aber – jetzt ist es drei Uhr nachts und Sie haben ganze zehn Minuten lang meinen Türverschluß untersucht, um sich zu vergewissern, ob man bei mir nicht ohne weiteres eintreten kann ...“

„Drei Uhr!“ rief der Gast erstaunt, zog seine Uhr hervor und betrachtete sie ganz bekümmert, „ja richtig: drei Uhr! Entschuldigen Sie, Alexei Iwanowitsch, ich hätte mir das vorher sagen sollen – wie konnte ich nur! Doch – ich werde in den nächsten Tagen vorsprechen und dann alles erklären, jetzt aber ...“

„Oh, nein! Wenn Sie was erklären wollen, dann gefälligst gleich!“ fiel ihm Weltschaninoff scharf ins Wort. „Wenn ich bitten darf, dorthin ins Zimmer – treten Sie ein ... Sie werden doch, wie ich annehme, sowieso die Absicht gehabt haben, einzutreten, da Sie wohl nicht nur zu dem Zweck in der Nacht hergekommen sind, um Schlösser zu untersuchen ...“

Er war doch etwas aufgeregt und zugleich auch wie verdutzt. Dabei fühlte er, daß er seine Gedanken nicht sammeln konnte. Er begann sogar, sich zu schämen: also weder ein Geheimnis, noch eine Gefahr – nichts von dem steckte hinter seiner ganzen Gespensterseherei! Nichts blieb von ihr übrig als nur die dumme Gestalt irgendeines Pawel Pawlowitsch. Aber – im Grunde glaubte er doch nicht so ganz, daß wirklich nichts weiter dahinterstecke, es war doch wie eine dunkle, beklemmende Ahnung in ihm.

Er ließ seinen Gast Platz nehmen und setzte sich selbst in ungeduldiger Erwartung ihm gegenüber auf seinen Schlafdiwan, einen Schritt vom Lehnsessel des anderen entfernt, stützte die Handflächen auf die Knie und wartete gereizt auf das, was jener nun vorbringen würde. Er betrachtete ihn neugierig und die Erinnerungen an die Zeit ihrer einstigen Bekanntschaft vervollständigten sich. Doch seltsamerweise blieb jener immer noch stumm, ja er schien nicht einmal zu wissen, daß es einfach seine „Pflicht“ war, zu sprechen; er sah sogar im Gegenteil mit einem sichtlich erwartungsvollen Blick Weltschaninoff an, als müsse dieser beginnen. Vielleicht war er auch nur etwas scheu geworden und empfand zunächst bloß eine gewisse Unsicherheit, wie etwa eine in die Falle geratene Maus. Doch Weltschaninoff wurde wütend:

„Na, was denn nun?“ fuhr er ihn an. „Sie sind doch, denke ich, kein Spuk und kein Traum! Oder haben Sie sich herbemüht, nur um hier eine Leiche vorzustellen? Sie sind mir Ihre Erklärung schuldig, mein Bester!“

Der Gast bewegte sich ein wenig, lächelte und begann vorsichtig:

„Soviel ich sehe, scheint es Sie – vor allen Dingen – zu frappieren, daß ich zu so später Stunde gekommen bin, und – unter so besonderen Umständen ... So daß es mich – zumal wenn ich mich des Früheren erinnere und wie wir auseinandergingen – jetzt sogar selbst wundert ... Doch übrigens, ich hatte ja auch gar nicht die Absicht, Sie aufzusuchen, und wenn es nun schon so gekommen ist, so war das nur ein Zufall ...“

„Was, Teufel, Zufall! Ich habe Sie doch aus dem Fenster gesehen, wie Sie auf den Fußspitzen über die Straße geschlichen sind!“

„Ach, Sie haben es gesehen! Nun, dann wissen Sie jetzt schließlich besser als ich selbst über alles Bescheid! Doch ich reize Sie wohl nur ... Also kurz – da ist ja nicht viel zu sagen: ich halte mich schon seit etwa drei Wochen hier auf, in eigenen Angelegenheiten ... Ich bin ja doch Pawel Pawlowitsch Trussozkij, Sie haben mich ja selbst erkannt. Was mich hier festhält, ist, daß ich mich um meine Versetzung in ein anderes Gouvernement, in einen anderen Dienst und auf einen bedeutend höheren Posten bemühe ... Doch übrigens, das ist es auch nicht! ... Die Hauptsache, wenn Sie wollen, ist, daß ich mich hier nun schon die dritte Woche herumtreibe und die Erledigung meiner Angelegenheit – d. h. also meine Versetzung – wie mir scheint, selbst absichtlich in die Länge ziehe. Und wirklich, wenn mein Gesuch genehmigt werden sollte, so werde ich womöglich am selben Tage noch vergessen, daß ich versetzt bin und Ihr Petersburg nicht verlassen – in meiner gegenwärtigen Stimmung! Ich treibe mich hier herum, als hätte ich mein Ziel verloren, und es ist fast, als freute ich mich sogar darüber, daß ich es verloren habe – in meiner gegenwärtigen Stimmung, wie gesagt ...“

„Was ist denn das für eine gegenwärtige Stimmung?“ fragte Weltschaninoff unwirsch.

Der Gast schlug die Augen zu ihm auf, erhob den Hut und wies mit ernster Würde auf den Trauerflor.

„Ja, sehen Sie, in dieser Stimmung!“

Weltschaninoff sah mit stumpfem Blick auf den Flor, sah seinem Gast ins Gesicht, sah wieder auf den Flor. Plötzlich schoß ihm das Blut auf einen Augenblick jäh ins Gesicht und eine entsetzliche Aufregung überkam ihn.

„Doch nicht Natalja Wassiljewna?“

„Ja. Natalja Wassiljewna. In diesem März ... An der Schwindsucht. Und fast ganz plötzlich, kaum zwei oder drei Monate war sie krank. Und ich bin jetzt – wie Sie sehen!“

Damit breitete der Gast in tiefer Ergriffenheit die Arme aus – in der Linken seinen Hut mit dem Trauerflor – neigte seinen kahlen Kopf tief auf die Brust, und verblieb in dieser Stellung wohl reichlich zehn Sekunden.

Diese Geste und die ganze Pose wirkten auf Weltschaninoff wie eine ernüchternde Erfrischung; ein spöttisches und sogar kränkend verächtliches Lächeln spielte um seinen Mund – doch nur einen Augenblick: die Nachricht vom Tode dieser Dame (mit der er vor vielen Jahren bekannt gewesen war, und die er schon seit so vielen Jahren völlig vergessen hatte) machte auf ihn seltsamerweise einen nahezu erschütternden Eindruck.

„Ist es möglich!“ murmelte er die ersten besten Worte, die ihm gerade einfielen, „aber weshalb haben Sie mich dann nicht gleich aufgesucht und es mir mitgeteilt?“

„Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme, ich sehe und schätze sie, ungeachtet ...“

„Ungeachtet?“

„Ich wollte nur sagen, ungeachtet des langen Zeitraums, der zwischen unserer früheren Bekanntschaft und unserem jetzigen Wiedersehen liegt, haben Sie mir doch sogleich Teilnahme bezeugt und mich noch dazu so aufrichtig Ihres Beileids versichert, daß ich, versteht sich, Dankbarkeit empfinde. Nur das war es, was ich ausdrücken wollte. Nicht, daß ich an meinen Freunden zweifelte oder vielmehr an der Aufrichtigkeit ihres Mitgefühls! Ich kann auch hier, und sogar in jedem Augenblick, mir aufrichtig zugetane Freunde aufsuchen – zum Beispiel, nur um einen Namen zu nennen, etwa Stepan Michailowitsch Bagontoff. Aber unsere Bekanntschaft, Alexei Iwanowitsch – oder sagen wir Freundschaft, zumal ich mit Erkenntlichkeit an sie zurückdenke – liegt ja schon ganze neun Jahre zurück, Sie haben uns doch nachher nicht mehr besucht, und Briefe sind weder von Ihnen noch von uns geschrieben worden ...“

Der Gast sprach so fließend, als hätte er Noten vor sich gehabt, nach denen er unbekümmert singen konnte, doch blickte er die ganze Zeit zu Boden, was natürlich nicht ausschloß, daß er jede Bewegung Weltschaninoffs verfolgte. Dieser hatte sich inzwischen zu ruhigerer Überlegung Zeit genommen.

Indes hörte er seinem Gast mit einer äußerst seltsamen Empfindung zu, die sich in ihrer Art immer deutlicher fühlbar machte, und je aufmerksamer er ihn betrachtete, um so seltsamer war der Eindruck: und plötzlich, als jener innehielt, überfielen ihn mit einemmal die buntesten, verrücktesten Gedanken.

„Aber weshalb habe ich Sie denn nicht gleich erkannt!“ rief er lebhaft aus. „Wir haben uns doch ganze fünf Mal, glaube ich, auf der Straße gesehen!“

„Ja; auch ich entsinne mich dessen; Sie sind mir öfters begegnet – zweimal, oder vielleicht auch sogar dreimal ...“

„Das heißt – Sie sind es, der mir begegnet ist, nicht aber ich Ihnen!“

Weltschaninoff stand auf und plötzlich brach er ganz unvermittelt in lautes Gelächter aus. Pawel Pawlowitsch schloß vorsichtshalber sogleich den Mund, sah ihn aufmerksam an, fuhr aber dann schon im nächsten Moment ruhig fort, als sei nichts geschehen:

„Daß Sie mich nicht erkannt haben, ist weiter nicht verwunderlich, denn erstens ist es lange her, daß wir uns gesehen haben, und zweitens habe ich nachher die Pocken gehabt, von denen natürlich einige Narben im Gesicht geblieben sind.“

„Die Pocken? Bei Gott, er hat tatsächlich die Pocken gehabt! Aber wie hat denn das Sie so ...“

„Heimgesucht? wollen Sie sagen! Ach, es pflegt eben so manches vorzukommen, Alexei Iwanowitsch.“

„Nur ist das immerhin furchtbar komisch! Nun, fahren Sie fort, fahren Sie fort, bester Freund!“

„Obschon Sie auch mir begegnet sind ...“

„Pardon! Weshalb sagten Sie soeben ‚heimgesucht‘? Ich wollte mich ganz anders ausdrücken! – Doch fahren Sie fort!“

Aus irgendeinem Grunde wurde er immer aufgeräumter, geradezu heiter. Der erschütternde Eindruck wurde von ganz anderen Empfindungen verdrängt.

Mit schnellen Schritten ging er im Zimmer auf und ab.

„Und obschon Sie auch mir begegnet sind und ich sogar schon auf der Reise nach Petersburg die Absicht hatte, Sie unbedingt hier aufzusuchen, so bin ich doch jetzt, wie gesagt, in einer solchen Stimmung ... und auch geistig so zerschlagen, eben seit dem März ...“

„Ach ja! seit dem März, richtig ... Erlauben Sie, Sie rauchen doch?“

„Ich – Sie wissen, Natalja Wassiljewna ...“

„Nun ja, nun ja! – aber seit dem März?“

„Ein Zigarettchen vielleicht.“

„Hier, bitte; zünden Sie an und – fahren Sie fort! ... Fahren Sie nur fort, Sie haben mich kolossal ...“

Er zündete sich gerade selbst eine Zigarette an und setzte sich dann schnell wieder auf seinen Diwan. Doch Pawel Pawlowitsch machte eine kleine Pause.

„Weshalb sind denn auch Sie, wie ich sehe, so aufgeregt – sind Sie vielleicht nicht ganz gesund?“

„Eh, zum Teufel mit meiner Gesundheit!“ ärgerte sich Weltschaninoff. „Erzählen Sie weiter!“

Doch je deutlicher die Aufregung des Hausherrn zutage trat, um so ruhiger, selbstzufriedener und sicherer wurde der Gast.

„Ja was soll ich denn da noch weiter erzählen?“ begann er. „Stellen Sie sich doch selbst vor, Alexei Iwanowitsch – einen Menschen, der erstens ganz zerschlagen ist, und nicht nur etwa so bloß relativ, sondern einfach radikal; einen Menschen, der nach zwanzigjähriger Ehe seine Lebensweise von Grund aus ändert und sich hier auf den staubigen Straßen ziellos herumtreibt, wie in der Steppe verirrt, und fast in völliger Selbstvergessenheit, und dem diese Selbstvergessenheit sogar eine gewisse Befriedigung gewährt: Da ist es doch wohl nur natürlich, daß ich bisweilen, wenn mir ein Bekannter oder sogar ein aufrichtiger Freund begegnet, ihm absichtlich aus dem Wege gehe, um nicht mit ihm sprechen zu müssen, im Augenblick wenigstens nicht – d. h. in einem solchen Augenblick der Selbstvergessenheit. Aber dann kommen wieder Stunden, in denen alles lebendig wird und da kommt dann plötzlich eine solche Sehnsucht nach irgend jemandem, der jenes unwiderruflich Vergangene wenigstens miterlebt hat, und das Herz beginnt dabei so zu pochen, daß man nicht nur am Tage, sondern sogar mitten in der Nacht wagt, einen Freund aufzusuchen, nur um sich ihm in die Arme zu werfen, und müßte man ihn auch um vier Uhr – müßte man ihn auch um vier Uhr nachts einzig zu diesem Zweck aus dem Schlaf wecken. So habe ich mich auch jetzt nur in der Stunde geirrt, nicht in der Freundschaft, denn in diesem Augenblick fühle ich mich vollauf belohnt. Was aber die Zeit betrifft, so war ich wirklich der Meinung, es sei erst zwölf, zumal ich in entsprechender Stimmung war. Man trinkt eben seinen eigenen Kummer und es ist, als betrinke man sich an ihm. Aber es ist vielleicht nicht einmal der Kummer, sondern vielmehr die ganze Neuheit der Verfassung, die mich mürbe macht ...“

„Was für Ausdrücke Sie haben!“ bemerkte Weltschaninoff, der plötzlich wieder auffallend ernst geworden war, in eigentümlichem Tone – es klang fast düster.

„Tja, auch die Ausdrücke werden seltsam ...“

„Aber Sie ... Sie scherzen doch nicht?“

„Ob ich scherze!“ rief Pawel Pawlowitsch in wehmütiger Verwunderung, „und das in einem Augenblick, in dem ich mitteile ...“

„Ach, schweigen Sie davon, ich bitte Sie!“

Weltschaninoff stand auf und begann wieder im Zimmer auf und ab zu schreiten.

So vergingen etwa fünf Minuten. Der Gast schien sich gleichfalls erheben zu wollen, doch Weltschaninoff rief sofort: „Bleiben Sie, bleiben Sie, bleiben Sie nur sitzen!“ und so setzte er sich wieder hin.

„Aber wie Sie sich verändert haben!“ begann Weltschaninoff wieder, indem er plötzlich vor ihm stehen blieb, ganz als habe ihn diese Entdeckung geradezu frappiert. „Unglaublich verändert! Ganz fabelhaft! Als wären es zwei ganz verschiedene Menschen!“

„Kein Wunder schließlich: neun Jahre!“

„Nein, nein, nein, nicht die Jahre sind es! Äußerlich haben Sie sich gar nicht so verändert, Sie haben sich in anderer Beziehung verändert!“

„Gleichfalls vielleicht die neun Jahre.“

„Oder seit dem März!“

„He–he!“ lächelte Pawel Pawlowitsch arglistig, „Sie scheinen da einen spaßigen Gedanken zu haben ... Doch wenn ich fragen darf: worin besteht denn eigentlich diese Veränderung?“

„Ja, was ... Früher war’s ein so solider und anständiger Pawel Pawlowitsch, ein so artiger Pawel Pawlowitsch, jetzt aber scheint’s ein ganzer – Vaurien Pawel Pawlowitsch zu sein!“

Er war so gereizt, daß er – wie es übrigens auch die korrektesten Leute in dieser Stimmung bisweilen tun – bereits Überflüssiges zu sagen begann.

Vaurien! Finden Sie? Und nicht mehr so ‚artig‘ wie früher? Nicht mehr ein so ‚artiger‘ Pawel Pawlowitsch?“ grinste mit wahrer Wonne der sonderbare Gast.

„Zum Teufel mit der Artigkeit! Statt dessen sind Sie jetzt vielleicht klug geworden!“

„Ich bin grob, aber diese Kanaille ist einfach frech! Und ... was mag er nur wollen, was kann er im Auge haben?“ fragte sich Weltschaninoff unruhig.

„Ach, mein teuerster, mein bester Alexei Iwanowitsch!“ regte sich der Gast mit einemmal furchtbar auf, indem er auf seinem Platz hin- und herrückte, „was geht denn das schließlich uns an? – lassen wir es sein, wie es ist! Wir sind doch jetzt nicht in der Öffentlichkeit, nicht in einer glänzenden, vornehmen Gesellschaft! Wir sind die innigsten und ältesten Freunde, sind hier sozusagen in vollster Aufrichtigkeit zusammengekommen und gedenken beide jenes teuren Bundes, in dem die Verstorbene das teuerste, das unersetzlichste Bindeglied war!“

Und scheinbar erschüttert von auf ihn einstürmenden Gefühlen, neigte er sein Haupt auf die Brust und bedeckte das Gesicht mit dem Hut. Weltschaninoff beobachtete ihn unruhig und fühlte sich angewidert durch sein Gebaren.

„Wie aber, wenn er einfach nur ein Narr ist?“ ging es ihm durch den Sinn, „n–n–nein, n–nein, doch wohl nicht! Er scheint nicht mal betrunken zu sein – übrigens, vielleicht doch: sein Gesicht ist rot. Aber wenn auch – das ist ja schließlich egal. Womit er sich nun wohl wieder heranschlängelt! Was will die Kanaille, wozu wärmt er das wieder auf?“

„Wissen Sie noch, wissen Sie noch,“ rief da Pawel Pawlowitsch, der allmählich den Hut hatte sinken lassen und sich nun von den Erinnerungen scheinbar immer mehr begeistern ließ, „entsinnen Sie sich noch unserer gemeinsamen Ausflüge, unserer Abendgesellschaften und Kränzchen, und wie wir bei Seiner Exzellenz, dem gastfreundlichen Ssemjon Ssemjonowitsch tanzten und Gesellschaftsspiele spielten? Und unsere Leseabende zu dreien? Und unsere erste Bekanntschaft, als Sie eines Vormittags bei mir eintraten, um gewisse Erkundigungen in Ihrer Angelegenheit einzuziehen. Sie ärgerten sich noch und zeterten, und plötzlich trat Natalja Wassiljewna ein und nach zehn Minuten schon wurden Sie zu unserem innigsten Hausfreunde, und das blieben Sie dann ein ganzes Jahr – alles genau so wie in der ‚Provinzlerin‘ von Turgenjeff ...“

Weltschaninoff schritt langsam auf und ab, blickte zu Boden, hörte beunruhigt und angewidert zu, und vernahm doch mit Spannung jedes Wort, das er da hörte.

„Wie kommen Sie auf die ‚Provinzlerin‘,“ unterbrach er ihn etwas konfus, „früher haben Sie nie von ihr gesprochen ... und nie in so rührseligem Tone und in einem ... Ihnen so fremden Stil. Weshalb das jetzt?“

„Ich habe früher allerdings mehr geschwiegen, das heißt, ich war schweigsamer,“ fiel ihm Pawel Pawlowitsch eilig ins Wort. „Wie Sie wissen, hörte ich lieber zu, wenn die Verstorbene sprach. Sie erinnern sich doch wohl noch, wie geistreich sie sich zu unterhalten verstand ... Was aber die ‚Provinzlerin‘ betrifft, und namentlich den Stupendjeff, so haben Sie auch hierin recht, denn erst nachher – nach Ihrer Abreise – haben wir, die teure Entschlafene und ich, in manchen stillen Stunden, in denen wir Ihrer gedachten, unsere erste Begegnung mit einer Szene dieses Theaterstücks verglichen, – es besteht nämlich in der Tat eine auffallende Ähnlichkeit. Von dem Stupendjeff aber wollte ich nur sagen ...“

„Zum Teufel, was ist das für ein ‚Stupendjeff‘, hol’s der Henker!“ rief Weltschaninoff nervös und stampfte sogar mit dem Fuß auf, so sehr brachte ihn der Name Stupendjeff, der so etwas wie eine blasse Erinnerung und eine ferne Ahnung in ihm heraufbeschwor, aus dem Gleichgewicht.

„Wie, Stupendjeff? Das ist eine Rolle, eine Theaterrolle, die Rolle des Gatten in der ‚Provinzlerin‘. Der heißt nämlich im Stück ‚Stupendjeff‘, wie gesagt,“ sang sogleich mit honigsüßer Stimme Pawel Pawlowitsch. „Doch das gehört bereits zu einem anderen Zyklus teurer und herrlicher Erinnerungen, Erinnerungen aus der Zeit nach Ihrer Abreise, als uns Stepan Michailowitsch Bagontoff mit seiner Freundschaft beglückte, ganz so wie Sie, nur blieb er uns volle fünf Jahre treu.“

„Bagontoff? Wie, was? Was für ein Bagontoff?“ Weltschaninoff war jäh vor ihm stehen geblieben.

„Bagontoff, Stepan Michailowitsch, der uns gerade ein Jahr nach Ihnen mit seiner Freundschaft beschenkte und ... überhaupt ganz so wie Sie ...“

„Ach, mein Gott, natürlich, das wußte ich ja!“ rief Weltschaninoff aus, sich plötzlich besinnend. „Bagontoff! Richtig, er war doch Beamter dort ...“

„Jawohl, jawohl! Beim Gouverneur! Er kam aus Petersburg – er war der eleganteste junge Mann – aus den besten Kreisen!“ versicherte in ausgesprochener Begeisterung Pawel Pawlowitsch.

„Ja, ja, ja! Daß ich nicht gleich drauf verfiel! Und auch er war ja ...“

„Und auch er, auch er!“ bestätigte sofort mit derselben Begeisterung Pawel Pawlowitsch, der das unvorsichtig entschlüpfte Wort eiligst aufgriff, „und auch er! Und mit ihm, sehen Sie, spielten wir dann einmal ‚Die Provinzlerin‘ – es war eine Liebhaberaufführung bei Seiner Exzellenz, dem gastfreundlichen Ssemjon Ssemjonowitsch – und Stepan Michailowitsch Bagontoff spielte den Grafen, ich den Gatten, und die Verstorbene die Provinzlerin ... Nur wurde mir die Rolle des Gatten wieder abgenommen – die Verstorbene bestand darauf – so daß ich den Gatten zur Aufführung denn doch nicht gespielt habe – weil ich angeblich nicht das Zeug dazu hatte ...“

„Ja was zum Teufel haben Sie mit Stupendjeff zu tun! Sie sind vor allem Pawel Pawlowitsch Trussozkij, nicht aber Stupendjeff!“ rief Weltschaninoff fast bebend vor Gereiztheit, alle Rücksichten bereits außer acht lassend. „Aber erlauben Sie, dieser Bagontoff ist doch hier, hier in Petersburg, ich habe ihn selbst gesehen, noch in diesem Frühling habe ich ihn gesehn! Weshalb sind Sie denn nicht auch zu ihm gegangen?“

„Aber ich bin doch gegangen, ich bin doch gegangen! Jeden Tag gehe ich zu ihm, jetzt schon die dritte Woche. Er empfängt aber nicht! Ist krank, kann nicht! Und denken Sie sich, wie ich aus der sichersten Quelle erfahren habe, ist er auch wirklich und sogar höchst gefährlich krank! Und das von einem zu hören, mit dem man sechs Jahre lang befreundet gewesen ist! Ach, Alexei Iwanowitsch, ich sage Ihnen, in einer solchen Stimmung will man oft nichts weiter, als einfach in die Erde versinken, im Ernst! – Im nächsten Augenblick aber, so scheint es einem, würde man am liebsten einen Menschen so nehmen und umarmen wollen, gerade so einen von diesen früheren ... ich möchte sagen, den Augenzeugen und Teilnehmern, und zwar einzig zu dem Zweck, um sich auszuweinen, das heißt, wirklich nur zu dem Zweck, um einmal recht weinen zu können!“

„Nun, jetzt aber – ist es doch genug für heute, nicht wahr?“ unterbrach ihn Weltschaninoff schroff.

„Vollkommen, vollkommen genug!“ versicherte, sogleich sich erhebend, Pawel Pawlowitsch. „Vier Uhr bereits – o, und ich habe Sie in so egoistischer Weise aufgehalten ...“

„Hören Sie, ich werde selbst zu Ihnen kommen, unbedingt, und dann hoffentlich ... Sagen Sie mir mal ganz ehrlich und aufrichtig: sind Sie heute nicht betrunken?“

„Betrunken? Nicht im geringsten ...“

„Haben Sie nichts getrunken, bevor Sie kamen, oder noch früher?“

„Wissen Sie, Alexei Iwanowitsch, Sie haben doch ausgesprochene Krankheitserscheinungen!“

„Ich werde Sie morgen unbedingt aufsuchen, am Vormittag, noch vor ein Uhr ...“

„Ich habe schon die ganze Zeit bemerkt, daß Sie offenbar hohes Fieber haben müssen,“ unterbrach ihn Pawel Pawlowitsch, der sichtlich und mit Hochgenuß bei diesem Thema blieb. „Ich schäme mich wirklich aufrichtig, daß ich durch meinen ungeschickten Besuch ... doch ich gehe, ich gehe schon! Sie aber müssen sich unbedingt gleich hinlegen – versuchen Sie mal, gleich einzuschlafen!“

„Aber weshalb haben Sie mir denn nicht gesagt, wo Sie wohnen?“ rief ihm Weltschaninoff plötzlich nach – es war ihm das gerade noch rechtzeitig eingefallen.

„Wie, habe ich es nicht gesagt? Im Gasthof neben der Kirche.“

„Neben welch einer Kirche?“

„Ja aber hier gleich doch, bei der nächsten Kirche zu Mariä Schutz und Fürbitte, in der Querstraße – im Moment ist mir leider der Straßenname entfallen und auch die Hausnummer habe ich vergessen, nur, wie gesagt, gleich bei der Kirche ...“

„Gut, ich werde Sie schon zu finden wissen!“

„Bitte sehr, Sie sollen mir willkommen sein.“

Er war bereits auf der Treppe.

Da rief ihn Weltschaninoff nochmals an: „Sie! – Sie werden doch nicht ausreißen?“

„Das heißt, wie denn das ‚losziehen‘?“ Pawel Pawlowitsch drehte sich auf der dritten Stufe um und lächelte mit erstaunten Glotzaugen.

Statt zu antworten schlug Weltschaninoff krachend die Tür zu, verschloß sie sorgfältig und schob den Riegel vor. Ins Zimmer zurückgekehrt, spie er aus, als habe er sich mit etwas Schmutzigem abgegeben.

Etwa fünf Minuten stand er unbeweglich mitten im Zimmer, dann warf er sich, so wie er war, ohne ein Kleidungsstück abzulegen, auf seinen Schlafdiwan und schlief im Augenblick ein. Das vergessene Licht auf dem Tisch brannte ruhig herunter, bis es von selbst erlosch.

IV.
Die Frau, der Gatte und der Liebhaber.

Weltschaninoff schlief sehr fest und erwachte erst gegen halb zehn; er richtete sich sogleich auf, blieb aber auf dem Bett sitzen – seine Gedanken fingen an, sich mit dem Tode „jener Frau“ zu beschäftigen.

Der erschütternde Eindruck, den die plötzliche Nachricht von diesem Todesfall im ersten Augenblick auf ihn gemacht, hatte in ihm eine gewisse Gedankenverwirrung und sogar einen unbestimmten Schmerz zurückgelassen. Diese Verwirrung und dieser Schmerz waren anfangs durch Pawel Pawlowitschs Gegenwart von einem anderen seltsamen Gedanken in den Hintergrund gedrängt und gleichsam betäubt worden; jetzt aber, nach dem Erwachen, sah er plötzlich alles, was damals vor neun Jahren gewesen war, von neuem mit erstaunlicher Klarheit vor sich.

Jene Frau, die verstorbene Natalja Wassiljewna, die Gattin dieses Trussozkij, hatte er einst leidenschaftlich geliebt; er war damals ihr Liebhaber gewesen, als er sich in einer Vermögensangelegenheit (gleichfalls ein Prozeß wegen einer Erbschaft) ein ganzes Jahr in T. aufgehalten, obschon die Sache keineswegs seine persönliche Anwesenheit erforderte. Die wirkliche Ursache seines so langen Verweilens in dieser Stadt war eben nichts anderes als jenes Verhältnis gewesen.

Diese Liebe hatte ihn förmlich zum Sklaven Natalja Wassiljewnas gemacht, und er wäre ganz zweifellos zu jeder Torheit, sogar zu fraglosen Dummheiten bereit gewesen, wenn eine Laune dieser Frau eine solche verlangt hätte. Etwas Ähnliches hatte er weder vorher noch nachher erlebt. Als gegen Ende des Jahres die Trennung aus gewissen Gründen notwendig wurde, da wurde auch Weltschaninoffs Verzweiflung – obwohl er nur auf kurze Zeit von ihr scheiden sollte – so groß, daß er Natalja Wassiljewna im Ernst den Vorschlag machte, sie zu entführen, sie ihrem Manne einfach zu rauben, und ins Ausland zu ziehen, um dort ungestört bis an ihr Lebensende sich gegenseitig treu bleiben zu können. Nur der beißende Spott und die unbeugsame Hartnäckigkeit Natalja Wassiljewnas – die übrigens diesem Projekt anfangs durchaus Beifall gezollt hatte, wenn auch wahrscheinlich nur aus Langeweile und zur Belustigung – hatten ihn zu guter Letzt doch noch von dem Plane abbringen und dazu bewegen können, allein die Stadt zu verlassen.

Und was geschah? Noch waren keine zwei Monate nach seiner Abreise vergangen, als er sich schon die Frage vorlegte, die für ihn ewig unbeantwortet bleiben sollte: ob er denn diese Frau auch wirklich geliebt hatte oder ob alles nur ein „Sinnenrausch“ gewesen war? Die Frage brauchte man dabei durchaus nicht leichtsinnigem Vergessen oder einer beginnenden neuen Liebe zuschreiben! Im Gegenteil: in diesen zwei Monaten war er eigentlich gar nicht er selbst gewesen, und wenn er auch in Petersburg sogleich wieder mit offenen Armen in seinem Bekanntenkreise aufgenommen worden und mit Hunderten von Frauen zusammengekommen war, so hatte er sich doch in keine verliebt, kaum eine von ihnen wirklich bemerkt. Übrigens wußte er selbst ganz genau, daß er nur nach T. zurückzukehren gebraucht hätte, um dem knechtenden Zauber dieser Frau trotz aller zweifelnden Fragen sofort von neuem zu unterliegen. Sogar nach fünf Jahren noch war er derselben Meinung; ein Unterschied bestand nur darin, daß er es sich dann bereits mit dem größten Unmut selbst eingestand und an „dieses Frauenzimmer“ nur noch mit Haß zurückdachte. Er schämte sich jenes Jahres in T., er glaubte nicht einmal begreifen zu können, wie eine so „alberne“ Leidenschaft für ihn, Weltschaninoff, überhaupt möglich gewesen war! Alle Erinnerungen an diese Leidenschaft waren für ihn zu einer „wahren Schmach“ geworden, und beim Gedanken an sie errötete er heiß und quälte sich mit Vorwürfen. Freilich, im Verlauf noch einiger weiterer Jahre beruhigte er sich einigermaßen: er gab sich Mühe, alles Vergangene zu vergessen, und es gelang ihm das auch zum Teil. Und nun nach neun Jahren sollte auf einmal die ganze Vergangenheit wieder auferstehen! Die Nachricht vom Tode Natalja Wassiljewnas hatte alles, was bereits tot und vergessen geglaubt war, wieder von neuem belebt!

Während er so auf seinem Lager saß und die Erinnerungen sich nach eigener Willkür durch seine Gedanken drängten, fühlte und erkannte er bewußt nur das eine: daß ihn ihr Tod, trotz des ersten erschütternden Eindrucks, den diese Nachricht auf ihn gemacht, im Grunde doch ganz ruhig, fast gleichgültig ließ.

„Sollte es mir wirklich nicht einmal leid um sie sein?“ fragte er sich.

Er empfand jetzt weder Haß noch Liebe für sie, und so konnte er vorurteilsloser und gerechter über sie urteilen. Seiner Meinung nach – und dieser Meinung glaubte er nach neunjähriger Trennung „schon von jeher“ gewesen zu sein – gehörte Natalja Wassiljewna zu den allergewöhnlichsten „Provinzdamen“ der „guten“ kleinstädtischen Gesellschaft. Nur wurde er dann doch wieder bedenklich und fragte sich: „Hol’s der Teufel, vielleicht war sie auch wirklich nichts anderes, und nur meine Phantasie hat aus ihr weiß Gott was geschaffen?!“ Eigentlich hatte er ja immer schon vermutet, daß jene Meinung vielleicht doch auf einem kleinen Irrtum beruhte, und diese Empfindung glaubte er auch jetzt zu haben. Überdies widersprachen dem auch die ihm bekannten Tatsachen. Bagontoff zum Beispiel! Dieser Bagontoff war nämlich gleichfalls ihr Liebhaber gewesen, und zwar ganze fünf Jahre lang, und hatte sich offenbar ebenso „im Zauberbann“ befunden wie Weltschaninoff. Bagontoff war Petersburger, gehörte zur besten Gesellschaft, und da er „einer der leersten Tröpfe“ war – das war das Urteil Weltschaninoffs über ihn – so hätte er folglich nur in Petersburg Karriere machen können. Er aber hatte Petersburg geopfert, d. h. auf seinen größten Vorteil verzichtet, und ganze fünf Jahre in T. gesessen, also fünf Jahre einfach verloren, und das einzig um dieser Frau willen! Wer wußte es: vielleicht war auch er nur deshalb nach Petersburg zurückgekehrt, weil sie auch ihn „wie einen alten abgetragenen Pantoffel fortgeworfen“ hatte. So mußte denn doch etwas Besonderes in ihr gesteckt haben – zum mindesten die Gabe, Männer anzuziehen, zu unterjochen und zu beherrschen!

Zwar hatte sie, sollte man meinen, eigentlich nicht einmal die Mittel, um einen Mann zu fesseln oder auch nur anzuziehen: „Sie war ja nicht einmal hübsch, vielleicht sogar eher häßlich!“ Zudem war sie, als Weltschaninoff sie kennen gelernt hatte, bereits achtundzwanzig Jahre alt gewesen. Ihr Gesicht konnte sich bisweilen allerdings angenehm und eigentümlich beleben, aber ihre Augen entbehrten selbst dann eines sympathischen Ausdrucks: es lag immer eine ganz überflüssige Härte in ihrem Blick. Sie war sehr mager. Mit ihrer geistigen Bildung aber war es ziemlich schwach bestellt, nur Verstand besaß sie ganz fraglos, und sogar einen sehr scharfen, durchdringenden, wenn auch leider einen ganz einseitig entwickelten Verstand. Ihre Manieren waren die einer „Provinzdame“, die zur besten Gesellschaft ihrer Stadt gehört. In der Tat besaß sie viel Takt. Sie hatte auch guten Geschmack, doch äußerte sich dieser fast nur in ihrem Verständnis, sich zu kleiden. Von ihren Charaktereigenschaften fielen namentlich ihre Entschlossenheit und ihre Herrschsucht auf – eine halbe Versöhnung mit ihr war ganz unmöglich: „entweder alles oder nichts“ – auf Kompromisse hätte sie sich nie eingelassen. In schwierigen Angelegenheiten bewies sie geradezu erstaunliche Festigkeit und Hartnäckigkeit. Sie konnte auch großmütig sein, war aber dann gleichzeitig fast immer maßlos ungerecht. Ein Streit mit dieser Dame war einfach hoffnungslos: in solchen Fällen hatten Beweise à la zwei mal zwei ist vier nicht die geringste Bedeutung für sie. Niemals hätte sie sich ihr Unrecht eingestanden oder sich in irgendeiner Beziehung für schuldig erklärt. Ihre fortwährenden unzähligen Treubrüche beunruhigten ihr Gewissen nicht im geringsten. Sie glaubte, ähnlich wie die Gottesmutter unserer Geißlersekte, mit der Weltschaninoff sie in Gedanken verglich, daß alles, was sie tat, das einzig Richtige sei und genau so geschehen müsse. Ihrem Liebhaber war sie treu, jedoch nur so lange bis – sie seiner überdrüssig wurde. Sie liebte es, ihn zu quälen, doch liebte sie es ebenso, ihn zu belohnen. Sie war leidenschaftlich, grausam und sinnlich. Sie haßte die Ausschweifung, verurteilte sie mit unglaublicher Strenge und – war selbst ausschweifend. Doch nichts in der Welt hätte sie davon wirklich zu überzeugen vermocht, daß sie ausschweifend war.

„Ihre Naivität sich selbst gegenüber, ihre Unwissenheit in diesen Beziehungen ist sicher echt,“ hatte Weltschaninoff schon damals in T. von ihr gedacht (während er, nebenbei bemerkt, an ihrer Ausschweifung nur allzu schuldig war). „Sie ist eine von jenen Frauen,“ sagte er sich, „die gleichsam nur dazu geboren werden, um untreue Frauen zu sein. Niemals werden sie sich als Mädchen verführen lassen: ihrem Naturgesetz gemäß müssen sie vorher unbedingt geheiratet haben. Ihr Gatte ist dann ihr erster Liebhaber, aber bedingungslos erst nach der Trauung. Und kein Mädchen findet so leicht und schnell einen Mann wie gerade dieser Typ. Daß es zum ersten Liebhaber kommt – daran ist in der Regel der Gatte selbst schuld. Und alles, was diese Frauen dann vollführen, geschieht in der aufrichtigen Überzeugung, daß sie nicht das geringste Unrecht begehen, daß sie ein solches weder ihrem Gatten noch sonst jemandem zufügen: sie halten sich für durchaus anständig und ehrenwert und natürlich für vollkommen unschuldig.“

Weltschaninoff war überzeugt, daß es tatsächlich einen solchen Frauentyp gebe, war aber auch nicht minder überzeugt, daß es demselben entsprechende Männer gab, deren einzige Bestimmung nur darin bestand, das richtige Gegenstück zu diesen Frauen zu sein. Das Wesen dieser Männer bestand seiner Ansicht nach darin, daß sie ihr Leben lang nichts als Gatte, Gatte und immer nur Gatte waren, nur Gatten, ewige Gatten, und nichts weiter.

„Ein solcher Mensch wird geboren und wächst heran, um dann zu heiraten, und, sobald er geheiratet hat, zu einem Ergänzungsstück seiner Frau zu werden – auch dann, wenn er sogar einen eigenen und sehr ausgesprochenen Charakter besitzt. Die Haupteigenschaft dieses Gatten, oder ihr sicherstes Merkmal, wie man will, ist – die bewußte Kopfzier. Den Hörnern entgehen: das könnte er ebensowenig, wie der Mond seine Phasen verändern könnte; doch er selbst wird nicht nur nichts davon wissen, sondern das Wissen ist einfach, wie nach einem Naturgesetz, für ihn von vornherein ausgeschlossen.“ Von der Existenz dieser beiden Typen war Weltschaninoff fest überzeugt, und der vollendete Repräsentant des einen derselben war für ihn – Pawel Pawlowitsch Trussozkij. Freilich nicht dieser Pawel Pawlowitsch, der um drei Uhr nachts hier bei ihm gesessen hatte, denn das war ein ganz anderer, als der, mit dem er in T. bekannt gewesen war. Weltschaninoff fand, daß er sich ganz unglaublich verändert hatte, doch war das schließlich nur natürlich, ja anders hätte es wohl überhaupt nicht sein können: Herr Trussozkij konnte das, was er gewesen war, nur bei Lebzeiten seiner Frau sein, jetzt aber war er gewissermaßen nur ein Teil eines Ganzen, dem man plötzlich eine völlig ungewohnte, ihm gar nicht zustehende Freiheit gegeben hatte, weshalb er denn so als „Bruchstück“ ganz eigentümlich und absonderlich wirkte, fast wie etwas noch nie Dagewesenes.

Was aber jenen früheren Pawel Pawlowitsch betraf, den Weltschaninoff in T. gekannt hatte, so entsann er sich seiner noch sehr gut:

„Natürlich war er in T. nichts als der Gatte seiner Frau!“ Wenn er außerdem zum Beispiel noch Beamter war, so war er es doch nur deshalb, weil auch der Dienst sozusagen zu seinen Gattenpflichten gehörte: er arbeitete nur für seine Frau und ihre gesellschaftliche Stellung in T., und wenn er auch von sich aus ein äußerst eifriger Beamter sein mochte, so konnte das an der Sache doch nichts ändern. Er war damals fünfunddreißig Jahre alt und besaß ein gewisses Kapital, sogar ein ziemlich bedeutendes. Im Dienst zeichnete er sich nicht gerade durch besondere Fähigkeiten aus, dafür aber auch nicht durch besondere Unfähigkeit. Er verkehrte mit allen, die zur Gesellschaft gehörten, und stand sich selbst mit den Angesehensten im Gouvernement ganz vortrefflich. Natalja Wassiljewna wurde in T. durchaus geachtet; sie schätzte das übrigens nicht sonderlich, da sie es als Selbstverständlichkeit betrachtete. Bei den Empfängen im eigenen Hause wußte sie tadellos zu repräsentieren, und Pawel Pawlowitsch war von ihr so gut geschult, daß er sogar die höchsten Potentaten des Gouvernements taktvoll und doch ungezwungen zu empfangen verstand. Vielleicht – so schien es Weltschaninoff – besaß er sogar Verstand, doch da Natalja Wassiljewna es nicht gern sah, daß ihr Mann viel sprach, so ließ sich der Umfang seines Verstandes eben nicht genau feststellen. Vielleicht hatte er auch eine ganze Menge guter Eigenschaften, und schlechte vielleicht in derselben Anzahl. Aber den guten Eigenschaften war gleichsam ein Futteral übergezogen und die schlechten schienen fast gänzlich und schon im Keime erstickt zu sein. Weltschaninoff entsann sich z. B., daß Herr Trussozkij mitunter eine gewisse Neigung bekundet hatte, sich über den lieben Nächsten lustig zu machen, doch das wurde ihm streng verboten. Auch schien er ganz gern zu erzählen, aber auch das wurde überwacht: nur kürzere unbedeutendere Geschichtchen durfte er zum besten geben. Ja, er war sogar nicht abgeneigt, im Freundeskreise ein Gläschen über den Durst zu trinken: doch diese Neigung wurde entschieden ausgerottet. Das Bemerkenswerteste bei alledem war aber, daß niemand von ihm hätte sagen können, er sei ein Pantoffelheld. Natalja Wassiljewna schien im Gegenteil ganz die gehorsame Frau ihres Mannes zu sein, und offenbar war das sogar ihre eigene Meinung. Vielleicht war Pawel Pawlowitsch sinnlos in seine Frau verliebt; doch feststellen konnte das niemand, und wahrscheinlich war das gleichfalls auf eine Maßregel Natalja Wassiljewnas zurückzuführen. Mehr als einmal hatte sich Weltschaninoff während seines Aufenthalts in T. gefragt, ob dieser Mann nicht doch einen Verdacht gegen ihn geschöpft habe und seine Beziehungen zu ihr ahne. Mehr als einmal hatte er auch Natalja Wassiljewna sehr ernst danach gefragt, doch immer nur die eine mit einem gewissen Ärger gegebene Antwort erhalten, daß ihr Mann nichts wisse und niemals etwas erfahren könne, und daß es ihn auch „nichts angehe“, denn das sei „gar nicht seine Sache“. Übrigens noch ein charakteristischer Zug: über Pawel Pawlowitsch machte sie sich nie lustig und überhaupt fand sie nichts Lächerliches an ihm, fand ihn weder schlecht noch häßlich, ja sie wäre sogar mit aller Entschiedenheit für ihn eingetreten, wenn jemand gewagt hätte, es ihm gegenüber an der nötigen Achtung fehlen zu lassen. Da sie keine Kinder hatte, so mußte sie naturgemäß immer mehr zum Gesellschaftsmenschen werden. Doch ihr eigenes Heim trat für sie deshalb durchaus nicht in den Hintergrund. Die gesellschaftlichen Vergnügungen beherrschten sie nie ausschließlich: sie beschäftigte sich vielmehr auch sehr gern in der Wirtschaft und mit mancherlei kleinen Handarbeiten.

Pawel Pawlowitsch hatte ihn an ihre Leseabende erinnert. Ja, sie hatten viele Abende so zu dreien verbracht: Weltschaninoff und Pawel Pawlowitsch hatten abwechselnd vorgelesen – zu Weltschaninoffs Verwunderung hatte sich jener sogar als vorzüglicher Vorleser entpuppt – und Natalja Wassiljewna hatte dann gewöhnlich ihre Stickerei zur Hand genommen und ruhig gleichmütig zugehört. Man las Romane von Dickens oder irgend etwas aus russischen Zeitschriften, mitunter aber auch „etwas Ernstes“. Natalja Wassiljewna hatte für Weltschaninoffs Bildung und Belesenheit die größte Hochachtung, doch verlor sie darüber nie ein Wort, behandelte es eben wie eine Tatsache, über die weiter kein Wort zu verlieren nötig war. Im allgemeinen verhielt sie sich zu Büchern und zu jeder Gelehrsamkeit äußerst gleichmütig, wie zu etwas ganz Nebensächlichem, das ja immerhin und unter anderem auch nützlich sein mochte. Pawel Pawlowitsch dagegen konnte sich bisweilen für beides förmlich begeistern.

Weltschaninoffs Verhältnis zu dieser Frau brach ganz plötzlich ab, und zwar gerade in dem Augenblicke, als seine Leidenschaft zum größten Rausch geworden war und fast an Wahnsinn grenzte. Er wurde ganz einfach an die Luft gesetzt, ohne aber selbst auch nur zu ahnen, daß man ihn wie einen „alten abgetragenen Pantoffel“ fortwarf. Etwa anderthalb Monate vor seiner Abreise war ein blutjunger Artillerie-Offizier in T. eingetroffen, der gerade erst die Kadettenschule verlassen hatte, und bald war auch er bei Trussozkij ständiger Gast. Die Leseabende wurden zu vieren statt zu dreien fortgesetzt. Natalja Wassiljewna empfing den jungen Leutnant mit Wohlwollen, behandelte ihn aber noch ganz als Knaben. So schöpfte Weltschaninoff nicht den geringsten Verdacht, selbst dann nicht, als Natalja Wassiljewna ihm plötzlich erklärte, daß sie sich trennen müßten. Unter den hundert Gründen, die sie zum Beweise der Notwendigkeit seiner sofortigen Abreise anführte, war der Hauptgrund der, daß sie, wie sie ihm mitteilte, in anderen Umständen zu sein glaube: deshalb müsse er unbedingt und unverzüglich die Stadt auf mindestens drei bis vier Monate verlassen, damit in ihrem Manne später nicht irgendwelche Zweifel auftauchen könnten, falls einmal „doch irgendeine Verleumdung“ ihm zu Ohren kommen sollte. Das Argument war nun freilich ziemlich an den Haaren herbeigezogen und Weltschaninoff wollte anfangs natürlich nichts von einer Trennung hören; als ihm das aber nichts half, flehte er sie an, mit ihm nach Paris oder Amerika zu fliehen, bis er dann zu guter Letzt doch ganz allein nach Petersburg fuhr, allerdings „nur auf zwei Monate, höchstens auf drei!“ Nur unter dieser Bedingung war er zur Abreise zu bewegen gewesen – anderenfalls hätte er sie für keinen Preis verlassen – wenn sie auch tausend Gründe angeführt hätte! Es waren aber kaum zwei Monate vergangen, da erhielt er von Natalja Wassiljewna einen Brief mit der Bitte, nie mehr zurückzukehren, da sie bereits einen anderen liebe. Über ihren Zustand schrieb sie, daß sie sich in ihrer Annahme getäuscht habe. Diese Mitteilung war für ihn überflüssig, denn nun entsann er sich des jungen Leutnants und damit hatte er die Erklärung für alles gefunden. Die Sache war nun wirklich zu Ende. Nach mehreren Jahren hatte er dann einmal zufällig gehört, daß dieser Bagontoff sich ganze fünf Jahre in T. aufgehalten habe. Diese erstaunlich lange Dauer der Liebschaft Natalja Wassiljewnas mit dem jungen Offizier erklärte er sich unter anderen auch damit, daß sie inzwischen stark gealtert und infolgedessen anhänglicher geworden sein müsse.

Wohl eine ganze Stunde lang saß Weltschaninoff so auf seinem Bett. Endlich besann er sich und klingelte. Mawra brachte ihm den Kaffee. Er trank ihn schnell aus, kleidete sich an und begab sich gegen elf Uhr nach der Kirche zu Mariä Schutz und Fürbitte, um den Gasthof, der in ihrer nächsten Nähe liegen sollte, aufzusuchen. Was nun diesen Gasthof betraf, so hatte er sich über ihn schon besondere Gedanken gemacht, – natürlich erst jetzt, am Morgen. Übrigens war es ihm etwas peinlich, daß er Pawel Pawlowitsch in dieser Weise behandelt hatte. Das mußte er nun wohl wieder gut machen!

Die ganze eigentümliche Episode an der Tür erklärte er sich mit dem offenbar nicht nüchternen Zustande Pawel Pawlowitschs und – nun, es ließen sich wohl auch noch andere Gründe finden ... Aber genau genommen war er sich selbst nicht ganz klar darüber, weshalb er jetzt zu ihm ging und damit neue Beziehungen zu dem ehemaligen Gatten anknüpfte, nachdem doch alles so natürlich und ganz von selbst ein Ende gefunden hatte. Es zog ihn aber irgend etwas hin. Es war da irgendein Eindruck, den er während dieses nächtlichen Besuchs empfangen und den er nun nicht loswerden konnte, vielleicht ohne sich dessen überhaupt bewußt zu sein ... infolge dieses Eindrucks also zog es ihn hin.

V.
Lisa.

Pawel Pawlowitsch dachte nicht daran, „auszureißen“. Gott weiß, wie Weltschaninoff darauf gekommen war, ihm diese Frage noch nachzurufen – vermutlich war er selbst nicht bei voller Besinnung gewesen.

In der Nähe der Kirche erkundigte er sich in einem kleinen Laden nach dem Gasthof, und man wies ihn ein paar Schritte weiter um die Ecke in eine kleine Querstraße. Im Gasthof erfuhr er, daß Herr Trussozkij zwar anfangs hier abgestiegen sei, doch jetzt im Seitenflügel desselben Hauses bei Marja Ssyssojewna in deren möblierten Zimmern wohne. Während er noch auf der schmalen, nassen, sehr unsauberen Steintreppe zum zweiten Stockwerk, in dem sich die möblierten Zimmer befinden sollten, hinaufstieg, hörte er plötzlich eine Kinderstimme weinen. Es mußte, nach der Stimme zu urteilen, ein Kind im Alter zwischen sechs und zehn Jahren sein. Das Weinen hatte etwas Krampfhaftes: als könne das Kind sich nicht bezwingen und gar kein Ende finden: zwischendurch tönte atemloses Schluchzen – und dann wieder verzweifeltes Weinen. Gleichzeitig hörte man einen erwachsenen Menschen mit zorniger, doch gedämpfter Stimme, die infolgedessen mehr wie ein halblautes Keuchen klang, auf das Kind einreden und ängstlich schelten: es solle endlich still sein, damit man das Weinen nicht mehr höre – doch verursachte der Erwachsene schließlich noch mehr Lärm, als das Kind. Er behandelte es erbarmungslos und hatte im Jähzorn offenbar jede Geduld verloren, während das Kind den Betreffenden anzuflehen schien. Weltschaninoff trat in einen kleinen Korridor, zu dessen beiden Seiten sich je zwei Türen befanden. In dem Augenblick öffnete sich eine derselben und ein dickes großes Frauenzimmer in morgendlich unordentlicher Kleidung erschien. Er fragte sie nach Pawel Pawlowitsch und sie wies mit dem Finger auf die Tür, hinter der man das Kind weinen hörte. Das feiste, rote Gesicht der etwa vierzigjährigen Frau verriet einen gewissen Unwillen.

„Da hat er nun wieder sein Vergnügen dran!“ brummte sie halblaut, indem sie an Weltschaninoff vorüberging und sich zur Treppe wandte.

Weltschaninoff wollte zuerst anklopfen, bedachte sich aber und öffnete ohne weiteres die Tür. In einem mittelgroßen Zimmer, das mit zahlreichen, doch billigen Möbeln ausgestattet war, stand halb angekleidet, ohne Rock und Weste, Pawel Pawlowitsch mit rotem zornigen Gesicht und bemühte sich, ein etwa achtjähriges Mädchen in einem einfachen schwarzen Kleidchen durch Schelten, Drohen und – so schien es Weltschaninoff – mit Schlägen und Püffen zur Ruhe zu bringen. Die Kleine aber war ganz fassungslos und streckte flehend ihre Ärmchen nach Pawel Pawlowitsch aus, als wolle sie ihn umfassen, um ihn anzuflehen und irgend etwas von ihm zu erbitten. Doch im Augenblick veränderte sich alles: kaum hatte die Kleine den Fremden erblickt, da schrie sie vor Schreck auf und lief fort, – in ein kleines Nebenzimmer hinein. Pawel Pawlowitsch aber, der im ersten Augenblick ganz verdutzt den Gast anstarrte, besann sich sogleich und im Nu war sein Gesicht zum süßesten Lächeln aufgetaut – genau wie in dem Augenblick, als Weltschaninoff plötzlich die Tür zum Treppenflur vor ihm aufgerissen hatte.

„Alexei Iwanowitsch,“ rief er entschieden verwundert. „Nie und nimmer hätte ich’s erwartet! ... Aber bitte hierher, hierher! Hier, sehen Sie, auf dieses Sofa, oder auf diesen Lehnstuhl! Ich aber ...“

Und er griff nach seinem Rock – die Weste vergaß er – und zog ihn eilig an.

„Bitte, genieren Sie sich nicht, bleiben Sie wie Sie sind.“

Weltschaninoff setzte sich auf einen Stuhl.

„Nein, das müssen Sie mir schon erlauben! So, jetzt bin ich doch etwas anständiger. Aber wohin haben Sie sich denn gesetzt, warum dorthin? in den Winkel? Nehmen Sie doch hier Platz, hier näher zum Tisch ... Nun, nein, das hätte ich nicht erwartet, wirklich nicht erwartet!“

Er setzte sich gleichfalls, doch auf einen einfachen Rohrstuhl, und nur auf den Rand desselben, rückte aber den Stuhl so, daß er seinem Gast gegenüber saß.

„Weshalb haben Sie mich denn nicht erwartet? Ich sagte Ihnen doch gestern, daß ich um diese Zeit kommen würde.“

„Ich dachte, Sie würden eben nicht kommen. Und als ich mir noch heute morgen alles wieder vergegenwärtigte, da gab ich ganz und gar die Hoffnung auf, Sie wiederzusehen, sogar überhaupt jemals wiederzusehen.“

Weltschaninoff sah sich flüchtig im Zimmer um. Alles war in Unordnung: das Bett noch nicht aufgemacht, hier und da Kleidungsstücke, auf dem Tisch zwei leere Kaffeetassen, Brotkrümchen und eine halbausgetrunkene Champagnerflasche, ohne Pfropfen, mit einem Glase daneben. Sein Blick streifte auch das kleine Nebenzimmer, doch dort war alles still: das kleine Mädchen schien sich vor dem Fremden versteckt zu haben.

„Trinken Sie denn schon jetzt?“ fragte er mit einem Hinweis auf die Champagnerflasche.

„O, nur ein Rest ...“ meinte Pawel Pawlowitsch etwas betreten.

„Nun, das muß ich sagen, Sie haben sich ja gründlich verändert!“

„Schlechte Angewohnheit und ... wie gesagt, erst jetzt. Wirklich, erst seit jener Zeit, ich lüge nicht! Ich kann mich nicht enthalten. Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, Alexei Iwanowitsch, noch bin ich nicht betrunken und werde nicht solchen Unsinn schwatzen, wie gestern bei Ihnen, aber es ist wirklich wahr, was ich Ihnen sage: erst seit der Zeit! Und hätte mir jemand noch vor einem halben Jahr gesagt, daß ich plötzlich so aus dem Gleichgewicht kommen würde, wie jetzt, hätte mir jemand mich so im Spiegel gezeigt – ich hätt’s nicht geglaubt!“

„Dann waren Sie also auch gestern betrunken?“

„Ich war’s,“ gestand Pawel Pawlowitsch leise, indem er reumütig und etwas verwirrt die Augen niederschlug. „Und sehen Sie: noch nicht gerade betrunken, aber schon etwas, nun, vorgerückt ... Ich erkläre das deshalb so ausdrücklich, weil besagte Vorgerücktheit bei mir nämlich das Schlimmere ist: der Nebel ist dann schon so’n bißchen da, aber die Gedanken und Gefühle arbeiten noch, bloß mit einem solchen kleinen Hang zur Grausamkeit und zu Unüberlegtheiten, und auch alles Leid empfinde ich dann heftiger. Aus Kummer trinke ich wohl überhaupt nur. Und gerade in dieser Stimmung bin ich dann zu allerhand Streichen aufgelegt, wirklich ganz dummen geradezu, und dann beleidige ich sogar meine besten Freunde. Ich muß Ihnen wohl gestern sehr sonderbar erschienen sein?“

„Erinnern Sie sich denn nicht mehr?“

„Wie denn nicht! – gewiß erinnere ich mich ...“

„Sehen Sie, Pawel Pawlowitsch, dasselbe habe auch ich gedacht und mir somit alles erklärt,“ sagte Weltschaninoff versöhnlich. „Außerdem war ich gestern selbst etwas gereizt und ... folglich etwas gar zu ungeduldig, was ich gern eingestehe. Ich fühle mich bisweilen nicht ganz wohl und Ihr überraschender Besuch gestern nacht ...“

„Ja, in der Nacht, in der Nacht!“ sagte Pawel Pawlowitsch mit mißbilligendem Kopfschütteln, als wundere er sich selbst über das, was er fertiggebracht hatte. „Was mich wohl getrieben haben mag! Aber ich wäre ja auf keinen Fall bei Ihnen eingetreten, wenn Sie nicht selbst die Tür aufgemacht hätten! Ich wäre so von der Tür wieder fortgegangen. Ich war doch schon vor etwa einer Woche mal bei Ihnen, traf Sie aber nicht zu Hause an, – deshalb wäre ich vielleicht nie wieder hingegangen. Immerhin habe auch ich meinen Stolz, Alexei Iwanowitsch, wenn ich auch selbst ... meinen Zustand eingestehe. Wir sind uns sogar auf der Straße begegnet, nur habe ich dann immer gedacht: ‚Aber wie, wenn er dich nun nicht erkennt, wenn er dir den Rücken kehrt, neun Jahre sind kein Spaß‘ – und so konnte ich mich nicht entschließen, mich Ihnen zu nähern. Gestern aber kam ich von der Petersburger Seite, schleppte mich ganz müde zurück, und da hatte ich denn sogar Zeit und Stunde vergessen. Das kommt alles davon“ – er wies auf die Flasche – „und von den Gefühlen. Dumm, wie gesagt! Sehr sogar! Und wären Sie nicht dieser Mensch, der Sie sind – sind Sie doch jetzt zu mir gekommen, und noch dazu nach meinem Besuch, also nur des Früheren gedenkend – so hätte ich doch jede Hoffnung verloren, die Bekanntschaft erneuern zu können!“

Weltschaninoff hörte ihm aufmerksam zu. Dieser Mensch schien wirklich aufrichtig und sogar mit einer gewissen Selbstachtung zu sprechen; indessen – er glaubte ihm doch nichts, und zwar schon von dem Augenblick an nichts, in dem er bei ihm eingetreten war.

„Sagen Sie, Pawel Pawlowitsch, Sie ... sind hier, wie ich sehe, nicht allein? Wessen Kind ist die Kleine, die ich bei Ihnen antraf?“

Pawel Pawlowitsch schien höchst erstaunt zu sein und zog die Brauen in die Hohe, sein Blick jedoch lag hell und freundlich auf Weltschaninoff.

„Wie, wessen Kind? Das ist doch Lisa!“ sagte er mit einem guten Lächeln.

„Welch eine Lisa?“ fragte halblaut Weltschaninoff, und plötzlich zuckte irgend etwas in ihm auf. Die Empfindung kam gar zu plötzlich: als er vorhin eingetreten war und Lisa erblickte, da hatte er sich ein wenig gewundert, aber doch keine Spur von einem Vorgefühl empfunden, kein einziger besonderer Gedanke war ihm dabei gekommen.

„Aber doch unsere Lisa, unsere Tochter Lisa!“ erklärte lächelnd Pawel Pawlowitsch.

„Ihre Tochter? Ja haben Sie denn mit Natalja ... mit der verstorbenen Natalja Wassiljewna Kinder gehabt?“ fragte Weltschaninoff ungläubig und schüchtern, und ganz leise mit einer so seltsamen Stimme, daß diese allein hätte auffallen müssen.

„Ja aber wie denn! Ach, mein Gott, es ist ja wahr, woher hätten Sie es auch wissen sollen? Was fällt mir denn ein? Das war ja nach Ihnen, nach Ihnen erst wurde sie uns von Gott geschenkt!“

Und Pawel Pawlowitsch sprang sogar in einer gewissen Erregung, die jedoch nicht die einer unangenehmen Berührung zu sein schien, von seinem Stuhle auf.

„Ich habe davon nichts gehört,“ sagte Weltschaninoff und erbleichte.

„In der Tat, freilich! ... gewiß! – von wem hätten Sie es denn auch hören sollen!“ Pawel Pawlowitsch sprach mit einer geradezu gerührt liebevollen Stimme. „Wir hatten ja doch, die Verstorbene und ich, alle Hoffnung bereits aufgegeben – Sie erinnern sich wohl selbst noch dessen – und da plötzlich segnete uns der Herr! – und wenn ich nur denke, was mir das war – das weiß nur Gott der Herr allein! Genau ein Jahr, glaube ich, nach einem Jahr, nein, viel früher, warten Sie mal. Sie verließen uns damals, wenn ich nicht irre, doch erst im Oktober oder erst im November, nicht?“

„Ich verließ T. Anfang September, am zwölften September, ich weiß es genau ...“

„Wirklich, im September? Hm! ... was fällt mir denn ein?“ wunderte sich Pawel Pawlowitsch nicht wenig. „Nun, denn, wenn es so ist – erlauben Sie mal, Lisa aber wurde am achten Mai geboren, das sind also – September, Oktober, November, Dezember, Januar, Februar, März, April – also nach acht Monaten und ein paar Tagen. Stimmt! Und wenn Sie nur gesehen hätten, wie die Verstorbene ...“

„Zeigen Sie mir ... rufen Sie sie einmal her ...“ brachte Weltschaninoff mit einer eigentümlich stockenden Stimme hervor.

„Unbedingt, das muß ich doch!“ Und Pawel Pawlowitsch vollendete nicht einmal den begonnenen Satz, ganz, als habe er eigentlich gar nichts sagen wollen, und wandte sich rasch zur Tür. „Sofort, sofort werde ich sie Ihnen vorführen!“

Und er begab sich eilig ins Nebenzimmer zu Lisa.

Es vergingen vielleicht ganze drei oder vier Minuten: im kleinen Stübchen nebenan wurde leise und schnell geflüstert, dazwischen hörte man kaum, kaum einige Laute einer Kinderstimme. „Sie will nicht kommen,“ dachte Weltschaninoff. Doch endlich erschienen sie beide.

„Hier, das ist sie, aber immer noch hat sie Angst vor Fremden!“ sagte Pawel Pawlowitsch. „So verschämt ist sie, und dabei stolz ... und der Verstorbenen wie aus dem Gesicht geschnitten!“

Lisas Tränen waren versiegt, doch trat sie mit niedergeschlagenen Augen ins Zimmer. Der Vater führte sie an der Hand. Es war ein zartes und sehr hübsches, für ihr Alter nicht kleines Mädchen. Allmählich löste sich ihr Blick vom Boden und plötzlich schlug sie die Augen schnell zu ihm auf – große blaue Augen – sah ihn mit ernster Neugier an und blickte dann sogleich wieder zu Boden. In ihrem Blick lag jene kindliche Würde, die man an allen Kindern beobachten kann, wenn sie mit einem Gast allein bleiben, sich in einen Winkel zurückziehen und von dort aus ernst und würdevoll und mit einem gewissen Mißtrauen den noch nie gesehenen fremden Menschen betrachten. Vielleicht aber lag – so schien es Weltschaninoff – noch ein anderer, nicht mehr kindlicher Gedanke in diesem Blick. Der Vater führte sie dicht an ihn heran.

„Sieh, dieser Onkel da hat Mama früher gekannt, er war unser Freund, fürchte dich nicht vor ihm, gib ihm mal die Hand.“

Das kleine Mädchen verneigte sich leicht und reichte ihm schüchtern das Händchen.

„Natalja Wassiljewna wollte es ihr nicht beibringen, einen Knix zu machen, sondern so ... ihr gefiel diese englische Manier mehr – nur eine leichte Verbeugung – und die Hand gereicht,“ sagte Pawel Pawlowitsch zur Erklärung, während er ihn lauernd beobachtete.

Weltschaninoff wußte es, daß er ihn beobachtete, dachte aber gar nicht mehr daran, seine Erregung zu verbergen. Er saß schweigend und hielt immer noch Lisas Händchen in seiner Hand und verwandte keinen Blick von dem Kinde. Doch Lisa schien von etwas anderem ganz in Anspruch genommen zu sein; sie vergaß ihre Hand in der des Fremden und wandte keinen Blick vom Vater ab. Angstvoll horchte sie auf das, was er sprach. Weltschaninoff erkannte sofort diese großen blauen Augen, doch am meisten überzeugten ihn ihr erstaunlich zarter, wundervoller Teint und das ganz besondere Blond ihres Haares: diese Anzeichen waren für ihn von entscheidender Bedeutung. Das Oval des Gesichtchens dagegen und der Schnitt der Lippen erinnerten stark an Natalja Wassiljewna. Pawel Pawlowitsch sprach inzwischen immer weiter und schien sich in Rührung und Begeisterung hineinzureden, doch Weltschaninoff hatte kein Wort gehört – nur die letzten Sätze fing er noch auf:

„... so daß Sie sich unsere Freude über dieses Geschenk Gottes gar nicht werden vorstellen können!“ hörte er ihn gerade noch sagen. „Für mich war sie alles, der Inbegriff meines ganzen Lebens! Und ich habe oft bei mir gedacht, daß mir, wenn ich nach Gottes Ratschluß einmal mein stilles Glück verlieren sollte, dann – dann doch immer noch Lisa bliebe! – das wenigstens wußte ich mit aller Bestimmtheit!“

„Und Natalja Wassiljewna?“ fragte Weltschaninoff.

„Natalja Wassiljewna?“ Pawel Pawlowitschs Gesicht verzog sich eigentümlich. „Sie wissen doch, sie sprach nicht gern von Gefühlen, dafür aber, als sie auf dem Sterbebett von ihr Abschied nahm ... da kam dann alles zum Ausdruck! Freilich: auf dem Sterbebett! Wenn ich das sage, dann müssen Sie es nicht falsch auffassen! Sie war doch so, daß sie zum Beispiel noch am Tage vor dem Tode plötzlich behauptete – dabei ganz empört und aufgeregt, sie war gar nicht mehr zu beruhigen! – daß man sie mit all diesen Medikamenten nur vergiften wolle: sie habe nur eine ganz gewöhnliche Influenza, sagte sie, unsere beiden Ärzte verstünden nur von nichts etwas, wenn aber erst Koch wieder zurückkehren werde – Sie erinnern sich seiner wohl noch, unser alter Hausarzt, so ’n kleines Kerlchen! – dann werde sie in zwei Wochen gesund sein. Und noch fünf Stunden vor dem Tode sagte sie, daß sie nach drei Wochen unbedingt zum Namenstag der Tante, die auf ihrem Gut lebt, hinfahren wolle – es war Lisas Taufmutter ...“

Weltschaninoff erhob sich plötzlich vom Stuhl, doch ohne die Hand Lisas freizugeben. Er glaubte unter anderem, in dem unverwandt am Vater hängenden Blick der Kleinen einen Vorwurf zu lesen.

„Ist sie nicht krank?“ fragte er eigentümlich, ganz plötzlich und überstürzt.

„Es scheint, nicht ... aber ... die Verhältnisse haben sich hier so gefügt ...“ meinte Pawel Pawlowitsch in trüber Besorgnis, „und das Kind ist ein so eigenes Geschöpf, nervös, ängstlich, nach dem Tode der Mutter war sie in der Tat zwei Wochen krank. Sie haben ja selbst gehört, wie sie vorhin weinte, als Sie kamen – hörst du, Lisa, hörst du, jetzt erzähle ich es dem Onkel! – Und weshalb, was glauben Sie wohl? Alles nur deshalb, weil ich fortgehe und sie allein lasse, und sie folglich, wie sie sagt, nicht mehr so lieb habe wie zu Lebzeiten der Mama – sehen Sie, das ist es, was sie mir vorwirft. Ich begreife nicht, wie ihr solch ein Einfall in den Kopf kommen kann – einem Kinde, das nur an Spielsachen denken sollte! Aber das ist es eben, sie hat hier keinen, mit dem sie spielen könnte.“

„Ja, aber wie ... sind Sie denn hier ganz allein mit ihr?“

„Ganz allein; nur das Stubenmädchen kommt einmal am Tage, um aufzuräumen.“

„Und wenn Sie fortgehen, dann ist niemand bei ihr?“

„Ja, natürlich nicht, wie denn sonst? Als ich gestern fortging, schloß ich sie ein, dort im Stübchen, und deshalb gab es dann heute die Tränen. Aber, nicht wahr, was sollte ich denn machen, urteilen Sie doch selbst: vor drei Tagen hatte ich sie nicht eingeschlossen und da war sie ohne mich nach unten auf den Hof gegangen, und dort hat ihr ein Bengel einen Stein an den Kopf geworfen. Oder sonst, wenn ich sie nicht einschließe, fängt sie zu weinen an und läuft auf den Hof und fragt dort alle und jeden, wohin ich gegangen sei. Das geht doch nicht. Aber freilich habe auch ich Vorwürfe verdient: ich will oft bloß auf eine Stunde fortgehen und komme dann erst am nächsten Morgen zurück, wie es sich gerade diesmal wieder traf. Zum Glück hat die Frau, die Marja Ssyssojewna, die Tür endlich aufgemacht – sie hat den Schlosser gerufen. Das ist nun allerdings eine Schande und ich komme mir auch selbst wie ein Scheusal vor! Das kommt eben alles von der – Umnachtung ... Wie gesagt, von der – Umnachtung ...“

„Papa!“ unterbrach ihn plötzlich schüchtern und angstvoll die Kleine.

„Nun, schon wieder! Beginnst du schon wieder damit? Was habe ich dir vorhin gesagt?“

„Ich werd’ nicht, ich werd’ nicht!“ stammelte die Kleine erschrocken und faltete schnell bittend die Händchen vor ihm.

„So kann das hier nicht weitergehen!“ erklärte plötzlich Weltschaninoff gereizt und im Tone eines Machthabers. „Sie sind doch ... Sie sind doch, soviel ich weiß, vermögend! Wie kommen Sie dazu ... erstens, hier in diesem Hinterhause, in einem solchen Winkel zu leben?“

„Hier im Hinterhaus? Aber wir werden doch vielleicht schon nach einer Woche Petersburg wieder verlassen, und Geld haben wir sowieso schon viel verausgabt – dieses ‚vermögend sein‘ will nicht allzuviel besagen ...“

„Genug, schon gut,“ unterbrach ihn Weltschaninoff, dessen Ungeduld mit jeder Minute wuchs, und er machte dabei eine Handbewegung, die ungefähr sagte: „Brauchst keine Worte zu verlieren, ich weiß alles, weiß sogar, mit welchen Hintergedanken du sprichst!“ – Laut sagte er: „Hören Sie, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie sagten, daß Sie eine ganze Woche oder noch länger hier zu bleiben gedenken. Ich kenne hier eine Familie, in der ich wie zu Hause bin – ich kenne sie schon zwanzig Jahre – Poporjelzeff ... heißen sie. Alexandr Petrowitsch Poporjelzeff ist Geheimrat – er kann sich vielleicht noch für Sie verwenden, in Ihrer Angelegenheit. Sie leben jetzt auf ihrer Datsche[8], nicht weit von der Stadt. Sie haben ein sehr schönes Landhaus. Die Dame des Hauses ist wie eine Schwester zu mir, wie eine Mutter. Erlauben Sie, daß ich Lisa sogleich zu ihnen bringe ... ich meine, damit nicht unnötigerweise noch viel Zeit verloren wird. Man wird sie dort mit Freuden aufnehmen, mit offenen Armen, ich versichere Ihnen! Man wird sie mit der größten Liebe behandeln, wie ein eigenes Kind!“

Er wurde nervös vor Ungeduld und verbarg es nicht einmal.

„Das ist doch wohl nicht gut möglich,“ wandte Pawel Pawlowitsch mit einem verkniffenen Schmunzeln ein, wobei er ihm, wie es Weltschaninoff scheinen wollte, listig in die Augen sah.

„Weshalb nicht? Warum soll es nicht möglich sein?“

„Ja wie denn, das Kind so plötzlich fortgeben – übrigens mit einem so aufrichtigen Freunde wie Sie ... doch ich rede nicht von Ihnen! Aber immerhin so in ein fremdes Haus, in eine vornehme Familie, in der man sie, ich weiß noch nicht, wie empfangen wird ...“

„Aber ich sage Ihnen doch, ich bin dort, als gehörte ich gleichfalls zur Familie!“ rief Weltschaninoff fast zornig. „Klawdia Petrowna, die Gemahlin des Geheimrats, wird sich glücklich schätzen, wenn ich sie darum bitte! Wie meine Tochter ... ach, zum Teufel, Sie wissen doch selbst, daß Sie nur so reden, um zu schwatzen ... da braucht man doch wahrhaftig keine Worte darüber zu verlieren!“

Und er stampfte vor Ärger mit dem Fuß auf.

„Ich meine ja nur, wird es vielleicht nicht doch etwas zu sonderbar erscheinen? Jedenfalls müßte ich dann ein- oder zweimal hinfahren, denn so ganz ohne Vater, wie sieht denn das aus? Hehe ... und noch dazu in ein so vornehmes Haus!“

„Es ist ein ganz gewöhnliches Haus, von Zeremonien keine Spur!“ versicherte Weltschaninoff. „Ich sage Ihnen doch: acht Kinder! Sie wird dort aufleben, nur deshalb ... Was aber Ihre Person betrifft, so kann ich Sie noch morgen am Tage dort einführen, wenn Sie wollen. Ja, das muß sogar unbedingt geschehen, Sie müssen sich eben einmal zeigen und Ihren Dank aussprechen. Wir können ja jeden Tag hinfahren, wenn Sie es wünschen ...“

„Es ist aber doch immer ...“

„Unsinn! Und die Hauptsache – Sie wissen das ja selbst! Hören Sie, machen wir es einfach so: Kommen Sie, wenn Sie wollen, schon heute abend zu mir, schlafen Sie die Nacht über meinetwegen bei mir, und dann am Morgen fahren wir beide früher aus, damit wir um zwölf dort sind!“

„Sie sind ... Sie sind wirklich mein Wohltäter! Sogar übernachten soll ich bei Ihnen! ...“ nahm Pawel Pawlowitsch den Vorschlag ganz plötzlich und fast gerührt an. „Sie erweisen mir Wohltaten, wie ich sie gar nicht verdient habe ... aber wo liegt denn dieses Landhaus?“

„In Ljesnoje ...“

„Nur, sehen Sie, wie machen wir denn das mit ihren Kleidern? Denn in ein so feines Haus, und noch dazu in einem so vornehmen Sommeraufenthalt, Sie wissen doch selbst ... Das Vaterherz ...“

„Wieso, was ist mit ihrem Kleide? Sie hat doch Trauer. Was kann sie da anderes tragen als Schwarz? Es ist das anständigste Kleidchen, das man sich denken kann. Nur ... etwas reinere Wäsche vielleicht, hier die Krause ...“

Die kleine Spitzenkrause am Halse, sowie die unter dem kurzen Kleidchen sichtbaren Röckchen waren allerdings nichts weniger als sauber.

„Im Augenblick, im Augenblick, sie muß sich unbedingt umkleiden,“ stimmte Pawel Pawlowitsch sogleich geschäftig bei. „Und auch die übrigen Sachen müssen wir sogleich einpacken. Aber das ist jetzt alles bei Marja Ssyssojewna in der Wäsche!“

„Dann schicken Sie nur gleich nach einer Droschke,“ versetzte Weltschaninoff schnell, „und vielleicht ohne Zögern wenn möglich.“

Es stellte sich jedoch heraus, daß zunächst noch ein anderes Hindernis zu überwinden war: Lisa wollte nicht fort. Die ganze Zeit, während der Weltschaninoff den Vater beredete, hatte sie angstvoll zugehört, und wenn er sie beobachtet hätte, würde er in ihrem Gesichtchen immer größer werdendes Entsetzen, zuletzt fast Verzweiflung wahrgenommen haben.

„Ich werde nicht fahren!“ sagte sie leise, doch mit aller Bestimmtheit.

„Sehen Sie, da sehen Sie es: ganz wie die Mama!“

„Nein, ich bin nicht wie Mama, ich bin nicht wie Mama!“ rief Lisa flehentlich und rang verzweifelt ihre kleinen Händchen, als wolle sie sich gegen den furchtbaren Vorwurf verteidigen, der Mutter ähnlich zu sein. „Papa, Papa, wenn Sie mich verlassen ...“

Und plötzlich stürzte sie sich auf den ganz erschrockenen Weltschaninoff:

„Wenn Sie mich fortbringen, werde ich ...“

Weiter kam sie nicht: Pawel Pawlowitsch hatte sie gepackt und zog sie bereits mit unverhohlener Wut ins kleine Nebenzimmer. Von dort hörte man dann wieder eine ganze Weile eifriges Geflüster; dazwischen unterdrücktes Weinen. Weltschaninoff wollte sich schon erheben und zu ihnen gehen, um der Quälerei ein Ende zu machen, als Pawel Pawlowitsch wieder auf der Schwelle erschien und mit einem eigentümlichen, verstellten Lächeln sagte, sie werde sogleich kommen. Weltschaninoff bemühte sich, ihn nicht anzusehen, und blickte zur Seite.

Bald erschien denn auch Marja Ssyssojewna, dieselbe Frauensperson, der Weltschaninoff im Korridor begegnet war, und die Pawel Pawlowitsch inzwischen gerufen hatte. Sie brachte Lisas Wäsche und machte sich daran, dieselbe in Lisas nette, kleine Reisetasche einzupacken.

„Sie wollen das Mädchen fortbringen, Väterchen?“ wandte sie sich an Weltschaninoff. „Sie haben wohl selbst eine Familie? Das ist gut von Ihnen, Väterchen, daß Sie sie fortbringen: ist ’n stilles Kindchen, so kommt’s wenigstens aus diesem Sodom hier heraus.“

„Wie wär’s, Marja Ssyssojewna ...“ begann Pawel Pawlowitsch etwas betreten.

„Na, was denn: Marja Ssyssojewna! Meinen Namen kann ein jeder nennen! Oder ist denn das ein Leben, wie es sich gehört? Ist denn das eine Art, wenn ein Kindchen, das doch schon was begreifen kann, solche Schande mit ansieht? – Der Wagen ist schon vorgefahren, Väterchen. Nach Ljesnoje, nicht?“

„Ja, ja.“

„Nun dann – mit Gott!“

Lisa kam ganz bleich, mit niedergeschlagenen Augen, aus dem kleinen Zimmer und nahm die Reisetasche: kein Blick nach Weltschaninoff! Sie nahm sich krampfhaft zusammen und wandte sich auch nicht mehr an den Vater, um bei ihm Schutz zu suchen oder ihn anzuflehen; auch beim Abschied rührte sie sich nicht; offenbar wollte sie ihn nicht einmal ansehen. Der Vater küßte sie auf die Stirn und streichelte ihr einmal übers Köpfchen; ihre Lippen zuckten und ihr Gesicht verkrampfte sich; aber sie sah doch nicht zu ihm auf. Pawel Pawlowitsch schien bleich zu sein und seine Hände zitterten – letzteres bemerkte Weltschaninoff ganz deutlich, obschon er sich alle Mühe gab, ihn nicht anzusehen. Er wollte nur so schnell als möglich fort, nur fort!

„Wenn ich sie erst dort habe ... Es ist nicht meine Schuld, daß es so gekommen ist! Was geht mich dieser Mensch an?“ dachte er bei sich. „Es hat so kommen müssen.“

Unten angelangt, wurde Lisa noch von Marja Ssyssojewna zum Abschied geküßt und dann in den Wagen gesetzt. Erst als auch Weltschaninoff eingestiegen war, schlug Lisa plötzlich die Augen auf und sah den Vater an – und plötzlich streckte sie die Hände nach ihm aus und schrie auf: im nächsten Augenblick wäre sie zu ihm hinausgestürzt, doch die Pferde zogen bereits an und sie fuhren davon.

VI.
Ein neuer Einfall eines müßigen Menschen.

„Fühlst du dich nicht wohl, Lisa?“ fragte Weltschaninoff erschrocken. „Ich werde anhalten lassen ... ich lasse dir Wasser bringen ...“

Da schlug sie wieder ihre großen Kinderaugen zu ihm auf und aus ihnen sah ihn ein heißer, bitterer Vorwurf an.

„Wohin bringen Sie mich?“ fragte sie stockend.

„In ein wunderschönes Haus, Lisa. Es sind dort viele Kinder und die Eltern sind sehr nette Menschen. Sie leben jetzt auf ihrer Datsche. Es ist dort sehr schön und man wird dich sehr lieb haben ... Sei mir nicht böse, kleine Lisa, ich meine es gut mit dir ...“

Hätten ihn seine Bekannten jetzt sehen können, sie würden ihn zum mindesten sehr sonderbar gefunden haben.

„Wie Sie – wie – wie – hu, wie schlecht Sie sind!“ stieß Lisa, tapfer die Tränen schluckend, mit stockender, zitternder Stimme hervor, und ihre blauen Augen wurden ganz dunkel vor Zorn.

„Lisa, ich ...“

„Schlecht, schlecht, schlecht sind Sie!“

Und sie rang die Händchen vor Verzweiflung. Weltschaninoff sah einfach hilflos aus.

„Lisa, liebe Kleine, wenn du wüßtest, zu welch einer Verzweiflung du mich bringst!“

„Ist es wahr, daß er morgen kommen wird? Ist es wahr?“ fragte sie angstvoll.

„Aber gewiß wird er kommen! Ich werde ihn selbst hinbringen! Ich werde ihn einfach festnehmen und in den Wagen setzen!“

„Er wird fortlaufen,“ sagte sie leise und senkte betrübt den Blick.

„Hat er dich denn nicht lieb, Lisa?“

„Nein, er hat mich nicht lieb ...“

„Hat er dich gekränkt? Hat er dir etwas zuleide getan?“

Lisa blickte ihn finster an, sagte aber kein Wort. Sie wandte sich wieder von ihm ab und sah eigensinnig zu Boden. Er sprach auf sie ein, redete ihr gut zu und war dabei wie im Fieber. Lisa hörte ihn mißtrauisch und feindselig an – aber sie hörte wenigstens. Ihre Aufmerksamkeit war schon eine große Freude für ihn. Er suchte ihr zunächst zu erklären, weshalb ein Mensch trinkt. Er sagte ihr auch, daß er sie sehr lieb habe und auf den Vater achtgeben werde. Endlich schaute Lisa auf und sah ihn lange unverwandt an. Und er erzählte weiter: daß er ihre Mama gekannt und im Hause ihrer Eltern verkehrt habe; und als er sah, daß er sie mit seinen Erzählungen zu fesseln vermochte, war er sehr froh. Allmählich begann sie, auf seine Fragen zu antworten, aber immer noch vorsichtig und einsilbig und mit noch nicht überwundenem Mißtrauen. Die wichtigsten Fragen jedoch ließ sie unbeantwortet: so sagte sie z. B. kein Wort über den Vater und wie er sie behandelt hatte. Während Weltschaninoff zu ihr sprach, nahm er ihr Händchen in seine Hand und hielt es fest; sie entzog es ihm nicht. Übrigens verrieten ihre Antworten doch mancherlei: aus ihnen ging wenigstens hervor, daß sie den Vater früher mehr geliebt hatte als die Mutter, weil auch er sie früher mehr geliebt habe, denn die Mama sei früher gar nicht so gut zu ihr gewesen. Auf dem Sterbebett aber habe die Mama sie so geküßt und sie habe so geweint, als alle hinausgegangen und sie allein geblieben waren ... und jetzt liebe sie die Mama mehr als alle, mehr als alles in der Welt, mehr als alle Menschen, und in jeder Nacht liebe sie sie über alles! Aber die Kleine besaß zweifellos ihren Stolz: kaum hatte sie es ausgesprochen, da erschrak sie sichtlich und nichts konnte sie wieder dazu bewegen, weiterzusprechen: Weltschaninoff, der ihr das Geheimnis entlockt hatte, fing nur einen feindseligen Blick auf, und wieder wandte sie sich von ihm ab. Als sie bereits über die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, bemerkte Weltschaninoff, daß die krankhafte Erregung der Kleinen sich gelegt zu haben schien, dafür aber war sie beängstigend nachdenklich und scheu geworden, und in dem kleinen zarten Gesichtchen drückten sich qualvoller Kummer, Angst und gleichzeitig doch auch Trotz und Entschlossenheit aus. Daß man sie in ein fremdes Haus, zu fremden Menschen brachte, daran schien sie vorläufig am wenigsten zu denken. Es war etwas ganz anderes, was ihr armes kleines Kinderherz quälte, das erriet Weltschaninoff sehr bald. Und zwar war es dies: daß sie sich für ihren Vater schämte, sich schämte, weil er sie ohne weiteres von einem Fremden hatte fortbringen lassen, fast als freue er sich, sie los zu werden – und daß nun dieser Fremde sie ohne weiteres auf dem Halse hatte.

„Sie ist krank, ganz fraglos ist sie krank!“ sagte sich Weltschaninoff. „Vielleicht sogar sehr krank. Und natürlich nur von seinen Quälereien ... O, dieser besoffene, gemeine Lump! Jetzt erst verstehe ich ihn! ...“

Er trieb den Kutscher zur Eile an: er setzte alle Hoffnung auf das Landhaus, die Luft, den Garten, die Kinder, auf das ganze neue, ihr bisher unbekannte Leben, und dann, später ... Denn darüber, was dann „später“ sein werde, war er sich keinen Augenblick mehr im unklaren. Große, helle Hoffnungen stiegen auf! Eines aber wußte er mehr als genau: daß er in seinem ganzen bisherigen Leben noch niemals das empfunden hatte, was er jetzt empfand und daß dieses Gefühl ihm für sein ganzes ferneres Leben bleiben würde!

„Ein Ziel! Jetzt habe ich ein Ziel, einen Lebensinhalt!“ dachte er begeistert.

Vieles ging ihm noch durch den Sinn und er schmiedete große Pläne, vermied es jedoch geflissentlich, an die „nebensächlichen“ Einzelheiten zu denken, weshalb ihm denn auch gelang, alles ganz wunderschön zu entwerfen. Der Hauptplan machte sich eigentlich ganz von selbst.

„Man wird eben diesen Schurken so lange bearbeiten,“ dachte er, „eventuell noch mit vereinten Kräften, bis er Lisa Pogorjelzeffs läßt, wenn auch vorläufig vielleicht nur für eine bestimmte Zeit, und allein zurückfährt. Dann aber gehört Lisa mir. Mehr verlange ich ja gar nicht! Und ... und natürlich ist das auch nur sein eigener Wunsch! Weshalb sollte er sie denn sonst so gequält haben?“

Endlich waren sie angelangt. Die Datsche der Pogorjelzeffs war wirklich ein reizender Erdenfleck. Empfangen wurden sie sogleich von einer fröhlich lärmenden Kinderschar, die kaum, daß der Wagen hielt, schon auf der Freitreppe erschien und lachend dem Besuch entgegendrängte. Weltschaninoff war lange nicht mehr bei ihnen gewesen, daher die unbändige Freude der Kinder: sie hatten ihn alle gern. Die älteren von ihnen riefen sogleich, noch bevor er ausgestiegen war:

„Ihr Prozeß, was macht Ihr Prozeß?“

Diese Frage griffen selbstverständlich auch die jüngeren und jüngsten auf und so tönte sie ihm denn aus allen Kehlen in allen Abstufungen unter Lachen und Geschrei entgegen. Er wurde hier nämlich mit seinem Prozeß regelmäßig geneckt. Als sie jedoch Lisa erblickten, verstummte eines nach dem anderen und alle umringten sie, um sie dann mit echtem ernstem Kinderinteresse zu betrachten. Da erschien aber schon Klawdia Petrowna und ihr folgte ihr Gemahl. Auch deren erstes Wort war eine lachende Frage nach dem Prozeß.

Klawdia Petrowna war eine Dame von siebenunddreißig Jahren, eine ziemlich volle und noch ganz hübsche Brünette mit einem frischen, sympathischen Gesicht. Ihr Gemahl war fünfundfünfzig, ein kluger und zugleich auch schlauer Kopf, doch in erster Linie und im Grunde ein gutmütiger Mensch. Ihr Haus war für Weltschaninoff im vollen Sinne des Wortes zu einem halben Heim geworden, wie er sich selbst ausdrückte. Übrigens war hier noch etwas anderes mit im Spiel: vor etwa zwanzig Jahren wäre dieselbe Klawdia Petrowna beinahe die Gattin Weltschaninoffs geworden, der damals, versieht sich, noch ein grüner Junge, noch Student gewesen war. Es war ihre erste, leidenschaftliche, lächerliche und doch so schöne Liebe gewesen. Geendet aber hatte ihr Verlöbnis damit, daß sie den Pogorjelzeff heiratete. Vor etwa fünf Jahren waren sie sich nun wieder begegnet und aus der einstigen Liebe war eine stille, heitere Freundschaft geworden, die aber doch eines gewissen wärmeren Untertones nicht entbehrte, der dieser Freundschaft noch einen ganz besonderen Reiz verlieh. In den Erinnerungen Weltschaninoffs an seine Beziehungen zu dieser Frau war alles rein und keusch, und deshalb um so teurer für ihn, als es die einzige Beziehung war, von der er das sagen konnte. In dieser Familie, und zwar nur hier allein, war er jungenhaft harmlos und gut; er gab sich mit den Kindern ab, verstellte sich nie, gestand alle seine Fehler ein und beichtete alles, was er auf dem Gewissen hatte. Mehr als einmal schon hatte er Pogorjelzeffs hoch und heilig versichert, daß er nur noch kurze Zeit sein altes Leben in der Welt weiterführen wolle, dann aber zu ihnen ziehen und für immer bei ihnen bleiben werde, so als freiwillig hinzugetretenes Familienmitglied, um in angenehmer Gesellschaft und stiller Beschaulichkeit freundlich sein Leben zu beschließen. In Gedanken nahm er diesen Scherz bisweilen sogar selbst für durchaus ernst gemeint.

Er erzählte ihnen ziemlich ausführlich alles, was über Lisa zu sagen war, doch seine Bitte allein genügte schon vollkommen, so daß die Erklärungen eigentlich überflüssig erschienen. Klawdia Petrowna küßte die „kleine Waise“ und versprach ihrerseits alles zu tun, was sich für sie tun ließ. Die Kinder waren sehr erfreut und im Augenblick schob die ganze Bande, Lisa in der Mitte, in den Garten ab. Nach einer halben Stunde lebhafter Unterhaltung erhob sich Weltschaninoff, um aufzubrechen. Er war so unruhig, daß es jedem auffallen mußte. Man war natürlich sehr erstaunt: drei Wochen lang hatte er sich nicht gezeigt, und nun wollte er nach einer halben Stunde schon wieder fort. Er versicherte zwar lachend, daß er nichts, „absolut nichts Besonderes“ habe und am nächsten Tage wiederkommen werde. Da aber sagte man ihm offen, daß er ja sehr aufgeregt zu sein scheine, und er zuckte zusammen und wandte sich dann plötzlich an Klawdia Petrowna, indem er bat, sie unter vier Augen sprechen zu dürfen, da er etwas sehr Wichtiges zu sagen vergessen habe. Sie gingen in ein anderes Zimmer.

„Erinnern Sie sich noch dessen, was ich Ihnen einmal erzählte,“ begann er, „nur Ihnen allein, was nicht einmal Ihr Mann weiß – ich meine das von meinem Aufenthalt in T.?“

„O, nur zu gut! Sie haben mir oft von diesem Jahr erzählt.“

„Nicht erzählt, sondern gebeichtet, und nur Ihnen, nur Ihnen allein! Ich habe Ihnen aber niemals den Namen jener Frau genannt. Es war – Frau Trussozkij, die Frau dieses selben Trussozkij, dieselbe, die jetzt gestorben ist. Und Lisa ist ihre Tochter, und – meine Tochter!“

„Wissen Sie es genau? Irren Sie sich nicht?“ fragte Klawdia Petrowna, auch ihrerseits sichtlich etwas erregt.

„Nein, ein Irrtum ist ausgeschlossen, ich weiß es genau!“ bestätigte Weltschaninoff mit förmlicher Begeisterung.

Und er erzählte in nicht geringer Erregung, rasch und so kurz, wie er sich nur fassen konnte, nochmals alles. Klawdia Petrowna hatte bisher nur den Namen jener Frau nicht gekannt; Weltschaninoff war schon der bloße Gedanke fürchterlich gewesen, daß jemand von seinen Bekannten Madame Trussozkij begegnen und sich dann darüber wundern konnte, wie er diese Frau so habe zu lieben vermocht. Deshalb hatte er nicht einmal Klawdia Petrowna, seinem einzigen „Freunde“, ihren Namen zu nennen gewagt.

„Und der Vater weiß nichts davon?“ fragte sie, nachdem sie ihn angehört hatte.

„Ja – er scheint doch etwas zu wissen ... Das ist es ja eben, was mich quält, – daß ich mir über diesen Punkt selbst noch nicht ganz klar bin!“ fuhr Weltschaninoff erregt fort. „Ich fühle es, er muß unbedingt etwas wissen! Davon habe ich mich gestern und heute vollkommen überzeugt. Aber jetzt fragt sich nur, wieviel er weiß? Deshalb will ich eben schnell wieder zurückkehren. Heute abend wird er zu mir kommen. Übrigens, ich verstehe nicht, woher er es wissen sollte? Von ihrem Verhältnis zu Bagontoff weiß er entschieden alles, das steht fest! Aber von mir? Sie wissen doch, wie Frauen in solchen Fällen ihre Männer zu überzeugen verstehen! Und sollte auch ein Engel vom Himmel herabsteigen und es ihm sagen – er wird ihm doch keinen Glauben schenken, sondern ausschließlich darauf hören, was seine Frau sagt! Schütteln Sie nicht den Kopf, verurteilen Sie mich nicht, ich habe mich ja schon selber tausendmal verurteilt! ... Sehen Sie, heute morgen, dort bei ihm, da war ich so fest davon überzeugt, daß er alles wisse, daß ich mich weiter gar nicht mehr verstellt oder sonstwie zusammengenommen habe – ich stellte mich unwillkürlich selbst bloß! Und werden Sie es mir glauben: es bedrückt mich ganz unsäglich, daß ich ihn gestern so unhöflich, so beleidigend geradezu, empfangen habe. Ich werde Ihnen ein nächstes Mal alles noch ausführlicher erzählen. Er ist gestern sicher nur mit dem einen boshaften Wunsch zu mir gekommen, mir zu verstehen zu geben, daß er um den ganzen ihm angetanen Schimpf weiß und auch den Beleidiger kennt! Sehen Sie, nur das war der Grund seines dummen Besuches in halbbetrunkenem Zustande. Doch ist es ja schließlich so begreiflich! Sein Besuch war und sollte am Ende nichts anderes sein als eine Mahnung und ein Vorwurf. Überhaupt habe ich mich gestern wie auch heute viel zu hitzig benommen! Unvorsichtig und dumm! Ich habe mich selbst verraten! Daß er aber auch gerade zu einer solchen Stunde kommen mußte, in der man ohnehin schon reizbar ist! Ich sagte Ihnen, er hat sogar Lisa gequält, das Kind, nur um seine Wut an ihr auszulassen! Ja, er ist erbittert, das merkt man. Wie unbedeutend er auch sein mag, erbittert aber ist er doch – ist es bis zur ohnmächtigen Wut – daher seine Bosheiten! Selbstverständlich ist er nichts mehr als ein Narr, obschon er früher, bei Gott, den Eindruck eines sehr vernünftigen Menschen machte – wenigstens soweit man aus ihm klug werden konnte. Aber es ist ja schließlich so natürlich, daß er jetzt liederlich geworden ist! In solchen Fällen, liebe Freundin, muß man sich menschlich in die Lage des anderen hineinzuversetzen suchen, bevor man verurteilt. Wissen Sie, meine Gute, Liebe, ich – ich will mich von nun an ganz anders zu ihm verhalten: ich will mich bemühen, gut zu ihm zu sein. Ich glaube, ich werde mir das sogar als eine ‚gute Tat‘ anrechnen können. Denn ich bin doch immerhin der schuldige Teil! Und noch eines nicht zu vergessen – ich stehe außerdem auch noch moralisch in seiner Schuld: ich brauchte einmal in T. ganz plötzlich und dringend viertausend Rubel, und er gab sie mir im Augenblick, ohne sich einen Moment zu bedenken, streckte er sie mir vor, und ohne jede Schuldverschreibung meinerseits. Er freute sich sogar aufrichtig, daß er mir einen Dienst erweisen konnte, und ich nahm das Geld an, ich ließ mir von ihm den Dienst erweisen, verstehen Sie, ich nahm das Geld an, wie man es von einem Freunde annimmt!“

„Seien Sie jedenfalls vorsichtig,“ rief ihm darauf etwas beunruhigt Klawdia Petrowna zu. „Sie sind jetzt so ... begeistert, daß ich Ihnen wirklich nur raten möchte, sich in acht zu nehmen. Lisa ist mir natürlich so lieb wie mein eigenes Kind, aber es bedarf hier noch so vieles der Aufklärung. Seien Sie nur vor allen Dingen vorsichtiger – das müssen Sie unbedingt, solange Sie so – glücklich und so versöhnlich gestimmt sind! Sie sind vielleicht gar zu großmütig, wenn Sie glücklich sind,“ fügte sie mit einem Lächeln hinzu.

Weltschaninoff brach auf. Zum Abschied kamen wieder alle aus dem Garten herbei, auch Lisa mit den Kindern. Die Kinder schienen die Kleine übrigens jetzt noch verwunderter zu betrachten als bei ihrem ersten Erscheinen, denn etwas so Schüchternes wie Lisa konnten sie wohl noch nicht gesehen haben. Als Weltschaninoff sie zum Abschied vor allen Anwesenden küßte, erschrak sie heftig und hätte sich offenbar am liebsten irgendwohin verkrochen. Weltschaninoff versprach mit aller Bestimmtheit, am nächsten Tage mit dem Vater wiederzukommen. Da erst blickte Lisa zu ihm auf, und als er sich nun von den anderen Kindern verabschieden wollte, fühlte er sich plötzlich am Ärmel gezupft: er wandte sich um und – es war Lisa, die ihn flehend ansah und mit dem Blick eine Bitte aussprach, die er sofort verstand. Sie wollte ihm etwas sagen, ihm ganz allein. Er führte sie sogleich ins nächste Zimmer.

„Was willst du mir sagen, Lisa? Was ist es?“ fragte er zärtlich, mit ermunterndem Lächeln sich zu ihr beugend; die Kleine aber zog ihn noch weiter, sah sich ängstlich um, und zog ihn wieder weiter bis in den Winkel, als wolle sie sich vor allen verstecken.

„Was gibt es denn, Lisa, sag es mir doch!“

Sie schwieg und konnte sich noch nicht entschließen; ihre großen Kinderaugen sahen ihn unbeweglich an und jeder Zug ihres Gesichtchens sprach von unsäglicher Angst.

„Er ... er wird sich ... erhängen!“ flüsterte sie wie im Fieber.

„Wer wird sich erhängen?“ fragte Weltschaninoff erschrocken.

„Er, er! Er wollte sich in der Nacht ... an einer Schlinge erhängen!“ stieß sie plötzlich schnell und vor Angst doch stockend hervor, „ich habe es gesehen! Und er hat es mir selbst gesagt, daß er sich erhängen wird, er hat es mir selbst gesagt! Er wollte es auch früher schon, er hat es immer gewollt ... Ich habe es doch gesehen, in der Nacht ...“

„Nicht möglich!“ Weltschaninoff war so betroffen, daß er nicht wußte, was er denken sollte.

Und plötzlich begann Lisa, seine Hand zu küssen, sie weinte, das Weinen drohte sie fast zu ersticken, sie bat und flehte, aber er konnte aus ihrem wirren Gestammel nicht klug werden. Der flehende Blick jedoch – der Blick dieses vor Qual zitternden Kindes, blieb für immer in seinem Gedächtnis, er sah ihn im Traum und in wachem Zustande vor sich – diesen Kinderblick, mit dem sich ein ganzes Leben mit seinen letzten Hoffnungen an ihn klammerte.

„Sollte sie ihn wirklich, wirklich so lieben?“ fragte er sich nicht ohne Eifersucht und Neid, als er in fieberhafter Ungeduld nach der Stadt zurückfuhr.

„Sie sagte doch auf der Hinfahrt, daß sie die Mutter mehr liebe ... Vielleicht haßt sie ihn sogar und liebt ihn durchaus nicht! ...“

„Und was soll das heißen: er werde sich erhängen? Was sagte sie doch? Er, dieser Dummkopf, und sich aufhängen! Jedenfalls muß man dahinter kommen! Unbedingt! Ich muß zusehen, wie ich es anstellen kann, daß ich die Sache bald, so schnell als möglich und ein für allemal ins reine bringe!“

VII.
Der Gatte und der Liebhaber küssen sich.

Weltschaninoff fieberte fast vor Ungeduld. So sehr drängte es ihn, zu erfahren, was alles „dahintersteckte“.

„Am Morgen war ich ja zunächst wie betäubt, es kam alles viel zu überraschend für mich, ich hatte keine Zeit zum Nachdenken,“ sagte er sich, „jetzt aber muß ich sehen, wie ich mir vor allen Dingen Klarheit verschaffe.“ Und in seiner Ungeduld wollte er dem Kutscher schon befehlen, direkt zu Trussozkij zu fahren, besann sich jedoch sogleich und sagte sich vernünftigerweise: „Nein, es ist doch besser, er kommt zu mir! Ich aber werde versuchen, bis dahin noch meine verdammten Gänge zu erledigen.“

Und so tat er es denn auch: mit Hast und Eifer machte er sich daran, alles zu „erledigen“, was er an diesem Tage vorhatte. Doch fühlte er selbst, daß er sehr zerstreut war und gar nicht recht dazu ausgelegt, sich mit seinen Prozeßsachen zu befassen. Und als er sich, endlich, gegen fünf Uhr wie gewöhnlich ins Restaurant begab, um zu Mittag zu speisen, kam ihm, plötzlich und zum erstenmal, der Gedanke, daß er ja vielleicht wirklich den Verlauf seines Rechtsstreites nur aufhalte, indem er sich persönlich in die Angelegenheiten hineinmischte, Nachforschungen anstellte und seinen Rechtsanwalt nicht in Ruhe ließ, weshalb dieser sich bereits ein paarmal vor ihm hatte verleugnen lassen und ihm auch sonst schon aus dem Wege zu gehen begann. Doch statt sich über diese Beobachtung zu ärgern, lachte er nur vergnügt auf. „Wäre ich gestern darauf gekommen, so hätte es mich doch stark verdrossen!“ sagte er sich mit einem Lächeln. Im übrigen wuchs, trotz dieser scheinbar guten Laune, seine Zerstreutheit und Ungeduld mit jeder Minute. Schließlich versank er in Nachdenken. Nur kam er, obschon er wirklich nachdenken wollte, mit dem Denken nicht recht vom Fleck – es ging ihm gar zu vieles durch den Kopf.

„Ich muß mir diesen Menschen einfangen!“ sagte er sich, als er endlich so weit zur Einsicht gekommen war. „Ich muß ihm zuerst auf den Zahn fühlen und dann sehen, wie ich weiter vorgehen kann. Natürlich muß ich mich von vornherein auf ein Duell gefaßt machen!“

Gegen sieben Uhr kam er nach Haus, doch Pawel Pawlowitsch war noch nicht erschienen. Darüber war er nun höchlichst erstaunt, aber das Erstaunen verwandelte sich alsbald in Ärger, und diesem folgte mißmutige Niedergeschlagenheit. Endlich stiegen auch noch Befürchtungen auf:

„Gott weiß, Gott weiß, womit das noch enden wird!“ murmelte er vor sich hin, wie von Vorahnungen bedrückt, während er bald im Zimmer auf und ab schritt, bald sich auf dem Diwan ausstreckte und immer wieder nach der Uhr sah. Endlich, gegen neun Uhr, erschien Pawel Pawlowitsch. „Wenn dieser Mensch,“ sagte sich Weltschaninoff, „wenn dieser Mensch ein Schlaukopf wäre, so hätte er mich in keiner Weise besser zu Unvorsichtigkeiten meinerseits vorbereiten können, als durch dieses Wartenlassen – so zerstreut bin ich jetzt!“ Und plötzlich wurde er ganz munter, womit sich dann auch seine gute Laune wieder einstellte.

Auf seine scherzhaft lustige Frage, weshalb er denn so spät komme, hatte Pawel Pawlowitsch als Antwort nur ein halb höhnisches Lächeln, worauf er sich nachlässig – nicht so wie beim ersten Besuch – in einen der großen Sessel warf und seinen Hut mit dem Trauerflor auf den nächsten Stuhl schleuderte – gleichfalls mit einer gewissen verärgerten Nachlässigkeit. Weltschaninoff fiel dieses veränderte Gebaren sogleich auf und er merkte es sich.

Ruhig und ohne viel Worte zu machen, auch ohne die Erregung, in der er bei ihm am Vormittag gesprochen, erzählte Weltschaninoff, ganz als wolle er nur „Bericht erstatten“, wie er Lisa hingebracht und wie nett man sie aufgenommen hatte, wie gut ihr der Aufenthalt dort bekommen und wie sie ausleben werde. Ganz allmählich ging er dann – wie wenn er Lisa schon vergessen – auf Pogorjelzeffs über. D. h. er erzählte, was für reizende Menschen sie seien, wie lange er schon mit ihnen verkehre, was für ein guter und einflußreicher Mensch Pogorjelzeff sei usw., usw. Pawel Pawlowitsch hörte sichtlich zerstreut zu und begnügte sich damit, ihn hin und wieder mit einem Blick unter der Stirn hervor flüchtig zu streifen, während ein bestimmtes spitzbübisches Lächeln um seinen Mund spielte.

„Ein lebhafter Mensch sind Sie, das muß man sagen,“ brummte er schließlich in eigentümlichem Tone, und in seinem Lächeln lag dabei eine ganz besondere Gemeinheit.

„Sie scheinen ja heute recht boshaft zu sein,“ bemerkte Weltschaninoff ärgerlich.

„Weshalb sollte ich denn auch nicht boshaft sein, wenn alle anderen es sind?“ fragte Pawel Pawlowitsch schnell, ganz als springe er mit seiner Frage plötzlich hinter einer Ecke hervor – und als habe er nur auf diese gewartet, um aus dem Versteck hervorzuspringen.

„Ganz wie Sie wollen,“ entgegnete Weltschaninoff lächelnd. „Ich dachte schon, es sei Ihnen vielleicht was passiert.“

„Und es ist mir auch was passiert!“ versetzte jener, als wolle er damit prahlen, daß ihm etwas „passiert“ war.

„Was denn, wenn man fragen darf?“

Pawel Pawlowitsch zögerte ein wenig mit der Antwort.

„Ja, sehen Sie, unser Stepan Michailowitsch hat mir da wieder einen Streich gespielt ... Bagontoff, der eleganteste junge Mann der besten Petersburger Gesellschaft –“

„Sind Sie wieder abgewiesen worden?“

„Nein, gerade diesmal wurde ich eben nicht abgewiesen, ich wurde zum erstenmal vorgelassen und habe mir Bagontoffs Gesichtszüge ganz genau betrachten können ... freilich diesmal bereits diejenigen des Toten ...“

„Wa–as? Bagontoff ist tot?“ wunderte sich Weltschaninoff über alle Maßen, obschon, wie man meinen sollte, eigentlich kein natürlicher Grund zu einer solchen Verwunderung vorlag.

„Er und kein anderer! Unser teuerster Freund ist tot, er, der uns sechs Jahre lang treu gewesen ist! Schon gestern, fast um die Mittagszeit, ist er gestorben, und ich habe es nicht einmal gewußt! vielleicht bin ich gar zu derselben Zeit dort gewesen und habe mich nach seiner Gesundheit erkundigt! Morgen ist die Beerdigung, er liegt schon im Sarge. Der Sarg ist mit dunkelrotem Samt beschlagen, mit goldenen Quasten und Fransen. An einem Nervenfieber ist er gestorben. Ja, man ließ mich vor und ich sah ihn mir an, betrachtete die Züge, wie gesagt. Ich erklärte den Leuten, daß ich sein aufrichtiger Freund gewesen sei, deshalb ließ man mich, wie gesagt, vor. Was hat er mir da nun für einen Streich gespielt, dieser mein aufrichtiger, sechs Jahre lang treuer Freund, sagen Sie bloß! Ich bin ja doch vielleicht einzig seinetwegen hierher nach Petersburg gekommen! ...“

„Aber weshalb ärgern Sie sich denn über ihn?“ fiel ihm Weltschaninoff lachend ins Wort. „Er ist doch nicht absichtlich gestorben!“

„Ja aber – ich rede doch auch nur mit Bedauern! Er war doch mein teuerster Freund! – er hat doch das für mich bedeutet:“

Und Pawel Pawlowitsch hob plötzlich und ganz unvermutet beide Fäuste mit emporstehenden Zeigefingern an seine Schläfen, so daß die Finger wie Hörner über seinem kahlen Schädel standen, und dazu kicherte er leise und anhaltend. Und so, mit den Hörnern am Kopf und widerlich lachend, saß er wohl eine halbe Minute lang und blickte mit der boshaftesten, tückischsten Frechheit im Blick unbeweglich Weltschaninoff in die Augen. Dieser erstarrte förmlich, als sehe er ein Gespenst. Doch seine Starrheit dauerte nur einen Moment: im nächsten Augenblick erschien bereits ein spöttisches und geradezu beleidigend ruhiges Lächeln langsam, beleidigend langsam auf seinen Lippen.

„Was hat denn das zu bedeuten?“ fragte er nachlässig und in etwas gedehntem Tone.

„Das hat Hörner zu bedeuten!“ versetzte Pawel Pawlowitsch kurz und entfernte zugleich wieder die Hände von der Stirn.

„Das heißt ... Ihre Hörner?“

„Jawohl, meine eigenen, wohlerworbenen!“ Und Pawel Pawlowitsch verzog sein Gesicht zu einer halben Grimasse, die unglaublich gemein aussah.

Beide schwiegen.

„Sie sind ein mutiger Mensch!“ bemerkte endlich Weltschaninoff.

„Weil ich Ihnen meine Hörner gezeigt habe? Wissen Sie was, Alexei Iwanowitsch, es wäre besser, Sie bewirteten mich mit irgend etwas! Habe ich Sie doch in T. ein ganzes Jahr lang bewirtet, jeden Herrgottstag ... Schicken Sie mal nach einer Flasche, meine Kehle ist wie ausgetrocknet.“

„Mit Vergnügen. Sie hätten es sogleich sagen sollen. – Was wünschen Sie?“

„Was ‚Sie‘! Sagen Sie doch ‚wir‘! Wir werden doch zusammen trinken, oder etwa nicht?“ rief Pawel Pawlowitsch herausfordernd, während er zugleich doch mit einer gewissen und ganz eigentümlichen Unruhe dem anderen in die Augen sah.

„Champagner?“

„Was denn sonst? Beim Branntwein sind wir noch nicht angelangt ...“

Weltschaninoff erhob sich, ohne sich zu beeilen, klingelte und gab der Mawra, seiner zeitweiligen Aufwärterin, einige Anweisungen.

„Trinken wir zur Feier unseres frohen Wiedersehens nach neunjähriger Trennung!“ grinste ganz überflüssigerweise Pawel Pawlowitsch – der vermeintliche Scherz mißglückte ihm aber sehr. „Jetzt sind Sie, nur Sie allein mir noch als aufrichtiger Freund verblieben! Einen Stepan Michailowitsch Bagontoff gibt’s nicht mehr! Das ist ja, wie der Dichter sagt:

Patroklos, der große, ist tot.

Statt seiner lebt nur noch Thersites,

Der mehr als verächtliche ...“

Bei dem Namen Thersites stieß er sich mit dem Finger vor die eigene Brust.

„Wenn das Schwein sich doch schneller aussprechen würde, diese Anspielungen sind mir in den Tod verhaßt!“ dachte Weltschaninoff bei sich. Der Ärger kochte in ihm und schon lange konnte er sich nur noch mit Mühe beherrschen.

„Ich verstehe Sie nicht,“ begann er ärgerlich, „wenn Sie Stepan Michailowitsch (er nannte ihn jetzt nicht mehr einfach Bagontoff!) so überzeugtermaßen beschuldigen, so kann es Ihnen, dächte ich, nur zur Freude gereichen, daß Ihr Beleidiger gestorben ist. Weshalb also ärgern Sie sich noch?“

„Wieso zur Freude? Zu welch einer Freude denn?“

„Ich urteile nach Ihren Gefühlen.“

„Hehe, dann täuschen Sie sich sehr. Was meine Gefühle betrifft, so kann ich mit den Worten eines Weisen sagen: ‚Ein toter Feind ist gut, aber ein lebender ist besser!‘ Hehe!“

„Ja aber Sie haben doch den lebenden fünf Jahre lang jeden Tag zu betrachten Gelegenheit gehabt, – also Zeit genug, denke ich, um sich an ihm sattzusehen,“ bemerkte Weltschaninoff boshaft und unverschämt.

„Ja habe ich denn ... habe ich denn damals was gewußt?“ fuhr Pawel Pawlowitsch plötzlich auf, und es war wieder ganz so, als springe er plötzlich hinter einer Ecke hervor, sogar mit einer gewissen Freude darüber, daß man endlich die Frage gestellt, die er lange erwartet hatte. „Für wen halten Sie mich denn, Alexei Iwanowitsch?“

Und in seinem Blick blitzte plötzlich ein ganz neuer, noch nie gesehener Ausdruck auf, der sein bis dahin nur boshaftes und zu gemeinen Grimassen sich verzerrendes Gesicht gleichsam vollständig umgestaltete.

„Ja, haben Sie denn wirklich nichts gewußt!“ entfuhr es Weltschaninoff mit der größten und unverfälschtesten Bestürztheit.

„Wie, glauben Sie denn, ich hätte es gewußt? Wirklich gewußt?! O, ihr – unsere Vertreter Jupiters! Ihr stellt ja einen Menschen nicht höher als einen Hund und beurteilt jeden anderen nur nach der eigenen erbärmlichen Natur. Da haben Sie’s! Schlucken Sie es nur, das Kompliment!“ Und jähzornig schlug er mit der Faust auf den Tisch, erschrak aber im Moment selbst über seinen Faustschlag – und aus seinem Blick sprach sofort wieder Ängstlichkeit.

Weltschaninoff nahm eine strammere Haltung an.

„Hören Sie, Pawel Pawlowitsch, es kann mir doch entschieden ganz gleichgültig sein, das werden Sie mir wohl zugeben, ob Sie da was gewußt haben oder nicht. Wenn Sie nichts gewußt haben, so gereicht Ihnen das jedenfalls mehr zur Ehre, obschon ... übrigens, ich verstehe nicht, weshalb Sie gerade mich zu Ihrem Beichtvater erwählt haben? ...“

„Ich rede nicht von Ihnen ... ärgern Sie sich nicht ... nicht von Ihnen ...“ lenkte Pawel Pawlowitsch, den Blick zu Boden gesenkt, wieder ein.

Mawra erschien mit dem Champagner.

„Ah, da kommt die Flasche!“ rief Pawel Pawlowitsch, sichtlich erfreut über die Unterbrechung gerade im richtigen Augenblick. „Und die Gläser, Matuschka, die Gläser! Großartig! Weiter werden wir von Ihnen nichts verlangen, liebes Wesen. Und auch schon entkorkt? Sie sind ja eine Perle, liebes Kind! Nun, schon gut, Sie können gehen!“

Und mit neuem Mut blickte er Weltschaninoff wieder frech in die Augen.

„Aber gestehen Sie doch nur, hehe,“ begann er plötzlich, „daß Sie für alles das kolossales Interesse übrig haben und es Ihnen durchaus nicht so ‚entschieden ganz gleichgültig‘ ist, wie Sie sich soeben zu äußern beliebten, sondern daß Sie sogar aufrichtig betrübt wären, wenn ich im Augenblick aufstände und fortginge, ohne Ihnen was zu erklären!“

„Versichere Sie, es fiele mir nicht ein, betrübt zu sein.“

„Ei, wie du lügst!“ schien das Lächeln Pawel Pawlowitschs zu sagen.

„Nun, denn – trinken wir!“ Und er schenkte den Champagner ein. „Lassen Sie uns einen Toast ausbringen: trinken wir auf das Wohl des in Gott entschlafenen Freundes Stepan Michailowitsch!“

Er hob den Kelch und leerte ihn auf einen Zug.

„Auf ein solches Wohl werde ich nicht trinken.“ Weltschaninoff stellte sein Glas wieder hin.

„Warum denn nicht? Es ist doch ein nettes Toastchen.“

„Sagen Sie: als Sie hierher kamen, waren Sie da noch nicht betrunken?“

„Ich hatte ein wenig getrunken. Was ist denn?“

„Nichts Besonderes. Es schien mir nur, daß Sie gestern und namentlich heute morgen um die verstorbene Natalja Wassiljewna aufrichtig trauerten.“

„Aber wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich nicht auch jetzt aufrichtig um sie trauere?“ fuhr sogleich wieder Pawel Pawlowitsch auf, ganz als habe er innerlich eine Sprungfeder, an der ihn jemand gezupft habe.

„Das wollte ich damit nicht gesagt haben ... Aber Sie werden doch zugeben, daß Sie in bezug auf Stepan Michailowitsch in einem Irrtum befangen sein können, das aber – will viel besagen.“

„Wie gern Sie doch selbst erfahren würden, wie ich hinter das Geheimnis Stepan Michailowitschs gekommen bin!“

Weltschaninoff wurde rot.

„Ich wiederhole Ihnen, daß es mir entschieden ganz gleichgültig ist.“

„Oder sollte ich ihn nicht sogleich vor die Tür setzen, ihn einfach hinauswerfen samt seiner Flasche?“ fuhr es ihm durch den Kopf und er errötete noch mehr.

„Tut nichts!“ sagte da, wie um ihn zu ermuntern, Pawel Pawlowitsch und schenkte sich wieder ein.

„Ich werde Ihnen sogleich erklären, wie ich ‚alles‘ erfahren habe, und damit Ihren glühenden Wunsch erfüllen ... denn Sie sind wirklich ein glühender Mensch, Alexei Iwanowitsch, ein furchtbar heißblütiger Mensch! Hehe! Geben Sie mir nur ein Zigarettchen, denn seit dem März ...“

„Hier sind Zigaretten.“

„Ich bin nämlich ganz auf Abwege geraten seit dem März, Alexei Iwanowitsch, und das ist, wie gesagt, eine sehr eigentümliche Krankheit. In der Regel stirbt der Kranke, ohne es vorher auch nur zu ahnen, daß es mit ihm zu Ende geht. Ich sagte Ihnen ja: noch fünf Stunden vor dem Tode erklärte die selige Natalja Wassiljewna, daß sie in zwei Wochen zu ihrer Tante fahren werde, deren Gut vierzig Werst von der Stadt entfernt liegt. Außerdem wird Ihnen wohl nicht unbekannt sein, daß viele Damen, vielleicht aber auch Herren, die Angewohnheit oder die Manie haben, allen möglichen alten Plunder von ihrer Liebeskorrespondenz aufzubewahren ... Am vernünftigsten wäre es doch, so etwas in den Ofen zu werfen, nicht wahr? Aber nein, jedes Papierfetzchen wird von ihnen in Kästchen und Schiebfächern aufbewahrt, ja oft sind sie sogar numeriert nach Jahr und Datum und nach den Absendern sortiert. Wozu das alles, ob es ihnen nun einen Trost gewährt oder was sonst – das weiß ich nicht; aber wahrscheinlich, na, so zur angenehmen Erinnerung. Da nun Natalja Wassiljewna noch fünf Stunden, wie gesagt, vor ihrem Ende die Tante zu besuchen beabsichtigte, dachte sie natürlich nicht an den Tod, nicht einmal in der letzten Stunde, und erwartete immer noch mit Ungeduld den Doktor Koch. So kam es denn, daß sie starb, ihre kleine Schatulle aber – ein Kästchen aus Ebenholz mit kunstvoller Einlegearbeit in Perlmutter und Silber – die blieb in ihrem Schreibtisch. So’n nettes kleines Kästchen mit einem Schlüsselchen davor, ein Familienerbstück, von der Großmutter hatte sie es. Nun, und aus diesem Kästchen kamen dann all die Geheimnisse an den Tag, das heißt nämlich – alles, ohne jede Ausnahme, Tag für Tag und Jahr für Jahr, während des ganzen zwanzigjährigen Ehelebens. Da aber Stepan Michailowitsch eine ausgesprochene Neigung zur Literatur besessen, einmal sogar eine Novelle von höchst leidenschaftlichem Kolorit an eine Zeitschrift gesandt hat, nun, so ist es erklärlich, wenn ich sage, daß die Zahl seiner Schriftstücke in der Schatulle nahe an Hundert reichte – allerdings hatte er sie im Laufe von ganzen fünf Jahren geschrieben. Einige Nummern waren noch mit eigenhändigen Randbemerkungen von Natalja Wassiljewna versehen. Eine angenehme Entdeckung das, für den Gatten, was meinen Sie?“

Weltschaninoff überlegte im Augenblick und erinnerte sich genau, daß er niemals weder einen Brief noch einen Zettel heimlich an Natalja Wassiljewna geschrieben hatte. Aus Petersburg freilich hatte er zwei Briefe geschrieben, doch waren die an sie beide gerichtet gewesen, wie es vorher zwischen ihm und ihr verabredet worden war. Auf den letzten Brief Natalja Wassiljewnas, in dem sie ihm den Abschied erteilte, hatte er überhaupt nichts mehr geantwortet.

Als Pawel Pawlowitsch seine Erzählung beendet hatte, schwieg er eine ganze Weile und beobachtete den anderen nur mit einem aufdringlichen, spöttisch provozierenden Lächeln.

„Warum antworten Sie mir denn nichts auf meine kleine Frage?“ sagte er endlich.

„Auf welch eine kleine Frage?“

„Nun doch: bezüglich der angenehmen Gefühle des Gatten, der die Schatulle öffnet.“

„Oh, was geht das mich an!“ Weltschaninoff machte erbost eine gereizte Handbewegung, stand auf und begann im Zimmer hin- und herzugehen.

„Ich könnte wetten, daß Sie jetzt denken: ‚Bist doch ein Schwein, wenn du selbst auf deine Hörner weist!‘ hehe! Nichts ist leichter als ... Sie anzuekeln.“

„Es fällt mir nicht ein, das zu denken, was Sie mir da unterschieben wollen. Im Gegenteil, ich sage mir, daß der Tod Ihres Beleidigers Sie gar zu sehr geärgert hat, und außerdem haben Sie mehr als nötig getrunken. Doch sehe ich in alledem nichts Außergewöhnliches. Ich begreife auch sehr gut, wozu Sie des lebenden Bagontoff bedürfen und bin gern bereit, Ihren Ärger zu achten, aber ...“

„Und wozu würde ich wohl des lebenden Bagontoff bedürfen, Ihrer Meinung nach?“

„Das ist Ihre Sache.“

„Ich wette, daß Sie dabei an ein Duell denken!“

„Zum Teufel!“ Weltschaninoffs Selbstbeherrschung begann merklich nachzulassen. „Ich dachte eben, daß Sie, wie jeder anständige Mensch ... in ähnlichen Fällen sich nicht zu albernem Geschwätz erniedrigen würden, zu dummen Verstellungen, zu lächerlichen Klagen und gemeinen Anspielungen, mit denen ein jeder nur sich selbst noch mehr beschmutzt, sondern daß Sie offen und ehrlich handeln wollten – eben wie ein anständiger Mensch!“

„Hehe, aber vielleicht bin ich gar kein anständiger Mensch?“

„Das ist wiederum Ihre Sache ... Doch übrigens, zu welcher Teufelei hätten Sie denn sonst des lebenden Beleidigers bedurft?“

„Na, so ... wenn auch nur, um den lieben Hausfreund mal zu betrachten. Wir würden dann eben ein Fläschchen nehmen und es gemütlich austrinken.“

„Er hätte mit Ihnen doch nicht getrunken!“

„Warum nicht? Noblesse oblige! Trinken doch auch Sie mit mir; inwiefern sollte er besser sein als Sie?“

„Ich habe mit Ihnen nicht getrunken.“

„Weshalb denn plötzlich dieser Stolz?“

Weltschaninoff lachte nervös und gereizt auf.

„Pfui Teufel! Sie sind ja entschieden ein Raubtier-Typ! Und ich dachte, Sie seien nur ein – ewiger Gatte, und nichts weiter!“

„Wie das – ewiger Gatte, was bedeutet das?“ griff Pawel Pawlowitsch die Ohren spitzend sogleich das Wort auf.

„So – ich meine, meine so einen besonderen Typ Ehemänner ... es ist eine zu lange Geschichte, um sie zu erzählen. Packen Sie sich jetzt lieber, es ist Zeit für Sie ... außerdem: Sie werden langweilig und fallen für die Dauer auf die Nerven.“

„Und was bedeutet Raubtier-Typ? Sie sagten soeben ...“

„Wenn ich sagte, daß Sie ein Raubtier-Typ seien, na, so tat ich es, um mich über Sie lustig zu machen.“

„Aber was ist das für ein Raubtier-Typ? Erklären Sie es mir, Alexei Iwanowitsch, ich bitte Sie, um Gottes willen, um Christi willen!“

„Nun ... ach, nun, genug!“ ärgerte sich plötzlich Weltschaninoff ganz furchtbar. „Es ist Zeit für Sie, machen Sie, daß Sie fortkommen! Genug!“

„Nein, es ist noch nicht genug!“ Pawel Pawlowitsch erhob sich schnell. „Und selbst wenn ich Sie langweile, auch dann ist es noch nicht genug: denn vorher müssen wir beide noch anstoßen und zusammen trinken! Also trinken wir, dann gehe ich, aber jetzt ist es noch nicht genug!“

„Pawel Pawlowitsch, können Sie sich heute zum Teufel scheren oder nicht?“

„Ich kann und werde mich zum Teufel scheren, doch vorher werden wir noch trinken. Sie sagten, daß Sie gerade mit mir nicht trinken wollten; nun, ich aber will es, daß Sie gerade mit mir trinken!“

Er schnitt jetzt nicht mehr Gesichter, er lächelte und kicherte auch nicht mehr. Alles an ihm hatte sich plötzlich wieder vollkommen verwandelt und war so entgegengesetzt der ganzen Erscheinung und dem ganzen Tone jenes Pawel Pawlowitsch, der noch vor ein paar Augenblicken dort gestanden hatte, daß Weltschaninoff ihn ganz befremdet ansah und wirklich stutzig wurde.

„Ei, trinken wir, Alexei Iwanowitsch, Sie weigern sich nicht!“ fuhr Pawel Pawlowitsch in diesem an ihm ganz neuen Tone fort – und plötzlich packte er Weltschaninoff am Handgelenk und sah ihn eigentümlich an.

Offenbar handelte es sich für ihn hier nicht allein um das Trinken.

„Ja, nun, meinetwegen ...“ brummte Weltschaninoff. „Wo sind denn ... Aber da ist ja nur noch ein Bodensatz ...“

„Es reicht noch genau für zwei Gläser ... allerdings Bodensatz, aber wir werden trinken und anstoßen! Hier, bitte, nehmen Sie gefälligst Ihr Glas.“

Sie stießen an und tranken.

„Nun, und jetzt, und jetzt ... Ach!“

Pawel Pawlowitsch faßte sich plötzlich mit der Hand an die Stirn und verblieb mehrere Sekunden lang in dieser Stellung. Weltschaninoff glaubte schon, er werde im nächsten Augenblick ... werde sogleich das letzte noch unausgesprochene Wort aussprechen. Doch siehe da: Pawel Pawlowitsch sprach es nicht aus – er sah Weltschaninoff nur an, und dann verzog sich sein Mund lautlos wieder zu jenem breiten, verschmitzten, gleichsam zuzwinkernden Lächeln, das so maßlos arglistig war und so widerlich sein konnte.

„Was wollen Sie von mir, Sie besoffener Kerl! Sie wollen mich wohl zum Narren haben?“ schrie ihn Weltschaninoff plötzlich zornbebend an.

„Schreien Sie nicht, schreien Sie nicht, wozu dies Geschrei?“ suchte ihn Pawel Pawlowitsch schnell zu beschwichtigen. „Ich halte Sie nicht zum Narren, wirklich nicht! Wissen Sie auch, was Sie mir jetzt geworden sind – Sie! – sehen Sie!“

Und schon hatte er seine Hand erfaßt und geküßt – Weltschaninoff war kaum zur Besinnung gekommen.

„Sehen Sie, das sind Sie mir jetzt! So – und jetzt packe ich mich zu allen Teufeln!“

„Warten Sie, warten Sie!“ hielt ihn Weltschaninoff noch zurück. „Ich vergaß ganz, Ihnen zu sagen ...“

Pawel Pawlowitsch trat von der Tür wieder ein paar Schritte ins Zimmer.

„Sehen Sie,“ begann Weltschaninoff schnell und geschäftig, indem er jedoch unwillkürlich errötete und sich fast ganz von ihm abwandte, „Sie müssen morgen unbedingt zu Porgojelzeffs fahren ... um ihnen Ihre Aufwartung zu machen und Ihren Dank auszusprechen. Sie müssen unbedingt ...“

„O, unbedingt, unbedingt, wie denn sonst, das ist doch selbstverständlich!“ pflichtete Pawel Pawlowitsch sogleich mit der größten Bereitwilligkeit bei, und er machte eine Handbewegung, die ungefähr sagen sollte, daß es ganz überflüssig sei, ihn noch daran zu erinnern.

„Und außerdem werden Sie auch von Lisa sehnsüchtig erwartet. Ich versprach ...“

„Lisa ...!“ Pawel Pawlowitsch kehrte nochmals von der Tür zurück. „Lisa? Wissen Sie auch, was Lisa mir war, war und ist? War und ist!“ stieß er plötzlich wie außer sich hervor. „Doch ... He! Davon später, alles später ... Jetzt genügt mir das nicht mehr, daß Sie mit mir getrunken haben, Alexei Iwanowitsch, ich bedarf jetzt einer anderen Genugtuung ...“

Er legte seinen Hut auf den Stuhl und sah ihn wie vorhin mit verhaltenem Atem an.

„Küssen Sie mich, Alexei Iwanowitsch,“ sagte er plötzlich.

„Betrunken sind Sie!“ rief Weltschaninoff, unwillkürlich einen Schritt zurücktretend.

„Ich bin betrunken, aber küssen Sie mich trotzdem, Alexei Iwanowitsch. Nun, küssen Sie mich! Habe ich Ihnen doch soeben noch die Hand geküßt!“

Weltschaninoff schwieg eine Weile, und wußte nicht, was er sagen, noch denken sollte. Doch plötzlich beugte er sich zu Pawel Pawlowitsch herab, der ihm fast nur bis an die Schulter reichte, und küßte ihn auf den Mund, von dem ein starker Weinduft ausging. Übrigens war er selbst nicht ganz sicher, ob er die Lippen wirklich berührt hatte.

„Nun, jetzt aber, jetzt ...“ rief in betrunkener Ekstase Pawel Pawlowitsch und in seinen stieren Augen blitzte es auf, „jetzt hören Sie! Ich fragte mich damals: ‚Sollte auch er? ... Wenn auch er,‘ dachte ich, ‚wenn auch er, wem kann man dann überhaupt noch trauen!‘“

Und Pawel Pawlowitsch brach plötzlich in Tränen aus.

„Begreifen Sie nun, was für ein Freund Sie mir damit geblieben sind?! ...“

Und damit griff er nach seinem Hut und lief aus dem Zimmer.

Weltschaninoff stand wieder minutenlang auf einem Fleck mitten im Zimmer, ganz wie nach dem ersten Besuch Pawel Pawlowitschs.

„Eh, ein betrunkener Narr ist er und nichts weiter!“ sagte er sich endlich ärgerlich.

„Entschieden nichts weiter!“ bekräftigte er nochmals energisch, nachdem er sich bereits entkleidet hatte, während er sich auf seinem Schlafdiwan ausstreckte.

VIII.
Lisas Krankheit.

Am nächsten Morgen wartete Weltschaninoff in eigentümlicher Stimmung auf Pawel Pawlowitsch, der ihm noch ausdrücklich versprochen hatte, rechtzeitig bei ihm vorzusprechen, um sich mit ihm zu Pogorjelzeffs zu begeben. Weltschaninoff ging im Zimmer auf und ab, trank dazwischen schluckweise seinen Kaffee, rauchte und gestand sich jeden Augenblick, daß er einem Menschen gleiche, der am Morgen erwacht ist und nun immerwährend daran denken muß, daß er am Abend vorher eine Ohrfeige erhalten hat.

„Hm! ... er begreift nur zu gut, um was es sich dabei handelt, und wird sich durch Lisa an mir rächen!“ dachte er fast angstvoll.

Der ganze rührende Eindruck, den das bleiche traurige Kind auf ihn gemacht hatte, erwachte wieder in ihm und sein Herz begann schneller zu schlagen bei dem Gedanken, daß er heute noch, schon bald, schon nach zwei Stunden seine Lisa wiedersehen werde.

„Ach, wozu da viel Worte verlieren!“ meinte er plötzlich und schlug sich energisch die Sorgen aus dem Kopf. „Jetzt ist das mein Lebensinhalt, mein Ziel! Was sind dagegen all die Ohrfeigen und Erinnerungen, was gehen die mich an! ... Wozu habe ich bisher überhaupt gelebt? Was war mein ganzes Leben? Unordnung und Trübsal ... jetzt aber – wird alles anders werden, alles ganz anders!“

Trotz seiner gehobenen Stimmung kamen aber doch immer wieder trübe, bange Gedanken, die ihm Sorgen machten.

„Er will mich mit Lisa quälen – das ist klar! Er wird mich noch krank machen! Und Lisa gleichfalls. Ja, das ist es, auf diese Weise will er mir dann alles heimzahlen. Hm! ... jedenfalls darf ich ihm solche Ausfälle wie gestern abend nicht wieder erlauben,“ sagte er sich plötzlich und errötete bei dem Gedanken an den Abend, „und ... aber was ist denn das, er kommt ja noch immer nicht und die Uhr geht schon auf zwölf!“

Er wartete und wartete – wartete bis halb eins, und seine Stimmung wurde immer gedrückter. Pawel Pawlowitsch erschien nicht. Schließlich sagte er sich – dieser Gedanke hatte sich übrigens schon ein paarmal in ihm zu regen begonnen, – daß er gewiß absichtlich nicht kommen werde, und zwar einzig deshalb nicht, um ihn, ganz wie gestern, nochmals „zum Narren“ zu halten. Das aber brachte ihn dann endgültig auf.

„Er weiß, daß ich von ihm abhängig bin! Aber was wird jetzt mit Lisa geschehen? Wie kann ich ohne ihn hinfahren?“

Um ein Uhr hielt er das Warten nicht mehr aus und fuhr zu Pawel Pawlowitsch. Dort erfuhr er, daß dieser überhaupt nicht in seiner Wohnung geschlafen habe und erst um neun Uhr morgens auf ein Viertelstündchen nach Haus gekommen sei – um dann wieder fortzugehen, ohne zu sagen, wohin. Weltschaninoff stand vor des Abwesenden Zimmer, während die Stubenmagd ihm das alles erzählte, und bewegte ganz gedankenlos die Klinke der verschlossenen Tür, drückte, zog und rüttelte an ihr – alles ganz mechanisch. Plötzlich kam er aus seiner Gedankenversunkenheit zu sich, unterdrückte einen Fluch, ließ die Klinke fahren und bat, ihn zu Marja Ssyssojewna zu führen. Doch diese hatte ihn schon gehört und kam ihm selbst entgegen.

Marja Ssyssojewna war ein gutmütiges Frauenzimmer, „ein Weib mit vernünftigen Anschauungen“, wie sich Weltschaninoff zu Klawdia Petrowna über sie äußerte. Sie fragte zuerst, wie er denn das „Mädchen hingebracht“ habe, begann dann aber sogleich und ganz unaufgefordert von Pawel Pawlowitsch zu erzählen. Nach ihren Worten hätte sie ihn „schon längst vor die Tür gesetzt“, wenn nicht das Mädchen bei ihm gewesen wäre. „Ist er doch auch aus dem Gasthof deshalb hinausgejagt worden, weil er es dort gar zu unanständig getrieben hat. Nu, ist es denn nicht eine wahre Schande, wenn er nachts ein liederliches Frauenzimmer mitbringt, während das Kindchen doch schon was begreifen kann! Und dabei schreit er noch: ‚Sieh, das hier wird deine Mutter sein, wenn ich es will!‘ Und was glauben Sie, er trieb es doch so, daß selbst diese Person, was sie da auch ist, ihm ins Gesicht spie. Und der Kleinen schreit er zu: ‚Du bist nicht meine Tochter, bild’ du dir nur das nicht ein! Ein ... bist du!‘“

Weltschaninoff fuhr zusammen bei diesem gemeinen Wort.

„Nicht möglich!“ stieß er ganz entsetzt hervor.

„Ich habe es selbst gehört. Er war ja wohl betrunken, als er das sagte, also nicht bei klarem Bewußtsein, aber immerhin ist das doch nichts für Kinderchen: wenn auch das Mädchen noch klein ist, begreifen tut es doch schon was, und es behält doch solche Wörter und denkt darüber nach und macht sich seine eigenen Gedanken! Und immer weinte das Mädchen, ganz krank hatte er es gemacht. Und vor ein paar Tagen noch, da war hier im Hause ein Verbrechen geschehen: ein Kommissar, oder was da die Leute sagten, hatte im Gasthof am Abend ein Zimmer genommen und gegen Morgen sich dann erhängt. Er soll fremdes Geld durchgebracht haben, heißt es. Nu, alles lief natürlich hin! Pawel Pawlowitsch war wieder nicht zu Hause und das Kindchen hatte er ohne Aufsicht zurückgelassen. Da sehe ich: auch das Mädchen steht dort unter all den Leuten im Korridor und guckt auch auf den Erhängten – so, wissen Sie, mit solchen Augen! Ich brachte sie schnell von dort fort, hierher zu mir. Aber was glauben Sie wohl, sie zitterte wie’n Espenblatt, ganz blau war sie im Gesicht, und kaum hatte ich sie wieder hier, da fiel sie auch schon hin und lag in Krämpfen. Ich hatte zu tun, daß sie wieder zu sich kam! Gott weiß, was das nu war – Fallsucht oder Kinderkrämpfchen oder was – aber seit der Zeit fing sie an zu kränkeln. Als er es dann erfuhr, am Abend, nachdem er zurückgekommen, da begann er von neuem, sie zu kneifen – denn er schlug sie ja nicht, er kniff gewöhnlich nur, – darauf soff er sich natürlich wieder voll, am selben Abend noch, kam wieder zurück, na, und da ging’s dann los mit dem Bangemachen: ‚Ich werde mich ebenso aufknüpfen, deinetwegen werde ich mich aufhängen,‘ sagte er, ‚an dieser selben Schnur‘ – dort, die vom Rouleau, sagt’ er, an dieser Schnur werde er sich aushängen. Und er machte sogar die Schlinge fertig, alles vor ihren Augen! Und die zittert sowieso schon, daß Gott erbarm’, und weiß nicht, wo sie sich lassen soll – schreit und weint und klammert sich mit ihren Ärmchen an ihn und jammert nur noch: ‚Ich werde nicht, ich werde nicht!‘ Daß Gott erbarm’!“

Weltschaninoff hatte sich zwar auf manches Seltsame gefaßt gemacht, diese Mitteilungen aber machten ihn so betroffen, daß er seinen Ohren nicht trauen wollte. Marja Ssyssojewna erzählte ihm noch vieles andere. Einmal zum Beispiel hätte sich Lisa „um ein Haar“ aus dem Fenster gestürzt, wenn sie, Marja Ssyssojewna, nicht dazwischen gekommen wäre.

Fast wie ein Betrunkener verließ er ihr Zimmer: „Ich werde ihn totschlagen, mit einem Knüppel totschlagen, wie einen Hund!“ fuhr es ihm durch den Kopf und lange noch wiederholte er in Gedanken diese Worte, als könnten sie ihn beruhigen.

Er nahm einen Wagen und fuhr zu Pogorjelzeffs. Doch noch war er aus der Stadt nicht hinausgefahren, als der Wagen plötzlich an einer Straßenkreuzung bei einer Kanalbrücke, über die sich ein langer Leichenzug bewegte, halten mußte. An beiden Enden der Brücke wurde der Verkehr dadurch aufgehalten und die Zahl der wartenden Gefährte wuchs mit jedem Augenblick. Fußgänger blieben schaulustig stehen und drängten sich näher. Es war ein vornehmes Begräbnis und die Reihe der nachfolgenden Equipagen daher sehr lang. Und plötzlich war es Weltschaninoff, als habe er in einem der Kutschenfenster das Gesicht Pawel Pawlowitschs erblickt. Einen Moment hielt er es für eine Täuschung, und er hätte seinen Augen auch wohl nicht getraut, – wenn nicht Pawel Pawlowitsch selbst seinen Kopf zum Fenster hinausgesteckt und ihm lächelnd zugenickt hätte. Offenbar war er riesig froh darüber, daß er Weltschaninoff erblickt und erkannt hatte, ja, er winkte ihm zum Gruß sogar mit der Hand. Weltschaninoff sprang aus dem Wagen und drängte sich trotz der Menge, der Schutzleute und ungeachtet dessen, daß Pawel Pawlowitschs Equipage bereits auf die Brücke fuhr, an den Wagenschlag heran. Pawel Pawlowitsch saß allein in seiner Kutsche.

„Was fällt Ihnen ein!“ schrie Weltschaninoff, „weshalb sind Sie nicht gekommen? Wie kommen Sie hierher?“

„Ich erweise dem Toten die letzte Ehre – schreien Sie nicht, schreien Sie nicht – ich muß meine Schuld tilgen!“ erwiderte Pawel Pawlowitsch kichernd und mit vergnügtem Zwinkern. „Ich geleite die irdischen Überreste meines aufrichtigen Freundes Stepan Michailowitsch!“

„Blödsinn! Betrunken sind Sie, verrückt!“ schrie Weltschaninoff, der im ersten Augenblick etwas gestutzt hatte. „Sie steigen sofort aus und setzen sich in meinen Wagen, sofort!“

„Ich kann nicht, meine Pflicht ...“

„Ich ziehe Sie am Kragen heraus und schleppe Sie hin!“ schrie Weltschaninoff.

„Aber ich werde schreien, ich werde schreien!“ kicherte mit derselben Vergnügtheit Pawel Pawlowitsch, ganz als scherze man nur mit ihm, zog sich jedoch in den fernsten Winkel der Kutsche zurück ...

„Achtung! Heda! Aufgepaßt!“ rief der Schutzmann.

In der Tat hatte, als der Wagen von der Brücke herabfuhr, eine fremde Kutsche die Reihe des Leichenzuges durchbrochen, was eine große Verwirrung und ein noch gefährlicheres Gedränge hervorrief. Weltschaninoff war gezwungen, zur Seite zu springen, und andere Kutschen und die Volksmenge drängten ihn noch weiter fort. Vor Ärger spie er aus und kehrte zu seinem Wagen zurück.

„Gleichviel, in diesem Zustande hätte man ihn doch nicht hinbringen können!“ suchte er sich zu beruhigen, aber er wurde trotzdem eine gewisse erregende Verwunderung nicht los.

Als er Klawdia Petrowna die Mitteilungen Marja Ssyssojewnas wiedergegeben und von der Begegnung unterwegs erzählt hatte, wurde sie sehr nachdenklich.

„Ich muß gestehen, daß ich für Sie fürchte,“ sagte sie, „Sie müssen jede Beziehung zu ihm abbrechen, je früher, um so besser.“

„Ein betrunkener Narr ist er und nichts weiter!“ rief Weltschaninoff heftig. „Das fehlte noch, daß ich den zu fürchten beginne! Und wie soll ich denn die Beziehungen zu ihm abbrechen – Sie vergessen Lisa! Denken Sie doch an Lisa!“

Und nun hörte er erst, daß Lisa ernstlich erkrankt sei. Seit dem Abend war das Fieber bedeutend gestiegen und man erwartete mit Ungeduld einen hervorragenden Arzt aus der Stadt, nach dem man schon in aller Frühe geschickt hatte. Diese Nachrichten gaben Weltschaninoff natürlich noch den Rest! Klawdia Petrowna führte ihn zur Kranken.

„Ich habe sie gestern aufmerksam beobachtet,“ sagte sie zu ihm, bevor sie ins Krankenzimmer traten. „Sie ist ein stolzes und düsteres Kind; sie schämt sich, daß sie bei uns ist und daß der Vater sie verlassen hat. Es ist das, meiner Meinung nach, die ganze Ursache ihrer Krankheit.“

„Wieso verlassen? Weshalb glauben Sie, daß er sie verlassen habe?“

„Nun schon – ich meine die Tatsache, daß er sie so ohne weiteres in ein fremdes Haus hat bringen lassen und noch dazu von einem Menschen ... der doch fast fremd ist – oder wenigstens ...“

„Aber ich habe sie ihm doch selbst fortgenommen, einfach mit Gewalt fortgenommen! Ich finde nicht, daß ...“

„Ach, mein Gott, aber Lisa, das Kind, findet es! Und von ihm – nun, von ihm glaube ich, daß er überhaupt nicht kommen wird.“

Lisa war durchaus nicht erstaunt, als sie Weltschaninoff ohne den Vater erblickte. Sie lächelte nur traurig und wandte ihr fieberglühendes Gesichtchen zur Wand. Auf die fast schüchternen Trostversuche Weltschaninoffs und auf seine eifrigen Versicherungen, daß er morgen unter allen Umständen den Vater zu ihr bringen werde, antwortete sie nichts. Als er sie endlich verließ und die Tür des Krankenzimmers hinter sich schloß, brach er plötzlich in Tränen aus.

Der Arzt kam erst gegen Abend. Nachdem er die Kleine untersucht hatte, äußerte er sich zum Schrecken aller dahin, daß da wohl überhaupt nichts mehr zu machen sei. Als man ihm sagte, daß die Kleine erst am Abend vorher erkrankt sei, wollte er es zunächst gar nicht glauben.

„Alles hängt jetzt nur davon ab,“ meinte er schließlich, „wie sie diese Nacht überstehen wird.“ Darauf traf er noch seine Anordnungen und verabschiedete sich, mit dem Versprechen, am nächsten Morgen möglichst früh wiederzukommen. Weltschaninoff wollte unbedingt zur Nacht bei ihnen bleiben, doch Klawdia Petrowna bat ihn, noch einmal den Versuch zu machen, „diesen Unmenschen“ dazu zu bewegen, zu seiner kranken Tochter zu kommen.

„Noch einmal?“ stöhnte Weltschaninoff. „Ja!! Ich werde ihn binden, ich werde ihn knebeln, und wenn ich ihn auch auf meinen Armen herschleppen müßte –!“

Der Gedanke, Pawel Pawlowitsch „zu binden und zu knebeln“ und mit Gewalt zu Pogorjelzeffs zu bringen, bemächtigte sich seiner in dem Maße, daß er vor Ungeduld, es buchstäblich so auszuführen, ganz nervös wurde.

„In nichts, in nichts fühle ich mich jetzt noch ihm gegenüber schuldig!“ sagte er beim Abschied zu Klawdia Iwanowna. „Ich leugne alles, was ich da gestern an Sentimentalitäten gesagt habe,“ fügte er im größten Unwillen über sich selbst hinzu.

Lisa lag mit geschlossenen Augen im Bettchen und schien zu schlafen. Es war möglich, daß eine Besserung eintrat. Als Weltschaninoff sich behutsam zu ihr niederbeugte, um zum Abschied wenigstens die Spitzen ihrer blonden Haare zu küssen, schlug sie plötzlich die Augen auf, als habe sie nur auf ihn gewartet, und flüsterte:

„Bringen Sie mich fort!“

Es war eine stille, traurige Bitte, ohne jede Spur von dem früheren Eigensinn und Trotz, doch gleichzeitig klang aus ihr eine unendliche Hoffnungslosigkeit, als wisse sie selbst, daß man ihre Bitte unter keiner Bedingung erfüllen werde. Und kaum begann Weltschaninoff, dem die Verzweiflung die Kehle zuschnürte, alles zu erklären, mit dem trostlosen Versuch, sie davon zu überzeugen, daß es jetzt wirklich nicht möglich sei, da schloß sie ganz still wieder die Augen und sagte kein Wort weiter, als höre sie nichts und als habe sie nichts gewollt.

Als Weltschaninoff in die Stadt zurückgekehrt war, ließ er sich sogleich zum Gasthof in der Nähe der Kirche zu Mariä Schutz und Fürbitte fahren. Es war bereits zehn Uhr. Pawel Pawlowitsch war aber noch nicht zurückgekehrt. Weltschaninoff wartete auf ihn eine halbe Stunde, die er damit zubrachte, daß er in krankhafter Ungeduld im Korridor auf- und abging. Marja Ssyssojewna versicherte ihm zu guter Letzt, daß Pawel Pawlowitsch erst am Morgen, frühestens bei Tagesanbruch, zurückkehren werde.

„Nun gut, dann werde auch ich bei Tagesanbruch wieder hier sein!“ entschied Weltschaninoff und begab sich in größter Erregung nach Hause.

Wie groß aber war sein Erstaunen, als er, noch bevor er seine Wohnung betreten hatte, von Mawra erfuhr, daß der „gestrige Gast“ bereits seit zehn Uhr auf ihn warte.

„Auch Tee hat der Herr oben getrunken und auch nach Wein hat er geschickt, nach demselben, den ich gestern brachte. Einen Fünfrubelschein gab er mir.“

IX.
Das Gespenst.

Pawel Pawlowitsch hatte es sich äußerst bequem gemacht. Er saß im Lehnstuhl, rauchte Zigaretten und hatte sich gerade das vierte und letzte Glas aus der Flasche eingeschenkt. Die Teekanne und das nur halbvolle Teeglas standen neben ihm auf dem Tisch. Sein gerötetes Gesicht leuchtete vor Gutmütigkeit. Er hatte sogar seinen Frack abgelegt und saß ganz sommerlich in Hemdsärmeln.

„Verzeihen Sie, teuerster Freund!“ rief er aus, als er Weltschaninoff erblickte, und er sprang sogleich auf, um den Frack wieder anzuziehen. „Ich zog ihn aus zwecks größtmöglichster Genußfähigkeit – wollte die Situation hier ganz auskosten –“

Weltschaninoff trat drohend auf ihn zu. „Sind Sie ganz betrunken? Oder kann man mit Ihnen noch reden?“

Pawel Pawlowitsch schien etwas bange zu werden.

„Nein, noch nicht ganz ... Ich gedachte des Entschlafenen ... aber noch nicht ganz ...“

„Werden Sie mich verstehen?“

„Zu dem Zweck bin ich ja hergekommen, um Sie zu verstehen.“

„Schön, dann beginne ich ohne weiteres damit, daß ich Ihnen sage, was Sie sind: – eine nichtswürdige Canaille sind Sie!“ schrie ihn Weltschaninoff mit zornbebender Stimme an.

„Wenn Sie damit schon beginnen, womit werden Sie dann enden?“ versetzte Pawel Pawlowitsch, der doch recht eingeschüchtert aussah, mit dem leisen Versuch zu protestieren. Weltschaninoff aber schrie weiter, ohne auf ihn zu hören:

„Ihre Tochter liegt im Sterben, sie ist krank, – haben Sie sie bereits verlassen oder wollen Sie sie erst noch verlassen?“

„Stirbt sie wirklich schon?“

„Sie ist krank, schwer krank, sehr gefährlich krank!“

„Vielleicht nur so Anfälle ...“

„Reden Sie keinen Unsinn! Sie ist ü–ber–aus gefährlich krank! Allein schon deshalb hätten Sie hinfahren müssen, um ...“

„Um meinen Dank auszusprechen, ich verstehe, um für die freundliche Aufnahme meinen Dank auszusprechen. Ich verstehe sehr wohl. Alexei Iwanowitsch, bester, teuerster!“ flehte er ihn plötzlich an und ergriff mit beiden Händen Weltschaninoffs Hand, um ihn dann fast unter Tränen und in trunkener Gerührtheit, wie um Verzeihung bittend, zu beschwören: „Alexei Iwanowitsch, schreien Sie nicht, schreien Sie nicht, Alexei Iwanowitsch! Wenn ich sterbe, wenn ich jetzt gleich, betrunken wie ich bin, in die Newa falle und ertrinke – dann könnte ich’s doch auch nicht tun, also was will denn das besagen? Zu Herrn Pogorjelzeff werden wir ja immer noch zeitig genug kommen ...“

Weltschaninoff horchte auf und nahm sich ein wenig zusammen.

„Sie sind betrunken, ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen,“ versetzte er streng. „Ich bin jederzeit bereit, mich mit Ihnen auszusprechen, es wäre mir sogar lieber, wenn es schneller geschehe ... Ich fuhr auch in dieser Absicht ... Doch vor allen Dingen lassen Sie es sich gesagt sein, daß ich jetzt Maßregeln ergreifen werde: Sie werden hier bei mir übernachten! Und morgen früh setze ich Sie in den Wagen und fahre mit Ihnen hin. Glauben Sie nicht, daß ich Sie entwischen lasse!“ – Seine Selbstbeherrschung ließ wieder nach. „Ich werde Sie binden, zum Knoten werde ich Sie binden und mit dieser Faust hinschleppen! ... Wird Ihnen dieser Diwan bequem genug sein?“ brach er kurz ab, den Atem anhaltend, und eine kurze Handbewegung wies auf den breiten, weichen Diwan, der dem anderen, auf dem er selbst zu schlafen pflegte, an der entgegengesetzten Wand gegenüberstand.

„Aber ich bitte Sie, ich kann ja gleichviel wo ...“

„Nein, nicht gleichviel wo, sondern auf diesem Diwan! ... Nehmen Sie, – hier haben Sie eine Decke, ein Kissen, Bettücher ...“ Weltschaninoff nahm alles Nötige aus seinem Schrank und warf es Pawel Pawlowitsch zu, der gehorsam die Hand ausstreckte und eines nach dem anderen in Empfang nahm. „Machen Sie sich sofort Ihr Nachtlager zurecht! Nun, wird’s bald? So–fort, sage ich Ihnen!“

Pawel Pawlowitsch stand ganz bepackt und wie in ratloser Unentschlossenheit mitten im Zimmer, ein breites, betrunkenes Lächeln auf dem betrunkenen Gesicht; als Weltschaninoff ihn jedoch zum zweitenmal wahrhaft unheilverkündend anschrie, da fuhr er zusammen und stürzte in größter Hast zum Diwan, um Hals über Kopf dem Befehl nachzukommen: er schob den Tisch zur Seite und bemühte sich, vor Anstrengung fast ächzend, als käme er mit dem Atem zu kurz, die schwierige Prozedur auszuführen und die Bettücher auszubreiten. Weltschaninoff trat zu ihm, um ihm zu helfen: der Gehorsam und der Schreck seines Gastes gefielen ihm – er war zum Teil ganz zufrieden mit der Wirkung seiner Wut.

„Trinken Sie Ihr Glas aus und legen Sie sich dann hin!“ kommandierte er wieder: er fühlte es ganz deutlich, daß er jetzt überhaupt nicht anders zu reden vermochte, als in Befehlen. „Haben Sie selbst nach dem Wein geschickt?“

„Ich selbst ... Ich wußte, daß Sie, Alexei Iwanowitsch, jetzt nicht mehr nach ihm schicken würden.“

„Das ist gut, daß Sie es wußten, nur sollen Sie jetzt noch mehr wissen. Ich erkläre Ihnen hiermit noch einmal, daß ich weiß, was ich zu tun habe: Ihre Faxen werde ich nicht mehr dulden, Ihre betrunkenen Küsse verbitte ich mir ein für allemal!“

„Ich begreife doch selbst, Alexei Iwanowitsch, daß das überhaupt nur einmal möglich war,“ meinte Pawel Pawlowitsch mit einem halben Lächeln.

Weltschaninoff, der im Zimmer auf und ab schritt, blieb plötzlich mit einer gewissen Feierlichkeit vor ihm stehen.

„Pawel Pawlowitsch, sprechen Sie sich einmal offen aus! Sie sind schlau, ich gebe es zu, aber ich versichere Ihnen, daß Sie sich auf einem falschen Wege befinden! Reden Sie offen, handeln Sie offen, seien Sie ehrlich – und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich Ihnen auf alles Rede stehen werde, auf alles!“

Pawel Pawlowitsch lächelte wieder sein langes zweideutiges Lächeln, das allein schon genügte, um Weltschaninoff aus der Haut zu bringen.

„Warten Sie!“ schrie er ihn wieder an. „Sparen Sie sich die Mühe, sich zu verstellen, ich durchschaue Sie ja doch! Ich sage Ihnen nochmals: ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich bereit bin, Ihnen jede Frage zu beantworten, hören Sie, jede! – und Ihnen soll jede nur mögliche Genugtuung gewährt werden, verstehen Sie, jede! – jede sogar unmögliche, wenn Sie wollen! O, was würde ich darum geben, wenn Sie mich richtig verstanden! ...“

„Wenn Sie nun einmal so gut sind,“ näherte sich ihm vorsichtig Pawel Pawlowitsch, „so, sehen Sie, interessiert mich das sehr, was Sie gestern vom Raubtier-Typ sagten ...“

Weltschaninoff wandte sich brüsk von ihm ab und nahm nervös wieder seinen Gang durch das Zimmer auf, nur weit schneller und wie von innerer Unruhe getrieben.

„Nein, Alexei Iwanowitsch, seien Sie nicht böse, denn das ist für mich von großem Interesse und ich bin gerade deshalb hergekommen, um mich zu vergewissern ... Meine Zunge ist jetzt etwas steif, doch Sie müssen es mir schon verzeihen. Ich habe ja von diesen ‚Raubtieren‘ und vom ‚zahmen‘ Typus selbst was in einer Zeitschrift gelesen, in irgendeiner Kritik, das fiel mir heute morgen wieder ein ... nur habe ich vergessen, was es war, oder aufrichtig gesagt, ich habe es auch damals nicht verstanden. Ich wollte nämlich gerade nur eines feststellen: der verstorbene Stepan Michailowitsch Bagontoff – war der nun einer von den wilden oder zahmen? Was meinen Sie?“

Weltschaninoff schwieg immer noch und setzte seinen Gang fort.

„Zum Raubtier-Typ gehört derjenige Mensch,“ sagte er, plötzlich stehen bleibend und in maßloser Wut, „der Bagontoff eher vergiftet hätte, wenn er mit ihm ‚Champagner trank und zur Feier des angenehmen Wiedersehens anstieß,‘ wie Sie ihn gestern mit mir tranken, der aber seinem Sarge nicht auf den Friedhof folgt, wie Sie ihm heute gefolgt sind – unter weiß der Teufel was für geheimen und gemeinen Verstellungen und Absichten, die nur Sie selbst, aber keinen anderen, beschmutzen! Nur Sie selbst!“

„Das stimmt, daß er nicht gefahren wäre,“ bestätigte Pawel Pawlowitsch, „nur verstehe ich noch nicht, wie Sie denn so auf mich ...“

„Das ist nicht derjenige Mensch,“ fuhr Weltschaninoff zornbebend fort, ohne auf ihn zu hören, „nicht derjenige, der sich Gott weiß was alles zusammenreimt, Recht und Unrecht mathematisch berechnet und die ihm angetane Beleidigung wie eine Schulaufgabe auswendig hersagen kann, so gut hat er sie erlernt, und der sich dann mit ihr herumschleppt, sich verstellt und entstellt und den Leuten auf dem Halse sitzt – und – seine ganze Zeit nur darauf verschwendet! Ist es wahr, daß Sie sich haben erhängen wollen? Ist das wahr?“

„In der Betrunkenheit vielleicht – vielleicht irgend mal was geschwatzt – ich entsinne mich nicht mehr. Für unsereins, Alexei Iwanowitsch, schickt sich das nicht, Gift hineinzumischen. Ganz abgesehen davon, daß man ein gut angeschriebener Beamter ist, besitzt man doch auch ein Kapital, und vielleicht will man sogar nochmals heiraten.“

„Ja und außerdem würde man für das Gift zur Zwangsarbeit verurteilt und nach Sibirien verschickt werden.“

„Nun ja, sehen Sie, und dann auch noch diese Unannehmlichkeit, obschon die Gerichte heutzutage für alles mildernde Umstände gelten lassen. Doch ich will Ihnen, Alexei Iwanowitsch, eine höchst spaßige Geschichte erzählen, vorhin im Wagen fiel sie mir wieder ein – ich wollte sie Ihnen, das nahm ich mir gleich vor, unbedingt mitteilen. Sie sprachen soeben von ... von: ‚den Leuten auf dem Halse sitzen‘. Sie erinnern sich vielleicht noch Ssemjon Petrowitsch Liwzoffs, – er hat uns zu Ihrer Zeit in T. besucht. Nun, sein jüngerer Bruder, der gleichfalls für einen Petersburger Kavalier galt, war nach W. zum Dienst beim Gouverneur abkommandiert und zeichnete sich dito durch verschiedene Eigenschaften glänzend aus. Einmal geriet nun dieser junge Mann mit dem Obersten Golubenko in Streit: es war in einer Gesellschaft und in Anwesenheit von Damen, unter denen sich auch die Dame seines Herzens befand. Er fühlte sich beleidigt, steckte aber die Beleidigung ruhig ein und ließ niemanden etwas merken. Golubenko aber machte ihm inzwischen die Dame seines Herzens abspenstig und hielt um ihre Hand an. Und was glauben Sie wohl, was dieser Liwzoff darauf tut? – Er wird Golubenkos bester Freund, als wäre nie das Geringste zwischen ihnen vorgefallen, und drängt sich ihm noch als Hochzeitsmarschall[9] auf! Richtig, in der Kirche stand er neben ihm, und als man aus der Kirche zurückgekehrt war und die Gratulationscour begann, trat er auf ihn zu, sprach seinen Glückwunsch aus und küßte ihn, und im selben Augenblick, wie er dort war und stand, im Frack und geschniegelt und gestriegelt und inmitten der ganzen glänzenden Gesellschaft – auch der Gouverneur war zugegen – sticht er dem Golubenko plötzlich einen Dolch in den Leib, daß dieser wie vom Blitz getroffen taumelt und hinfällt! Sein eigener Hochzeitsmarschall! Unerhört doch! Aber das ist alles noch nichts! Die Hauptsache kommt erst: Kaum hatte er jenen niedergestochen, da ringt er schon die Hände und schreit und jammert wie verzweifelt: ‚Was hab ich getan! Ach, was hab ich getan!‘ Und er weint und zittert am ganzen Körper, und wirft sich schluchzend allen an den Hals, sogar den Damen, und jammert immer weiter: ‚Ach, was hab ich getan, was hab ich jetzt getan!‘ – Hehehe! Zum Totlachen. Nur, daß einem der arme Golubenko leid tun kann – übrigens ist er wieder gesund geworden.“

„Ich verstehe nicht, zu welchem Zweck Sie mir das erzählt haben,“ sagte Weltschaninoff, dessen Gesicht sich verfinstert hatte, in abweisendem Tone.

„Nun, weil er doch immerhin mit dem Dolch gestochen hat,“ grinste Pawel Pawlowitsch. „Man sieht doch, daß er ganz gewiß nicht zu jenem Typ gehört. Ein Lappen war er, ein Rotzbengel, wenn er vor lauter Angst jeden Anstand vergessen und sich in Gegenwart des Gouverneurs den Damen an den Hals werfen konnte – aber er hat doch gestochen, hat’s doch fertig gebracht! Nur das war es, was ich meinte.“

„Packen Sie sich zum Teufel!“ schrie plötzlich Weltschaninoff mit einer Stimme, die ganz fremd und heiser klang – fast als hätte ihn jemand gewürgt. „Scheren Sie sich zum Henker mit Ihrem Schmutz, Sie gemeiner Mensch! – Läßt sich einfallen, mich schrecken zu wollen! – Sie Kinderquälgeist, Sie gemeines Subjekt! Sie Schuft, Sie Schuft, Sie Schuft!“ schrie er, bebend, atemlos vor Wut, und kaum noch seiner Sinne mächtig.

Pawel Pawlowitsch fuhr zusammen und alle Sehnen schienen sich in ihm zu spannen: selbst die letzte Spur vom Rausch war im Nu verflogen – seine Lippen bebten.

„Wie, – mich nennen Sie einen Schuft, Alexei Iwanowitsch, Siemich?“

Doch Weltschaninoff war bereits zu sich gekommen.

„Ich bin bereit, mich zu entschuldigen,“ sagte er nach kurzem, finsterem Schweigen, „aber nur in dem Fall, wenn Sie selbst, und zwar sogleich offen und ehrlich vorgehen wollen.“

„Ich würde mich an Ihrer Stelle in jedem Fall entschuldigen, Alexei Iwanowitsch.“

„Nun gut,“ willigte Weltschaninoff nach kurzem Schweigen ein, „ich bitte Sie um Entschuldigung. Aber Sie werden doch selbst einsehen, Pawel Pawlowitsch, daß ich mich nach alledem Ihnen gegenüber in nichts mehr verpflichtet zu halten brauche, hören Sie, in nichts mehr, – ich spreche von allem, und nicht nur von diesem einen Zwischenfall soeben.“

„Schon gut, darauf kommt es nicht an!“ meinte Pawel Pawlowitsch mit kaum merklichem Lächeln, wobei er übrigens zu Boden sah.

„Nun, dann – um so besser! ... Trinken Sie Ihren Wein aus und legen Sie sich hin, ich werde Sie trotzdem nicht fortlassen ...“

„Ja was ... der Wein ...“ Pawel Pawlowitsch schien ein wenig verwirrt zu sein, trat aber doch an den Tisch und nahm das Glas mit dem längst eingegossenen Champagner.

Vielleicht hatte er vorher schon viel getrunken und es zitterte deshalb seine Hand, als er das Glas hob: er verschüttete einen Teil des Weines auf den Boden, auf seine Weste und sein Vorhemd, trank aber doch den Rest bis auf den letzten Tropfen aus, ganz als könne er ihn nicht unausgetrunken lassen: und nachdem er dann das leere Glas höflich wieder auf den Tisch gesetzt hatte, ging er gehorsam zum Diwan und begann sich auszukleiden.

„Oder wär’s nicht besser ... nicht hier zu übernachten?“ fragte er plötzlich aus irgendeinem Grunde, indem er den einen Stiefel, den er bereits ausgezogen hatte, unschlüssig in den Händen hielt.

„Nein, das wäre nicht besser!“ versetzte ärgerlich Weltschaninoff, der unermüdlich auf- und abging, ohne ihn anzusehen.

Pawel Pawlowitsch entkleidete sich vollends und legte sich hin. Eine Viertelstunde später ging auch Weltschaninoff zu Bett und löschte das Licht aus.

Ihn überkam ein unruhiger Halbschlummer. Es war ihm, als sei etwas Neues irgendwoher aufgetaucht, das die Sache noch mehr verwickelte, und das beunruhigte ihn; doch gleichzeitig fühlte er und war er sich dessen bewußt, daß er sich dieser Unruhe schämte. Allmählich schlummerte er jedoch ein und lag in einem leichten, wenn auch unruhigen Schlaf. Plötzlich weckte ihn ein Geräusch. Er schlug sogleich die Augen auf und sah hinüber zum anderen Diwan. Es war ganz dunkel im Zimmer – die dunklen Stoffgardinen waren zugezogen – doch schien es ihm, daß Pawel Pawlowitsch nicht lag, sondern sich aufgerichtet hatte und saß.

„Was ist?“ rief Weltschaninoff.

„Ein Schatten ...“ flüsterte nach kurzem Zögern Pawel Pawlowitsch kaum hörbar.

„Was – was für ein Schatten?“

„Dort ... in jenem Zimmer, in der Tür ... es war mir so, als hätte ich dort einen Schatten gesehen.“

„Was für einen Schatten, wovon denn?“

„Von Natalja Wassiljewna.“

Weltschaninoff setzte die Füße auf den Teppich, stand auf und ging selbst zur Tür, um durch den kleinen Korridor in jenes Zimmer zu sehen, dessen Tür immer offen stand. Die Fenster hatten keine dunklen Vorhänge, nur die weißen Rouleaux waren herabgelassen, weshalb es dort bedeutend heller war.

„In diesem Zimmer ist nichts, Sie sind einfach betrunken; legen Sie sich hin!“ sagte Weltschaninoff, kehrte ins Bett zurück und wickelte sich in seine Decke.

Pawel Pawlowitsch sagte kein Wort und legte sich gleichfalls hin.

„Haben Sie früher auch schon solche Schatten gesehen?“ fragte plötzlich Weltschaninoff, nachdem bereits ganze zehn Minuten vergangen waren.

„Einmal war es so wie ... als hätte ich so was gesehen,“ antwortete wieder nach einigem Zögern Pawel Pawlowitsch mit schwacher Stimme.

Darauf trat von neuem Schweigen ein.

Weltschaninoff hätte es nicht bestimmt zu sagen vermocht, ob er wirklich eingeschlafen war oder wieder nur so im Halbschlummer gelegen hatte. Es mochte über eine Stunde vergangen sein – und plötzlich drehte er sich wieder um: war es ein Geräusch, das ihn geweckt hatte, oder was sonst – er wußte es nicht, aber es schien ihm plötzlich, als ob in der vollkommenen Dunkelheit etwas vor ihm stehe, etwas Weißes, noch nicht ganz an seinem Bett, aber doch schon mitten im Zimmer. Er fuhr auf, blieb sitzen und blickte lange Zeit regungslos in das Dunkel, dorthin, wo er meinte, daß etwas sei.

„Sind Sie es, Pawel Pawlowitsch?“ fragte er mit schwacher Stimme.

Und diese Stimme, die plötzlich in der Stille und Dunkelheit erklang, kam ihm selbst fremd vor.

Es erfolgte keine Antwort, doch ein Zweifel daran, daß dort wirklich jemand stand, war für ihn ganz ausgeschlossen.

„Sind Sie es ... Pawel Pawlowitsch?“ wiederholte er lauter, sogar so laut, daß Pawel Pawlowitsch, selbst wenn er auf seinem Diwan ganz fest geschlafen hätte, davon sicherlich aufgewacht wäre und geantwortet haben würde.

Doch wieder blieb alles still – keine Antwort ... dafür schien es ihm aber, daß diese weiße, kaum erkennbare Gestalt sich ihm etwas genähert hatte. Und nun geschah etwas Seltsames: es war ihm, als werde plötzlich irgend etwas in ihm aufgerissen, und so schrie er zitternd, rasend vor Wut, mit einer Stimme, die ihn zu ersticken drohte, fast nach jedem Wort atemlos stockend:

„Wenn Sie ... betrunkener Narr ... nur wagen, zu denken, daß Sie ... mich erschrecken können, so drehe ich mich zur Wand, zieh’ die Decke über und dreh’ mich die ganze Nacht kein einziges Mal nach Ihnen um ... um dir zu beweisen, Lump, wie wenig ich dich fürchte ... und wenn Sie auch bis zum Morgen hier stehen ... Narr Sie ... ich spucke auf Sie! ...“

Und er spie wütend nach der Richtung des vermeintlichen Pawel Pawlowitsch, warf sich hin, drehte sich zur Wand, wickelte sich in die Decke und blieb wie ein Scheintoter regungslos liegen. Totenstille trat ein. Näherte sich nun das Weiße oder stand es noch auf derselben Stelle – er wußte es nicht, doch sein Herz pochte ... pochte ... pochte ... Es vergingen wenigstens ganze fünf Minuten, und plötzlich, keine zwei Schritt von ihm, ertönte die schwache, fast klägliche Stimme Pawel Pawlowitschs:

„Ich, Alexei Iwanowitsch, ich stand nur auf, um ...“ (er nannte einen notwendigen Gegenstand) „zu suchen, ich fand aber dort nichts bei mir ... da wollte ich leise unter Ihrem Bett nachsehen.“

„Weshalb taten Sie denn das Maul nicht auf ... als ich Sie anschrie?“ fragte Weltschaninoff nach kurzem Schweigen mit eigentümlicher Stimme.

„Ich erschrak ... Sie schrien so – plötzlich ... da erschrak ich ...“

„Dort, in der Ecke, links von der Tür, im Nachtschränkchen, zünden Sie das Licht an ...“

„Ich kann ja auch ohne Licht ...“ meinte Pawel Pawlowitsch ganz bescheiden, zur bezeichneten Zimmerecke tappend. „Verzeihen Sie mir, Alexei Iwanowitsch, daß ich Sie so beunruhigt habe ... ich habe doch wohl etwas zu viel getrunken ...“

Weltschaninoff antwortete ihm darauf nichts mehr. Er blieb regungslos so liegen wie er lag und drehte sich während der ganzen Nacht kein einziges Mal auf die andere Seite. Wollte er nun damit seine Verachtung bezeugen oder einfach nur sein Wort halten – das mag dahingestellt sein; er wußte selbst nicht, was in ihm vorging. Seine nervöse Erregung ging in einen seltsamen Traumzustand über und lange konnte er nicht einschlafen.

Am nächsten Morgen erwachte er – als habe ihn jemand gestoßen – gegen zehn Uhr, sprang sogleich auf und setzte sich aufs Bett – doch Pawel Pawlowitsch war verschwunden: nur der leere, unaufgeräumte Diwan stand dort an der Wand, er selbst aber mußte sich wohl schon bei Tagesanbruch aus dem Staube gemacht haben.

„Das konnte ich mir ja denken!“ rief Weltschaninoff aus und schlug sich mit der Hand vor die Stirn.

X.
Auf dem Friedhof.

Die Befürchtungen des Arztes gingen in Erfüllung: Lisas Zustand verschlimmerte sich ganz plötzlich und wurde so ernst, wie es Klawdia Petrowna und Weltschaninoff noch tags zuvor gar nicht für möglich gehalten hätten. Als Weltschaninoff am Vormittage kam, war die Kleine zwar noch nicht bewußtlos, doch hatte das Fieber bereits eine beängstigende Höhe erreicht. Weltschaninoff versicherte später, sie habe ihm zugelächelt und das heiße Händchen entgegengestreckt, doch ob sie es wirklich getan oder ob es ihm nur so geschienen hatte, das ließ sich nicht mehr feststellen. Jedenfalls war er selbst fest davon überzeugt, und diese Überzeugung war ihm ein Trost. Am Abend verlor Lisa das Bewußtsein und in diesem Zustand blieb sie während der ganzen Krankheit. Am zehnten Tage nach ihrer Ankunft auf der Datsche starb sie.

Das waren kummervolle, qualvolle Tage für Weltschaninoff. Den größten Teil dieser schweren Zeit verbrachte er bei Pogorjelzeffs, die sich wirklich ernste Sorgen um ihn machten. In den letzten Tagen saß er oft stundenlang ganz allein irgendwo in einem Winkel und beschäftigte sich mit nichts, dachte auch offenbar an nichts. Klawdia Petrowna trat dann oft zu ihm, um ihn etwas zu zerstreuen, doch er antwortete kaum und die Störung war ihm sichtlich unangenehm. Klawdia Petrowna hätte es nie für möglich gehalten, daß ihm so etwas in dieser Weise nahegehen würde. Nur die Kinder konnten ihn wohl etwas ablenken und zerstreuen und bisweilen sogar zum Lachen bringen – doch in jeder Stunde erhob er sich einmal leise und schlich auf den Fußspitzen an das Bett der kleinen Kranken, um sie zu betrachten. Bisweilen schien es ihm, als erkenne sie ihn – aber wer konnte das mit Bestimmtheit sagen? Hoffnung auf ihre Genesung hatte er nicht und konnte sie auch nicht haben – wußten doch alle, wie es um sie stand; aber von dem Zimmer, in dem sie lag, vermochte er sich nicht zu trennen und so saß er gewöhnlich im Zimmer nebenan.

Mehrmals geschah es übrigens, daß er ganz plötzlich aus seiner Versunkenheit aufsah und eine fieberhafte Tätigkeit entwickelte: er nahm sogleich einen Wagen und fuhr nach Petersburg zu den besten Ärzten, die er alle zu einem Konsilium berief. Das zweite fand noch am Tage vor dem Tode der Kleinen statt. Drei oder vier Tage vorher hatte Klawdia Petrowna zu Weltschaninoff von der Notwendigkeit gesprochen, Herrn Trussozkij endlich aufzusuchen: denn „sollte das Schlimmste geschehen, so kann man sie ja nicht einmal beerdigen, wenn man nicht wenigstens den Taufschein hat“! Herr Pogorjelzeff hatte schon gesagt, er werde ihn einfach durch die Polizei suchen lassen. So schrieb denn Weltschaninoff einen kurzen Zettel und brachte ihn selbst zu Marja Ssyssojewna, die ihn Pawel Pawlowitsch, der natürlich nicht zu Hause war, einhändigen sollte, sobald er kam.

Endlich, an einem wundervollen Sommerabend, als gerade die Sonne unterging, starb Lisa, und nun erst kam Weltschaninoff zu sich, und es war, als erwache er aus einem Traum. Und als dann die kleine Leiche in einem weißen Kleidchen auf einem Tisch im Saal aufgebahrt war und mit Blumen geschmückt wurde, trat er plötzlich mit funkelnden Augen auf Klawdia Petrowna zu und erklärte ihr, daß er sogleich „den Mörder“ herbeischaffen werde. Und ohne auf die Bitten und Beschwörungen, doch bis morgen damit zu warten, zu achten, begab er sich sogleich nach der Stadt.

Er wußte, wo er Pawel Pawlowitsch finden konnte; war er doch nicht bloß der Ärzte wegen nach Petersburg gefahren. Es hatte ihn in diesen Tagen mehr als einmal plötzlich die Überzeugung gepackt, daß nur der Vater an Lisas Bett zu treten brauchte, und sie, sobald sie nur seine Stimme hörte, wieder zu sich kommen würde; dann war er aufgesprungen und in die Stadt gefahren und hatte ihn wie ein Verzweifelter gesucht.

Pawel Pawlowitsch wohnte nach wie vor in den zwei möblierten Zimmern, doch dort nach ihm zu fragen, war vergeblich: „Er hat wieder drei Nächte nicht hier verbracht,“ berichtete Marja Ssyssojewna, „und läßt er sich mal tagsüber hier blicken, dann kommt er besoffen an und nach einer Stunde geht er wieder. Ganz heruntergekommen ist der Mensch!“

Ein Kellner des Gasthofes aber hatte Weltschaninoff gesagt, daß Pawel Pawlowitsch früher sehr oft gewisse Mädchen in einem Hause am Wosnessenskij Prospekt besucht habe. Diese Mädchen hatte Weltschaninoff alsbald aufgesucht. Natürlich entsannen sie sich sogleich des Herrn, der um den Hut einen Trauerflor trug und der stets so freigebig gewesen war, doch nichtsdestoweniger begannen sie alsbald einmütig über ihn zu schimpfen – natürlich nur deshalb, weil er jetzt nicht mehr zu ihnen kam. Die eine von ihnen, Katjä mit Namen, beteuerte sogleich, daß sie ihn jederzeit finden könne, da er die Maschka Prostakowa jetzt überhaupt nicht mehr verlasse, denn Geld habe er so viel wie Sand am Meer, diese Maschka aber heiße gar nicht Prostakowa, sondern eigentlich Prochwostowa, und wenn sie, Katjä, nur wolle, so könnte sie sie jeden Tag nach Sibirien verschicken lassen, sie brauche nur ein Wort zu sagen! Trotzdem war es aber der Katjä an jenem Tage doch nicht gelungen, ihn zu finden, doch hatte sie hoch und heilig versprochen, ihn das nächstemal unbedingt zur Stelle zu schaffen. Auf ihre Hilfe rechnete nun Weltschaninoff.

Es war bereits zehn Uhr abends, als er sie zu sprechen verlangte (nachdem er, wie es sich gehörte, für ihre Abwesenheit gezahlt) und sich mit ihr auf die Suche begab. Er wußte selbst noch nicht, was er mit Pawel Pawlowitsch beginnen werde: ob er ihn totschlagen oder ob er ihm einfach nur mitteilen wollte, daß Lisa gestorben war und daß er die zur Bestattung notwendigen Dokumente hergeben mußte. Doch auch diesmal ließ er sich nicht finden: Maschka Prochwostowa erklärte, daß sie ihn seit drei Tagen nicht gesehen und daß das letztemal ihm ein Kassenbeamter mit einer Holzbank „den Schädel eingeschlagen“ habe. Kurz, man suchte ihn überall vergeblich. Erst gegen zwei Uhr nachts, als Weltschaninoff aus einem gewissen Hause, in dem er Pawel Pawlowitsch „bestimmt finden“ sollte und doch nicht gefunden hatte, heraustrat, stieß er plötzlich ganz unerwartet auf ihn: Pawel Pawlowitsch wurde von zwei Frauenzimmern gerade zu diesem Hause geschleppt – er war vollständig betrunken. Die eine der beiden „Damen“ hatte ihn unter den Arm gefaßt und stützte ihn nach Kräften; ihnen folgte irgendein Mensch, ein großer, starker Bursche, der wütend auf Pawel Pawlowitsch schimpfte und ihn mit fürchterlichen Drohungen einzuschüchtern suchte. Unter anderem hörte man ihn gerade noch schreien, daß Pawel Pawlowitsch ihn „ausgenutzt“ und sein Leben „vergiftet“ habe. Offenbar handelte es sich für ihn um Geld. Die Damen schienen aber große Angst zu haben und sich sehr zu beeilen, um schneller ins Haus zu gelangen. Kaum hatte Pawel Pawlowitsch Weltschaninoff erblickt, da warf er sich ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen und schrie, als stecke ihm das Messer schon in der Kehle:

„Bruder! Retter! Hilf, beschütze mich!“

Der Kerl, der folgte, glotzte Weltschaninoff ganz verblüfft an und – zog sich ohne weiteres zurück: Er mußte es offenbar für vorteilhafter halten, der ziemlich athletischen Gestalt des Unbekannten das Feld zu räumen, als es auf einen Kampf mit ihm ankommen zu lassen. Pawel Pawlowitsch fühlte sich als Sieger, drohte zum Zeichen des Triumphes mit der Faust hinter ihm her und gröhlte. Da packte ihn Weltschaninoff an den Schultern – ohne selbst zu wissen, wozu und weshalb – und plötzlich kam es wie ein Krampf über ihn und er schüttelte den Besoffenen, daß dessen Zähne klapperten. Pawel Pawlowitschs Gegröhl war im Augenblick verstummt und er starrte nur mit stumpfsinnigem Schrecken seinen neuen Henker an. Weltschaninoff wußte offenbar zunächst nicht, was er mit ihm weiter tun sollte – doch plötzlich drückte er ihn mit aller Kraft so zu Boden, daß der Betrunkene unversehens auf dem Prellstein am Trottoir saß.

„Lisa ist tot!“ stieß er hervor.

Pawel Pawlowitsch hatte noch keinen Blick von ihm abgewandt, er starrte ihn, auf dem Prellstein sitzend und von einer der „Damen“ gestützt, immer noch verständnislos an. Endlich begriff er und – sonderbar! – sein ganzes Gesicht schien sich plötzlich zu verändern und sah alt und verfallen aus.

„Tot ...“ flüsterte er eigentümlich vor sich hin. Lächelte er nun wieder sein scheußliches langes Lächeln oder war es etwas anderes, das sein Gesicht verzog – Weltschaninoff konnte es nicht unterscheiden. Doch im nächsten Augenblick hob Pawel Pawlowitsch mühsam seine zitternde rechte Hand, um sich zu bekreuzen, aber er vollendete das Kreuz nicht, schlaff sank ihm der Arm herab. Nach einer Weile erhob er sich wankend vom Prellstein, tastete nach seiner „Dame“ und ging, sich schwer auf sie stützend, wankenden Schrittes davon, wie in Gedanken versunken. Es war, als habe er Weltschaninoff völlig vergessen. Doch sollte er nicht weit kommen. Weltschaninoff riß ihn an der Schulter zurück.

„Begreifst du denn nicht, du Lump, daß man sie ohne dich nicht einmal begraben kann!“ schrie er wutbebend.

Jener wandte den Kopf nach ihm um.

„Den Artil–lerie ... Leutnant ... Sie wissen doch?“ brachte er mit schwerer Zunge unklar hervor.

„Was? ... Was sagst du?“ keuchte Weltschaninoff, in dem sich alle Sehnen zum Zerreißen spannten.

„Da hast du den Vater! Such ihn dir ... zum Begraben ...“

„Du lügst!“ brüllte Weltschaninoff, als habe er vor Wut alle Macht über sich verloren, „aus Rache lügst du ... ich wußte es, daß du das für mich in Bereitschaft hieltest!“

Und außer sich vor Wut holte er aus, um Pawel Pawlowitsch den Schädel einzuschlagen. Noch ein Moment – und die Knochen hätten unter der Wucht seiner athletischen Faust geknirscht: wohl mit einem einzigen Hieb hätte er ihn totgeschlagen! Die beiden Frauenzimmer schrien auf und stoben zur Seite, doch Pawel Pawlowitsch zuckte mit keiner Wimper. Nur Haß – ein Haß, der in seiner Grenzenlosigkeit nahezu tierisch war – entstellte sein ganzes Gesicht.

„Kennst du,“ fragte er mit bedeutend festerer Stimme, fast als wäre er ganz nüchtern, „kennst du unsere russische ...?“ (Und er nannte das scheußliche russische Schimpfwort für eine Dirne.) „Dann pack dich zu ihr!“

Und mit aller Gewalt riß er sich von Weltschaninoff los, dessen Linke sich um seinen Arm gekrallt hatte, wankte, taumelte zwei Schritte weiter und drohte zu fallen. Die Damen griffen ihn noch rechtzeitig auf und eilten, kreischend und schreiend, so schnell sie nur konnten, mit ihm davon, indem sie ihn fast nachschleifend weiterzogen.

Weltschaninoff folgte ihnen nicht.

Am nächsten Tage um ein Uhr mittags erschien bei Pogorjelzeffs ein höchst anständig aussehender Herr in tadelloser Beamtenuniform und überreichte Klawdia Petrowna höflichst ein an sie adressiertes Paket von Pawel Pawlowitsch Trussozkij. In diesem Paket befand sich außer einem Brief und den zur Bestattung notwendigen Dokumenten noch ein Kuvert mit dreihundert Rubeln. Pawel Pawlowitsch schrieb ziemlich kurz, doch äußerst verbindlich und jedenfalls sehr taktvoll. Er dankte „Ihrer Exzellenz“ für die liebevolle Aufnahme, die sie der kleinen Waise erwiesen, für die Pflege und alles das andere, was allein Gott durch seinen Segen entgelten könne. Darauf erwähnte er – übrigens war dieser Satz ziemlich unklar gehalten –, daß er infolge ernsten Unwohlseins verhindert sei, persönlich zum Begräbnis seiner geliebten entschlafenen Tochter zu erscheinen und daß er deshalb, im Vertrauen auf die „unvergleichliche Güte Ihrer Exzellenz“, diese herzlich bitte, alle Obliegenheiten zu übernehmen. Die dreihundert Rubel seien für die Ausgaben der Bestattung und überhaupt für die Unkosten, die ihre Krankheit verursacht habe, bestimmt. Sollte von dieser Summe noch etwas übrigbleiben, so bitte er ergebenst und gehorsamst, dieses Geld zu Totenmessen für das Seelenheil der Verstorbenen zu verwenden. Der Herr in der Beamtenuniform wußte nichts weiter hinzuzufügen; aus seinen Worten ging sogar hervor, daß er nur auf die dringende Bitte Pawel Pawlowitschs eingewilligt habe, dieses Paket Ihrer Exzellenz persönlich zu überbringen. Der Geheimrat fühlte sich fast beleidigt durch die „Unkosten, die ihre Krankheit verursacht habe“ und schlug daher vor, das Geld außer den fünfzig Rubeln für das Begräbnis – da man es dem Vater doch nicht verwehren konnte, sein Kind aus eigenen Mitteln zu bestatten – an Herrn Trussozkij sogleich zurückzusenden. Klawdia Petrowna entschied jedoch, ihm nicht das Geld, sondern ihm lieber die Quittung des Geistlichen der Friedhofskirche zuzustellen und für die zweihundertundfünfzig Rubel – was er aus der Quittung ersehen werde – Totenmessen für das Seelenheil der Verstorbenen lesen zu lassen. Und so geschah es auch. Die Quittung wurde später Weltschaninoff eingehändigt, der sie durch die Post an Pawel Pawlowitschs Adresse sandte.

Nach der Beerdigung kehrte Weltschaninoff in die Stadt zurück. Ganze zwei Wochen trieb er sich ziel- und zwecklos umher, schlenderte ganz allein durch die Straßen, stieß in seiner Gedankenversunkenheit mit anderen Menschen zusammen, entschuldigte sich nicht einmal und sah keinen an. Bisweilen wiederum lag er tagelang auf seinem Diwan ausgestreckt, ohne auch nur an das Nächstliegende zu denken. Pogorjelzeffs ließen ihn mehrmals zu sich bitten, und er versprach auch bald hinzufahren, vergaß es aber schon im nächsten Augenblick. Klawdia Petrowna kam sogar persönlich zu ihm gefahren, traf ihn jedoch nicht zu Haus. Dasselbe Ergebnis hatten auch zwei Besuche seines Rechtsanwalts, der ihm eine sehr erfreuliche Mitteilung zu machen hatte: der Rechtsstreit war von ihm nämlich so geschickt geleitet worden, daß die Gegner jetzt zu einem gütlichen Vergleich bereit waren, wenn man sie mit einem unbedeutenden Bruchteil der von ihnen bestrittenen Erbschaft abfand. Dazu bedurfte es nur noch der Einwilligung Weltschaninoffs. Als der Rechtsanwalt diesen dann endlich zu Hause antraf, war er nicht wenig erstaunt über den müden Gleichmut, mit dem ihn sein vor kurzem noch so ungeduldiger Klient anhörte.

Die Julihitze hatte ihren Höhepunkt erreicht. Die Tage waren unerträglich heiß. Doch Weltschaninoff achtete nicht darauf, ihm war alles gleichgültig. Er fühlte nur einen Schmerz in der Seele, den er immerwährend wie einen qualvoll bewußten Gedanken empfand. Am wehesten tat ihm, daß Lisa gestorben war, ohne ihn besser kennen gelernt zu haben und ohne zu wissen, wie sehr er sie liebte! Jenes Lebensziel, das er plötzlich in so strahlendem und kraftvollem Licht vor sich gesehen, war plötzlich wieder verschwunden in drückender Dunkelheit. Jenes Ziel hatte eigentlich nur darin bestanden – seine Gedanken beschäftigten sich jetzt fast ausschließlich damit –, daß er Lisa erzogen und daß sie an jedem Tage, zu jeder Stunde seine sorgende Liebe gefühlt hätte. „Ein höheres Ziel gibt es nicht, ein höheres hat kein Mensch und kann auch kein Mensch haben!“ sagte er sich überzeugt, und es erfaßte ihn eine düstere Begeisterung. „Oder wenn die Menschen auch andere Ziele haben sollten, so kann doch keines heiliger sein!“ Und diese Liebe zu seinem Kinde, so dachte er es sich jetzt, hätte alles wieder gut gemacht, vor allem sein ganzes früheres lasterhaftes und unnützes Leben; statt eines müßigen, schlechten und abgelebten Menschen, wie er es war, hätte er ein reines und wundervolles Wesen für die Welt und das Leben erzogen und – „um dieses Kindes willen wäre mir alles verziehen worden und hätte ich mir auch selbst verziehen!“

Alle diese Gedanken waren für ihn untrennbar verbunden mit der ewig klaren und ewig auf ihm lastenden Erinnerung an das tote Kind. Er vergegenwärtigte sich immer wieder ihr bleiches Gesichtchen, erinnerte sich jedes Ausdruckes, jeder ihrer Bewegungen; er glaubte, sie wieder vor sich zu sehen, wie sie im Sarge unter Blumen und wie sie während der Krankheit bewußtlos gelegen: heißglühend mit offenen, unbeweglichen, fieberglänzenden Augen. Da fiel es ihm ein, daß er, als sie noch auf dem Tisch aufgebahrt lag, plötzlich bemerkt hatte, daß ein Fingerchen an einer Stelle blauschwarz geworden war; das hatte ihn damals so betroffen gemacht und dieser arme kleine Finger hatte ihm so leid getan, daß ihm plötzlich zum erstenmal der Gedanke gekommen war, Pawel Pawlowitsch unverzüglich aufzusuchen und totzuschlagen; bis dahin aber war er wie betäubt gewesen. Gleichviel, was die Ursache der Krankheit des Kindes gewesen sein mochte – gekränkter Stolz oder die Qualen, mit denen sie der eigene Vater folterte, dessen Liebe sich so plötzlich in Haß verwandelt hatte, der ihr schändliche Schimpfwörter sagte und über ihre Angst höhnisch lachte, bis er zu guter Letzt zuließ, daß sie von einem fremden Menschen fortgebracht wurde – die Schuld an ihrem Tode trug jedenfalls Pawel Pawlowitsch ganz allein. Darüber war sich Weltschaninoff von vornherein vollkommen klar, und immer wieder kehrten seine Gedanken dazu zurück, wie Pawel Pawlowitsch sie gequält hatte, und seine Phantasie gab sich mit tausend Schrecknissen ab. „Wissen Sie auch, was Lisa mir war?“ hörte er plötzlich wieder die Frage des Betrunkenen und er fühlte, daß diese eigentümliche Frage nicht wie alles andere Verstellung war, sondern aus der tiefsten Tiefe seines Inneren kam und von einst unendlicher Liebe sprach. „Ja aber wie konnte dieses Scheusal dann so grausam zu diesem Kinde sein, das er doch zweifellos geliebt hat, wie ist so etwas überhaupt möglich?“ Doch jedesmal, wenn er wieder bei dieser Frage angelangt war, erschrak er und dachte sogleich an etwas anderes, als wolle er weiterem Nachdenken über dieses Problem schnell aus dem Wege gehen. Es lag für ihn in dieser Frage etwas geradezu Unheimliches, etwas Unerträgliches, etwas, das ihn davon abhielt, nach einer Antwort zu suchen.

Eines Tages hatte er, fast ohne sich selbst dessen bewußt zu sein, seinen ziellosen Weg durch die Straßen der Stadt immer weiter fortgesetzt, bis er zu dem Friedhof gelangt war, auf dem man Lisa begraben hatte. Er fand bald ihr kleines Grab. Es war das erstemal, daß er nach der Bestattung auf den Friedhof kam: er hatte immer gefürchtet, daß die Qual gar zu groß werden könnte, und so hatte er es nicht gewagt, ihr Grab aufzusuchen. Doch seltsam, kaum war er niedergekniet und hatte die Stirn auf den weichen Rasen des kleinen, noch hohen Hügels gesenkt, da war es ihm, als würde ihm leichter zumute. Der Abend war still und klar, die Sonne stand schon tief und warf lange Schatten. Ringsum auf den Hügeln und Plätzen wuchs üppiges, weiches Gras; an einem Hagebuttenstrauch in der Nähe summte eine Biene. Die Blumen und Kränze auf Lisas kleinem Grabe waren verwelkt und die Blüten zur Hälfte entblättert. Weltschaninoff sah und schaute, und zum erstenmal nach langer Zeit stieg wieder ein Hoffnungsgefühl in ihm auf und erfrischte ihm Herz und Sinne.

„Wie frei! ... wie wundervoll leicht!“ dachte er unter der Empfindung der tiefen, reglosen Friedhofsstille, und er schaute hinauf zum klaren, stillen Himmel.

Und wie ein Strom eines reinen, ruhigen Vertrauens, wie ein Glaube an irgend etwas, kam es über ihn.

„Das hat mir Lisa gesandt, sie spricht zu mir,“ sagte er sich.

Es dämmerte bereits, als er den Friedhof verließ, um nach Hause zurückzukehren. Nicht allzu weit vom Friedhofstor befand sich in einem niedrigen hölzernen Häuschen an der Straße so etwas wie eine Schenke oder ein Bierlokal. Durch die offenen Fenster sah man die Leute an den Tischen sitzen. Plötzlich schien es Weltschaninoff, als sei einer von ihnen – derjenige, welcher am offenen Fenster saß – Pawel Pawlowitsch, der ihn bereits erkannt hatte und neugierig mit den Blicken verfolgte. Er ging weiter, ohne seinen Schritt zu verändern, doch bald hörte er, daß jemand ihm schnell folgte. Es war in der Tat Pawel Pawlowitsch. Offenbar hatte ihn der versöhnliche Ausdruck im Gesicht Weltschaninoffs ermutigt. Als er ihn erreicht hatte, hielt er mit ihm gleichen Schritt, schien zwar noch etwas zaghaft zu sein, und lächelte nur – doch war es nicht mehr sein betrunkenes widerliches Lächeln, wie er überhaupt nicht betrunken zu sein schien.

„Guten Tag,“ sagte er.

„Guten Tag,“ antwortete Weltschaninoff.

XI.
Pawel Pawlowitsch will heiraten.

Weltschaninoff war eigentlich über sich selbst erstaunt: wie eigentümlich, daß er den Gruß erwidert hatte! Auch kam es ihm sehr seltsam vor, daß er jetzt beim Wiedersehen mit diesem Menschen gar keinen Haß mehr gegen ihn empfand – daß sich in seinen Gefühlen für ihn vielmehr etwas ganz anderes geltend machte und er fast einen Drang zu einer ganz neuen Stellungnahme zu allen diesen Dingen und Erlebnissen verspürte.

„Der Abend ist heute so angenehm,“ begann Pawel Pawlowitsch, ihm in die Augen blickend.

„Sie sind noch nicht abgereist,“ bemerkte Weltschaninoff – nicht fragend, sondern so, als denke er im Weitergehen nach.

„Die Abreise hat sich etwas verzögert, aber – mein Gesuch um Versetzung ist jetzt genehmigt worden. Ich komme auf einen höheren Posten. Übermorgen reise ich ganz bestimmt ab.“

„Sie sind auf einen höheren Posten versetzt?“ fragte Weltschaninoff – diesmal fragte er wirklich.

„Weshalb denn nicht?“ fragte Pawel Pawlowitsch mit einer kleinen einseitigen Grimasse.

„Ich sagte es nur so ...“ entschuldigte sich Weltschaninoff halbwegs, runzelte leicht die Stirn und warf einen Seitenblick auf Pawel Pawlowitsch.

Zu seiner Verwunderung sah der ganze Herr Trussozkij vom Hut mit dem Trauerflor bis hinab auf die Stiefelspitzen unvergleichlich anständiger aus, als vor vierzehn Tagen. „Weshalb saß er in jenem Bierlokal?“ fragte sich Weltschaninoff und wurde die Frage nicht los.

„Ich wollte Ihnen noch von meiner anderen großen Freude Mitteilung machen, Alexei Iwanowitsch,“ begann wieder Pawel Pawlowitsch.

„Einer Freude?“

„Ich heirate nämlich.“

„Was?“

„Nach jedem Kummer kommt wieder die Freude an die Reihe, so geht es immer im Leben. Ich würde aber sehr gern, Alexei Iwanowitsch ... nur weiß ich nicht, vielleicht haben Sie es jetzt eilig, Sie sehen so aus ...“

„Ja, ich muß mich allerdings beeilen und ... überdies fühle ich mich nicht ganz wohl.“

Er wollte ihn so schnell wie möglich abschütteln: seine Bereitwilligkeit zu neuen Gefühlen war im Augenblick wieder verschwunden.

„Ich würde aber gern ...“

Pawel Pawlowitsch sprach es jedoch nicht aus, was er wollte.

Weltschaninoff schwieg.

„In dem Fall ... dann später einmal, wenn wir uns nur wieder treffen.“

„Gut, gut, später einmal ... sehr gern ...“ Brummend gab Weltschaninoff seine Einwilligung, schnell und undeutlich, ohne ihn dabei anzusehen oder stehen zu bleiben.

Sie gingen noch eine Weile schweigend nebeneinander weiter, bis Pawel Pawlowitsch mit ihm nicht mehr gleichen Schritt halten konnte.

„Dann also nächstens – auf Wiedersehen,“ sagte er endlich.

„Auf Wiedersehen! Wünsche Ihnen ...“

Weltschaninoff langte zu Haus wieder in schlechtester Laune an. Die Begegnung mit „diesem Menschen“ war doch entschieden eine zu große Zumutung gewesen: kein Wunder, daß seine Nervenkraft nicht ausreichte. Als er zu Bett ging, fragte er sich nochmals: „Was hatte er nur dort im Bierlokal in der Nähe des Friedhofs zu suchen?“

Am nächsten Morgen gedachte er, endlich einmal zu Pogorjelzeffs zu fahren, doch entschloß er sich nur ungern dazu; der bloße Gedanke an die Teilnahme anderer Menschen, auch wenn diese Menschen Pogorjelzeffs waren, dünkte ihm unerträglich. Doch da er wußte, wie sehr sie sich um ihn sorgten, ging es nicht anders, er mußte hinfahren. Plötzlich bildete er sich ein, daß er sich im ersten Augenblick des Wiedersehens aus irgendeinem Grunde unendlich schämen werde.

„Soll ich fahren – oder soll ich nicht fahren?“ überlegte er gerade, indem er sich beeilte, seinen Lunch zu beenden, als plötzlich zu seinem größten Erstaunen Pawel Pawlowitsch ins Zimmer trat.

Weltschaninoff hätte, trotz der Begegnung am Abend vorher, alles eher erwartet, als daß „dieser Mensch“ jemals noch bei ihm vorsprechen würde, und war daher so verblüfft, daß er nicht wußte, was er sagen oder tun sollte, und ihn nur wortlos ansah. Doch Pawel Pawlowitsch bedurfte keines Willkommens: er grüßte, wünschte einen guten Tag und setzte sich dann unaufgefordert in denselben Lehnsessel, in dem er vor drei Wochen gesessen hatte. Weltschaninoff sah plötzlich die Szene des ersten Besuches ganz besonders deutlich vor sich. Beunruhigt und mit einem gewissen Ekel betrachtete er seinen Gast.

„Sie wundern sich?“ fragte Pawel Pawlowitsch, der die Gedanken des anderen am Blick erriet.

Er schien bedeutend aufgeräumter zu sein, als er am Abend auf der Straße gewesen war, doch gleichzeitig verriet alles, daß er ängstlich zu vermeiden suchte, irgendwie zu mißfallen, noch ängstlicher als gestern bei seiner Anrede. Seine äußere Erscheinung hatte sich tatsächlich sehr verändert: Herr Trussozkij war nicht etwa nur anständig, er war sogar fast stutzerhaft gekleidet: enganschließende Beinkleider, eine helle Weste, die Wäsche, Handschuhe und die goldene Lorgnette, die er sich Gott weiß weshalb angelegt hatte, waren tadellos, und seinen Kleidern entströmte sogar ein leiser Wohlgeruch. Über der ganzen Erscheinung lag jedoch etwas, das lächerlich wirkte und das gleichzeitig auf einen seltsamen und unangenehmen Gedanken brachte.

„Ich habe Sie, Alexei Iwanowitsch, natürlich in Erstaunen gesetzt durch meinen Besuch,“ fuhr Pawel Pawlowitsch sichtlich befangen fort, „und – das begreife ich vollkommen ... Ja ... ich finde es, wie gesagt, sehr begreiflich. Aber es besteht doch, denke ich, zwischen den Menschen immer noch etwas – das heißt meiner Überzeugung nach, muß es auch bestehen – nämlich immer noch etwas Höheres, ist es nicht so? Ich meine, etwas Höheres, das über den Dingen und Verhältnissen steht, sogar über den Unannehmlichkeiten, die sich vielleicht mal haben ergeben können ... nicht wahr?“

„Pawel Pawlowitsch, sagen Sie schnell und ohne Zeremonien, was Sie sagen wollen!“ Weltschaninoff sah finster aus.

„In zwei Worten!“ beeilte sich mit ergebenem Eifer Pawel Pawlowitsch. „Ich heirate und will mich sogleich zu meiner Braut begeben. Die Familie meiner Braut lebt augenblicklich gleichfalls auf ihrer Datsche. Ich würde Sie nun um die große Ehre bitten, Sie mit dieser Familie bekannt machen zu dürfen, und bin daher mit der ergebensten Bitte zu Ihnen gekommen“ (Pawel Pawlowitsch neigte sogar untertänigst seinen Oberkörper) „mich dorthin begleiten zu wollen ...“

„Wohin?“

Weltschaninoff sah ihn groß an.

„Zu ihnen, das heißt auf die Datsche, zu den Eltern meiner Braut. Verzeihen Sie, ich rede nicht ganz klar, vielleicht habe ich mich irgendwie nicht richtig ausgedrückt, aber ich fürchte so sehr eine Absage von Ihnen ...“

Und er sah Weltschaninoff bekümmert und herzlich bittend zugleich an.

„Sie wollen, daß ich mit Ihnen jetzt gleich zu Ihrer Braut fahre?“ fragte Weltschaninoff, indem sein Blick schnell die Gestalt des anderen überflog, während er sich noch unschlüssig darüber war, ob er seinen Ohren trauen sollte.

„Ja ...“ bestätigte Pawel Pawlowitsch kleinlaut und plötzlich ganz eingeschüchtert. „Ärgern Sie sich nicht, Alexei Iwanowitsch, und fassen Sie es nicht als Unverschämtheit von mir auf. Es ist nur meine außerordentliche und untertänigste Bitte. Ich dachte, Sie würden es mir vielleicht doch nicht abschlagen ...“

„Es ist ganz unmöglich!“ Weltschaninoff bewegte sich unruhig.

„Es ist ja nur mein größter Wunsch und nichts weiter,“ fuhr jener fort, ihn zu bitten, „aber ich will auch nicht verheimlichen, daß ich noch einen besonderen Grund zu meiner Bitte habe. Doch diesen Grund wollte ich Ihnen erst nachher mitteilen, jetzt aber wollte ich Sie nur ganz außerordentlich bitten ...“

Und er erhob sich vor lauter Höflichkeit vom Stuhle.

„Aber es ist doch ganz unmöglich, was Sie da verlangen, das müssen Sie doch selbst einsehen ...“

Weltschaninoff erhob sich gleichfalls.

„Es ist sehr möglich, Alexei Iwanowitsch, glauben Sie mir! Ich wollte Sie dort nur als meinen Freund vorstellen; und überdies kennen Sie ja die Familie bereits, ich will ja zu Sachlebinins auf die Datsche, zum Staatsrat Sachlebinin.“

„Was, zu wem?“ rief Weltschaninoff.

Das war der Name desselben Staatsrats, den er vor etwa einem Monat überall vergeblich gesucht und auch zu Hause nicht angetroffen –, der also allem Anscheine nach seinen Einfluß zugunsten der Gegner Weltschaninoffs zu verwenden beabsichtigt hatte.

„Nun ja, nun ja,“ bestätigte Pawel Pawlowitsch lächelnd und gleichsam ermutigt durch dessen maßlose Verwunderung, „es ist derselbe, mit dem Sie, wissen Sie noch, damals auf dem Newskij gingen: ich stand auf der anderen Straßenseite und sah zu Ihnen hinüber. Ich wartete damals nur darauf, daß Sie sich von ihm verabschiedeten, um dann selbst zu ihm zu gehen. Vor etwa zwanzig Jahren haben wir zusammen im selben Bureau gearbeitet, übrigens hatte ich an jenem Tage, als ich, nach Ihnen, auf ihn zugehen und mit ihm sprechen wollte, noch gar keine besondere Absicht. Erst seit kurzem, seit einer Woche erst ist es anders ...“

„Aber erlauben Sie, das ist doch, soviel ich weiß, eine höchst anständige Familie!“ wunderte sich Weltschaninoff ganz naiv.

„Was ist denn dabei, daß sie anständig ist?“ Pawel Pawlowitsch lächelte wieder nur mit einer Gesichtshälfte.

„Nein, versteht sich, ich meinte es nicht so ... aber soviel ich bemerken konnte, wenn ich dort vorgesprochen habe ...“

„Sie erinnern sich, oh, Sie erinnern sich noch ganz genau, wie Sie dort gesessen und den Staatsrat zu sprechen gewünscht haben!“ fiel ihm Pawel Pawlowitsch sogleich erfreut ins Wort, „nur haben Sie die Familie damals nicht gesehen. Und er selbst erinnert sich Ihrer auch noch sehr gut und schätzt Sie sehr hoch. Ich habe dort nur mit größter Hochachtung von Ihnen sprechen hören.“

„Aber wie denn, Sie sind doch erst seit drei Monaten Witwer?“

„Oh, die Hochzeit soll ja nicht so bald stattfinden, erst nach neun oder zehn Monaten, wenn das Trauerjahr vorüber ist! Glauben Sie mir, es ist alles in Ordnung. Erstens kennt mich Fedossei Petrowitsch schon von Kindheit an, er hat auch meine verstorbene Frau gekannt, er weiß, wie ich gelebt habe, was man von mir hält, und schließlich: ich bin doch vermögend, und jetzt hat man mich noch auf einen höheren Posten versetzt – das fällt natürlich alles ins Gewicht.“

„Ist es denn wirklich eine Tochter von ihm?“

„Ich werde Ihnen alles ausführlich erzählen,“ versetzte Pawel Pawlowitsch, angenehm berührt, „erlauben Sie, daß ich ein Zigarettchen anrauche? Doch Sie werden sich ja heute selbst von allem überzeugen können. Also erstens – werden solche Leute wie Fedossei Petrowitsch im Dienst bisweilen sehr geschätzt, wenn sie es einmal verstanden haben, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aber außer dem Gehalt und den Gratifikationen, Zuschüssen und noch sonstigen kleinen Summen, die er hier und da als Vorsitzender erhält, gibt’s doch nichts, das heißt, weder Nebenverdienste noch ein Grundkapital. Sie leben gut, aber etwas beiseite legen, das geht nicht, wenn man eine so große Familie hat. Nun sagen Sie sich doch selbst: Fedossei Petrowitsch hat ganze acht Töchter und einen Sohn – der ist der jüngste, noch ein kleiner Bengel. Stirbt Fedossei Petrowitsch heute oder morgen, so bleibt dieser ganzen großen Familie nur die magere Pension. Das bedenken Sie einerseits, und anderseits – acht Töchter! Nun berechnen Sie bloß: wenn jede von ihnen auch nur ein Paar Schuhe braucht – was das nicht allein schon ausmacht! Und von diesen acht sind fünf bereits heiratsfähig, die älteste ist vierundzwanzig – übrigens ganz reizend, doch Sie werden schon selbst sehen! Die sechste, die ist fünfzehn Jahre alt und besucht noch das Gymnasium. Den fünf ältesten müssen also jetzt Männer verschafft werden, was am besten möglichst bald geschehen soll. Mithin müssen die Mädchen Bälle mitmachen – was das alles kostet, bedenken Sie doch nur! Und da bin ich nun plötzlich aufgetaucht, bin der erste Freier in ihrem Hause – sie aber, sie kennen mich ganz genau, das heißt, ich meine, sie sind über meine Vermögensverhältnisse mit aller Sicherheit unterrichtet. Nun, und das ist alles.“

Pawel Pawlowitsch gab seine Erklärung mit sichtlich sehr gehobenen Gefühlen.

„Sie haben um die Älteste angehalten?“

„N–ein, ich ... nein, nicht um die Älteste; ich habe um jene sechste angehalten, um die, die jetzt noch das Gymnasium besucht.“

„Was! ...“ Weltschaninoff lachte unwillkürlich auf, „aber Sie sagten doch, die sei erst fünfzehn!“

„Ja, fünfzehn ist sie jetzt, aber nach neun Monaten wird sie sechzehn Jahre alt sein, sechzehn Jahre und drei Monate – also was ist denn? Da es aber jetzt wegen des Trauerjahres und ihrer Jugend nicht geht, so soll vorläufig noch nichts davon verlauten, es bleibt ganz unter uns ... Glauben Sie mir, es ist alles in Ordnung!“

„Aber noch nicht ganz entschieden?“

„Nein, wieso, gewiß entschieden! Glauben Sie mir, es ist wirklich alles in Ordnung ...“

„Und die Kleine, weiß die auch was davon?“

„Sehen Sie, nur vorläufig, nur anstandshalber wird jetzt noch nicht davon gesprochen, – doch wissen! wie sollte sie’s denn nicht wissen!“ Pawel Pawlowitsch lächelte selbstgefällig. „Nun, wie steht’s, werden Sie mir die Ehre erweisen, Alexei Iwanowitsch?“ wagte er ganz zaghaft zu fragen.

„Aber weshalb soll ich denn hin? Übrigens,“ unterbrach er sich schnell, „da ich selbstverständlich auf keinen Fall mit Ihnen fahren werde, so brauchen Sie mir auch weiter gar nicht Ihre Gründe anzuführen.“

„Alexei Iwanowitsch ...“

„Ja, was glauben Sie denn, – daß ich mich neben Sie setzen und mit Ihnen hinfahren werde? – was fällt Ihnen ein!“

Wieder überkam ihn jenes widerliche, abstoßende Gefühl, das durch das Geschwätz und die Erzählung Pawel Pawlowitschs eine Weile in den Hintergrund gedrängt worden war. Noch einen Augenblick, und er hätte ihn zum Teufel gejagt. Ja, aus irgendeinem Grunde ärgerte er sich sogar über sich selbst.

„Setzen Sie sich, Alexei Iwanowitsch, setzen Sie sich neben mich und Sie werden es nicht bereuen!“ fuhr Pawel Pawlowitsch mit innig flehender Stimme fort. „Nein, nein, nein!“ beschwichtigte er sogleich mit beiden Händen, als er Weltschaninoffs ungeduldige und energische Handbewegung bemerkte. „Nein, Alexei Iwanowitsch, Alexei Iwanowitsch, warten Sie noch einen Augenblick mit der Entscheidung, fassen Sie nicht voreilig Ihren Entschluß! Ich sehe, daß Sie mich falsch verstanden haben: ich begreife es ja selbst nur zu gut, daß wir nicht zu Kameraden geschaffen sind, daß weder Sie mein Freund sind, noch ich Ihr Freund sein kann; so einfältig bin ich denn doch nicht, um das nicht zu verstehen. Diese Gefälligkeit aber, um die ich Sie jetzt bitte, wird und soll Sie zu nichts weiter verpflichten. Übermorgen reise ich ab, für immer, also nur diese eine Fahrt! Lassen Sie nur diesen einen Tag eine Ausnahme bilden. Auf dem Wege zu Ihnen setzte ich meine ganze Hoffnung auf – nun, auf gewisse besondere Gefühle Ihres Herzens, Alexei Iwanowitsch, – gerade jene Gefühle, die vielleicht die letzte Zeit in Ihrem Herzen erweckt hat ... Jetzt habe ich mich doch, denke ich, klar genug ausgedrückt, oder noch nicht?“

Pawel Pawlowitschs Erregung hatte einen kaum glaublichen Grad erreicht. Weltschaninoff sah ihn seltsam an.

„Sie bitten mich um eine Gefälligkeit?“ fragte er nachdenklich, „und ... bestehen mit aller Gewalt darauf, daß ich sie Ihnen erweisen soll, – das kommt mir verdächtig vor. Ich will mehr wissen.“

„Die ganze Gefälligkeit soll nur darin bestehen, daß Sie mit mir fahren. Dann aber, wenn wir von dort zurückgekehrt sind, werde ich alles vor Ihnen aufdecken: es soll meine Beichte sein. Haben Sie doch Zutrauen zu mir, Alexei Iwanowitsch!“

Doch Weltschaninoff weigerte sich immer noch, und zwar tat er das um so kategorischer, als ihn eine gewisse Bosheit plagte. Diese Bosheit – sie war wie ein Gefühl und ein Gedanke zugleich – regte sich schon seit einiger Zeit in ihm, richtiger: von dem Augenblick an, als Pawel Pawlowitsch von seiner Braut zu sprechen begonnen. War es nun einfach Neugier, oder war es ein vorläufig noch ganz unklares Sichhingezogenfühlen, das wußte er weder, noch wollte er darüber nachdenken, – aber Tatsache war, daß ihn das Verlangen plagte, einzuwilligen. Und je mehr es ihn plagte, um so hartnäckiger verteidigte er sich dagegen, nur wollte das nicht viel helfen. Er saß, den Arm auf den Tisch gestützt, und schwieg, während Pawel Pawlowitsch ihn mit allen Künsten zur Einwilligung zu bewegen suchte.

„Nun gut, ich fahre,“ willigte er plötzlich ein und erhob sich unruhig, fast erregt von seinem Platz.

Pawel Pawlowitsch geriet förmlich in Ekstase.

„Nein, aber jetzt, jetzt müssen Sie sich nur noch danach ankleiden, Alexei Iwanowitsch,“ meinte er, mit einem Lächeln ihn musternd und sichtlich sehr zufrieden damit, daß Weltschaninoff sogleich Miene gemacht hatte, sich umzukleiden, „so, wie nur Sie sich zu kleiden verstehn!“

„Wenn ich nur wüßte, was der Mensch mit diesem Besuch eigentlich bezwecken will?“ fragte sich Weltschaninoff derweilen mißtrauisch.

„Aber ich müßte Sie doch noch um etwas bitten, Alexei Iwanowitsch. Wenn Sie nun schon so gut gewesen sind, einzuwilligen, mich zu begleiten, dann seien Sie auch mein Ratgeber.“

„Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel in dieser Frage: mit dem Flor oder ohne Flor? Was ist anständiger: soll ich ihn abnehmen oder soll ich ihn nicht abnehmen?“

„Ganz wie Sie wollen.“

„Nein, ich will Ihre Meinung hören: was Sie täten, wenn Sie Trauer hätten? Ich dachte, wenn ich den Flor behalte, so spricht das von der Beständigkeit meiner Gefühle, also wäre es in gewissem Sinne eine gute Empfehlung.“

„Selbstverständlich nehmen Sie ihn ab.“

„Wirklich? Meinen Sie? Und sogar selbstverständlich finden Sie es?“ Pawel Pawlowitsch dachte nach. „Nein, ich möchte ihn doch lieber behalten ...“

„Wie Sie wollen.“ – „Er scheint mir doch nicht zu trauen, das ist gut,“ dachte Weltschaninoff.

Endlich war er fertig und nahm seinen Hut. Pawel Pawlowitsch betrachtete ihn mit sichtlichem Wohlgefallen, und in seinem Mienenspiel wie in seinem ganzen Wesen blickte merkliche Hochachtung und sogar ein gewisser Stolz durch. Weltschaninoff wunderte sich über ihn, doch mehr noch über sich selbst. Vor dem Portal hielt eine elegante Kutsche.

„Ah, Sie hatten also auch den Wagen schon bereit? Waren Sie denn so fest davon überzeugt, daß ich mitfahren würde?“

„Den Wagen hatte ich zunächst für mich genommen, doch war ich – jawohl, ich war so gut wie überzeugt, daß Sie einwilligen würden,“ antwortete Pawel Pawlowitsch mit der Miene eines vollkommen glücklichen Menschen.

„Ei, mein Bester,“ bemerkte Weltschaninoff mit einem kleinen gereizten Auflachen, während die Pferde anzogen und der Wagen davonrollte, „ist das Vertrauen, das Sie in mich setzen, vielleicht nicht doch etwas zu groß?“

„Aber doch nicht Ihnen, Alexei Iwanowitsch, Ihnen steht es doch nicht zu, mich deshalb einen Narren zu nennen?“ versetzte Pawel Pawlowitsch mit fester Stimme, aus der man deutlich seine Überzeugung heraushörte.

„Aber Lisa?“ dachte Weltschaninoff, vermied jedoch – sogar mit einem gewissen Schrecken – schnell jeden weiteren Gedanken an sie, als wäre er im Begriff gewesen, etwas Heiliges zu entweihen. Und plötzlich kam er sich selbst so kleinlich, so nichtswürdig vor, und jener boshafte Gedanke, oder jenes Gefühl der Neugierde, das ihn verführt hatte, mit Pawel Pawlowitsch zu dessen Braut zu fahren, erschien ihm so nichtig und erbärmlich ... und im Augenblick wollte er allem den Rücken kehren und aus dem Wagen springen, selbst wenn er vorher diesen Pawel Pawlowitsch noch hätte durchprügeln müssen. Doch da begann dieser von neuem zu sprechen und die Versuchung nahm wieder sein Herz gefangen.

„Alexei Iwanowitsch, verstehen Sie was von Schmucksachen?“

„Von was für Schmucksachen?“

„Nun so, von Damenschmuck, von Goldsachen und Brillanten?“

„Ja. Was ist denn?“

„Ich würde gern ein kleines Geschenk mitbringen. Raten Sie mir: soll ich oder soll ich nicht?“

„Meiner Meinung nach – besser nicht.“

„Ich würde es aber so gern ... Nur – was könnte man wohl kaufen? Eine ganze Garnitur, eine Brosche, Ohrringe und ein Armband, oder nur eine einzige Sache?“

„Wieviel wollen Sie dafür ausgeben?“

„Nun so – vier- bis fünfhundert Rubel.“

„O – oh!“

„Zu viel, was?“ fragte Pawel Pawlowitsch ganz erschrocken.

„Kaufen Sie ein Armband für hundert Rubel.“

Pawel Pawlowitsch schien durch diese Zumutung förmlich beleidigt zu sein. Er wollte gern möglichst viel bezahlen und gleich eine ganze Garnitur kaufen. Ihm auszureden, was er sich nun einmal in den Kopf gesetzt hatte, war unmöglich. Sie fuhren also zu einem Juwelier. Es endete aber doch damit, daß Pawel Pawlowitsch nur ein Armband kaufte, und zwar nicht dasjenige, das ihm selbst am meisten gefiel, sondern das, zu welchem Weltschaninoff geraten hatte. Übrigens wollte er zuerst beide Armbänder kaufen. Als der Juwelier, der für das eine Armband hundertfünfundsiebzig Rubel verlangt hatte, schließlich nur hundertfünfzig verlangte, ärgerte sich Pawel Pawlowitsch aufrichtig über ihn: er hätte mit Vergnügen auch zweihundert gezahlt, so groß war sein Wunsch, ein möglichst teures Geschenk zu kaufen.

„Das hat nichts zu sagen, daß ich mit dem Schenken etwas voreilig bin,“ versicherte er, als sie wieder im Wagen saßen, „man ist dort gar nicht zeremoniell. Und die Unschuld freut sich über Geschenke,“ meinte er mit einem schlauen und höchst vergnügten Lächeln. „Sehen Sie, Alexei Iwanowitsch, Sie lachten vorhin darüber, daß sie erst fünfzehn Jahre alt ist; aber mich, sehen Sie, hat ja gerade das gepackt, daß sie noch das Gymnasium besucht, mit dem Büchertäschchen am Arm, und mit Heftchen und Federn drin, hehe! Gerade dieses Büchertäschchen hat’s mir angetan, das hat meine Gedanken zuerst gefangen genommen! Ich bin nämlich eigentlich nur für die Unschuld, Alexei Iwanowitsch. Es liegt mir weniger an einem schönen Gesicht, als eben gerade daran. Wenn man so sieht, wie sie dasitzen mit einer Freundin in einem Winkel und kichern und kichern, als gebe es Gott weiß was! Und worüber wird denn gekichert? Nur darüber, daß ein Kätzchen vom Tisch aufs Sofa gesprungen ist und sich wie ein Knäuelchen zusammengerollt hat! ... Das duftet ja förmlich nach frischen Äpfeln! Aber – soll ich nicht doch den Flor abnehmen?“

„Wie Sie wollen.“

„Ich tu’s!“

Er nahm den Hut ab, riß den Trauerflor vom Hutboden und warf ihn aus dem Fenster. Weltschaninoff konstatierte, daß sein Gesicht geradezu strahlte und die schönsten Hoffnungen verriet, als er seinen kahlen Kopf wieder mit dem Hut bedeckte.

„Sollte er wirklich das sein, was er zu sein scheint?“ fragte sich Weltschaninoff in ausgesprochener Wut, „sollte wirklich keine besondere Absicht dahinterstecken, daß er mich aufgefordert hat, mit ihm zu fahren? Sollte er wirklich nur auf meine Anständigkeit rechnen?“ Durch diese Annahme fühlte er sich fast gekränkt. „Und überhaupt, was ist er eigentlich – ein Narr, ein Esel oder nichts als ein ‚ewiger Gatte‘? Nein, das geht nicht so weiter! ...“

XII.
Bei Sachlebinins.

Sachlebinins waren in der Tat eine „höchst anständige Familie“ und der Staatsrat selbst ein geachteter, einflußreicher und tüchtiger Beamter. Doch war auch das, was Pawel Pawlowitsch über die Vermögenslage gesagt hatte, durchaus richtig: Sie lebten gut, starb er aber heute oder morgen, so blieb nichts übrig.

Der Hausherr empfing Weltschaninoff in der freundlichsten und herzlichsten Weise: aus dem früheren Feinde schien ein aufrichtiger Freund geworden zu sein.

„Nun, ich gratuliere, so hat sich alles zum besten gewandt!“ kam er sogleich in einer etwas gönnerhaft gutmütigen Weise auf den Prozeß zu sprechen. „Ich habe selbst auf einen gütlichen Vergleich hingewirkt und Pjotr Karlowitsch“ (Weltschaninoffs Advokat) „ist ja in solchen Sachen eine Kraft, auf die man sich verlassen kann. Sechzigtausend Rubel bekommen Sie ohne alle Scherereien, die sind Ihnen ganz fraglos sicher. So wie die Dinge jetzt liegen. Andernfalls hätte sich der Prozeß noch drei Jahre hinziehen können.“

Weltschaninoff wurde sogleich Madame Sachlebinin vorgestellt, einer korpulenten, ältlichen Dame mit einem ziemlich einfachen, etwas müden Gesicht. Nach und nach erschienen dann auch die Töchter, einzeln oder paarweis. Aber es kamen ihrer doch schon gar zu viele, nicht acht, sondern ganze zehn oder zwölf – Weltschaninoff konnte sie nicht einmal zählen, da es ein fast ununterbrochenes Kommen und Gehen war. Doch befanden sich unter ihnen auch mehrere Freundinnen aus den in der Nachbarschaft liegenden Landhäusern. Das Landhaus, in dem Sachlebinins wohnten, – ein großes hölzernes, in undefinierbarem, doch recht eigentümlichem Stil gebautes Haus mit verschiedenen Anbauten – war von einem großen Garten umgeben; in diesem Garten lagen in ziemlicher Entfernung noch drei oder vier Landhäuser; und da der Garten allen Anwohnern gemeinsam gehörte, so war es selbstverständlich, daß die jungen Mädchen mit den Altersgenossinnen aus den anderen Landhäusern Freundschaft geschlossen hatten.

Es fiel Weltschaninoff nicht schwer, alsbald zu erraten, daß sein Erscheinen niemanden überrascht, daß man ihn vielmehr erwartet hatte und sein Besuch als Freund Pawel Pawlowitschs von diesem womöglich feierlich angemeldet worden war. Sein in solchen Angelegenheiten gut geschulter Scharfblick – Erfahrung lehrt – durchschaute sogar noch mehr als das: der so überaus liebenswürdige Empfang seitens der Eltern, sowie das etwas eigentümliche Verhalten der jungen Damen und nicht zuletzt auch ihre festliche Kleidung (es war allerdings ein Feiertag, aber immerhin –!) – alles das rief in ihm den Verdacht hervor, daß Pawel Pawlowitsch ihm ein Stückchen gespielt und – was sehr möglich war – angedeutet hatte, natürlich ohne irgend etwas Genaueres zu sagen, daß sein Freund Weltschaninoff ein sich langweilender Junggeselle sei, der „zur besten Gesellschaft gehört und vermögend ist“, und daß er sich vielleicht endlich einmal entschließen werde, „seine Freiheit aufzugeben“, zumal er gerade jetzt noch ein Vermögen dazu geerbt hatte. Allem Anscheine nach war die älteste Tochter, Katerina Fedossejewna, – dieselbe, die schon vierundzwanzig Jahre alt sein sollte und die Pawel Pawlowitsch als „reizend“ bezeichnet hatte – sogar ein wenig darauf vorbereitet worden. Wenigstens zeichnete sie sich durch ihre Kleidung wie durch eine ganz besonders sorgfältige, sehr reizvolle und originelle Frisur ihres sehr schönen blonden Haares aus. Die Schwestern aber und die Freundinnen blickten alle so drein, als wüßten auch sie es ganz genau, daß Weltschaninoff „Katjäs wegen“ sich hatte einführen lassen und nur gekommen war, „um sie zu sehen“. Ihre Blicke und einzelne hin und wieder entschlüpfende Bemerkungen schienen ihm die Richtigkeit dieser Annahme noch zu bestätigen.

Katerina Fedossejewna war eine hoch gewachsene, fast üppige Blondine mit einem sympathischen lieben Gesicht, still, sehr wenig temperamentvoll, vielleicht sogar ein wenig phlegmatisch. „Sonderbar, daß eine solche sitzen geblieben ist,“ dachte Weltschaninoff unwillkürlich, indem er sie mit aufrichtigem Wohlgefallen betrachtete, „mag sie auch keine Mitgift bekommen und später einmal, vielleicht schon bald, in ihren Formen sozusagen ausfließen – aber für das, was sie vorläufig ist, gibt es doch so viele Liebhaber ...“ Auch die übrigen Schwestern sahen nicht übel aus und unter den Freundinnen schienen sogar ein paar recht pikante und hübsche Gesichtchen zu sein. Die Sache begann ihn zu interessieren, übrigens war er ja auch mit besonderen Absichten zu ihnen gekommen.

Nadeschda Fedossejewna, die sechste Tochter, die noch die Schule besuchende „Erwählte“ Pawel Pawlowitschs, ließ auf sich warten. Weltschaninoff sah mit wachsender Ungeduld ihrem Erscheinen entgegen, worüber er sich selbst wunderte und sich sogar heimlich auslachte. Endlich erschien sie – nicht ohne mit ihrem Erscheinen einen gewissen Eindruck zu machen – am Arme einer älteren, sehr lebhaften Freundin. Diese Freundin, Marja Nikititschna mit Namen – eine mittelgroße Erscheinung, brünett, mit einem komischen Gesicht, wurde, wie es sich sogleich herausstellen sollte, von Pawel Pawlowitsch ganz besonders gefürchtet. Sie lebte als Hauslehrerin der Kinder einer bekannten Familie in einem der Nachbarhäuser und wurde, da sie bereits dreiundzwanzig Jahre zählte, auch nichts weniger als dumm und sehr lustig war, von den jungen Mädchen nahezu verehrt und von der ganzen Familie wie eine Verwandte behandelt. Ersichtlich war sie auch Nadjä[10] in diesem Augenblick eine unentbehrliche Stütze. Weltschaninoff bemerkte sogleich, daß alle Mädchen sich gegen Pawel Pawlowitsch verschworen haben mußten, die Freundinnen nicht ausgenommen, und schon wenige Augenblicke nach Nadjäs Erscheinen war er überzeugt, daß sie, die Hauptperson, ihn einfach haßte. Gleichzeitig stellte er fest, daß Pawel Pawlowitsch nichts davon bemerkte oder wenigstens nicht bemerken wollte. Nadjä war zweifellos die hübscheste von allen Schwestern: eine kleine Brünette mit dem Mienenspiel eines echten Wildfangs und der Dreistigkeit einer geborenen Nihilistin, ein spitzbübisches Teufelchen mit blitzenden Augen, einem reizenden Lächeln – das übrigens auch recht boshaft und spöttisch sein konnte – einem entzückenden Mund und noch entzückenderen Zähnchen, ein schlankes, strammes Figürchen, mit den ersten eigenen Denkversuchen im sprechenden Ausdruck des Gesichtchens, das aber dabei doch noch ganz kindlich wirkte. Ihre fünfzehn Jahre verrieten sich in jedem Schritt, in jedem Wort. Später stellte es sich heraus, daß Pawel Pawlowitsch sie zum erstenmal tatsächlich mit dem Büchertäschchen gesehen hatte.

Die Überreichung des Geschenks mißlang vollkommen und machte sogar einen sehr unangenehmen Eindruck. Pawel Pawlowitsch trat sogleich, kaum daß er seine „Braut“ erblickt hatte, auf sie zu und überreichte ihr mit einem verlegenen Lächeln das Etui als Ausdruck seines „Dankes für das Vergnügen, das ihm die von Nadeschda Fedossejewna während seines letzten Besuches gesungene Romanze bereitet ...“ Er kam aus dem Konzept, stockte, wußte sich nicht zurechtzufinden, stand wie ein Verlorener vor ihr und wollte ihr das Etui mit dem Armband förmlich in die Hand drücken. Nadeschda Fedossejewna errötete vor Zorn und Scham, versteckte schnell beide Hände hinter dem Rücken und wandte sich brüsk an die Mama, die gleichfalls etwas peinlich berührt schien, und sagte schnippisch:

„Ich mag es nicht, maman!“

„Nimm es entgegen und bedank dich,“ sagte der Vater mit ruhiger Strenge, doch war auch er offenbar nicht sehr erbaut von dieser Überraschung. „Überflüssig, mein Lieber, überflüssig!“ brummte er in leise zurechtweisendem Tone.

Nadjä nahm, da ihr nichts anderes übrig blieb, mit niedergeschlagenen Augen das Etui in Empfang und machte einen Knix, wie ihn kleine Mädchen zu machen pflegen. Eine der Schwestern trat darauf zu ihr, um das Geschenk zu betrachten, doch Nadjä reichte ihr sogleich das Etui, ohne es vorher zu öffnen, womit sie natürlich zeigen wollte, daß sie die Schmucksache überhaupt nicht zu sehen wünsche. Das Armband wurde herausgenommen und ging von Hand zu Hand, doch alle betrachteten es stumm, einige sogar mit kaum merklichem Spottlächeln. Nur die Mama äußerte halblaut, daß es „sehr nett“ sei. Pawel Pawlowitsch wäre am liebsten in die Erde versunken.

Da rettete Weltschaninoff die Situation.

Lebhaft und mit seiner ganzen Routine knüpfte er sogleich ein Gespräch an, benutzte den ersten besten Gedanken, der ihm kam, und es vergingen keine fünf Minuten, da hatte er bereits die Aufmerksamkeit aller Anwesenden gefesselt. Die Kunst, in Gesellschaft zu plaudern, beherrschte er meisterhaft, – das heißt die Kunst, vollkommen harmlos zu scheinen und zu tun, als halte er seine Zuhörer für genau so harmlos und offenherzig, wie er es selbst ist. Mit fabelhafter Naturtreue gelang es ihm auch, wenn es nötig war, den glücklichsten und heitersten Menschen darzustellen. Nicht minder geschickt verstand er z. B. eine scharfsinnige, interessante Bemerkung, eine witzige Anspielung oder eine humorvolle Anekdote so nebenbei mit ins Gespräch einzuflechten, als habe sich das ganz von selbst ergeben, als bemerke er es überhaupt nicht, oder als sei alles Geistvolle ganz selbstverständlich – während in Wirklichkeit sowohl die Bemerkung wie die Anspielung und die betreffende Anekdote vielleicht schon viel früher einmal von ihm ersonnen und auswendig gelernt und wohl schon manches liebe Mal angebracht worden waren. Doch diesmal kam seiner Kunst noch die Natur selbst zu Hilfe: er fühlte sich zu einer geistvollen Unterhaltung so aufgelegt, wie noch nie; es war da irgend etwas, das ihn einfach mit sich selbst fortriß; und die Überzeugung, daß in wenigen Minuten alle diese Augen nur auf ihn gerichtet sein, alle Anwesenden nur ihm allein zuhören, nur mit ihm allein sprechen und nur über seine Witze lachen würden, gab ihm die Sicherheit der Siegesgewißheit und inspirierte ihn in einer Weise, daß er förmlich sich selbst übertraf. Und in der Tat, bald hörte man leises Lachen und schon ließen sich auch andere ins Gespräch hineinziehen – denn das verstand er vorzüglich, andere gleichfalls zum Reden zu bringen – und schon begannen drei oder vier zu gleicher Zeit zu sprechen, so lebhaft war man geworden. Sogar das gelangweilte, müde Gesicht der Madame Sachlebinin erhellte sich vor Freude, und mit Katerina Fedossejewna war dasselbe der Fall: sie hörte ihm mit dem lebhaftesten Interesse zu und schien überhaupt nur noch für ihn Augen und Ohren zu haben.

Nadjä beobachtete ihn unausgesetzt mit prüfenden Blicken etwas unter der Stirn hervor – sie war augenscheinlich gegen ihn eingenommen. Das trieb ihn nur noch mehr an, den ganzen Zauber seiner Liebenswürdigkeit ins Treffen zu führen. Der „boshaften“ Marja Nikititschna gelang es aber doch, eine ihm ziemlich peinliche Stichelei anzubringen: sie behauptete plötzlich – was sie sich selbst ausgedacht hatte – daß Pawel Pawlowitsch bei seinem Besuch tags zuvor von ihm als von seinem ehemaligen Spielkameraden und Jugendfreund gesprochen habe, wodurch sie zu verstehen gab, daß sie ihn für ebenso alt halte, wie Pawel Pawlowitsch, der doch um ganze sieben Jahre älter war, als Weltschaninoff. Doch auch der boshaften Marja Nikititschna gefiel er schließlich. Pawel Pawlowitsch war einfach wie vor den Kopf gestoßen. Obschon er wußte, welch ein glänzender Gesellschafter sein „Freund“ sein konnte, und sich anfangs aufrichtig über seinen Erfolg gefreut hatte – er lachte zunächst über jedes gelungene Wort oder kicherte beifällig und mischte sich sogar selbst ins Gespräch – so verstummte er doch allmählich, schien gleichsam nachdenklich zu werden, und zu guter Letzt sprach sogar eine gewisse offenkundige Verstimmtheit aus seinem verbissenen Gesicht.

„Nun, Sie sind ja ein Gast, um dessen Unterhaltung man sich nicht erst zu bemühen braucht,“ meinte schließlich der alte Sachlebinin heiter, indessen er sich vom Stuhl erhob, um sich in sein Arbeitszimmer zu begeben. Dort harrte seiner eine ganze Menge Schriftstücke, die er, obschon es ein Feiertag war, alle noch durchsehen wollte. „Und stellen Sie sich vor, ich hielt Sie für den schlimmsten Hypochonder unter allen unseren Junggesellen. Da sieht man wieder, wie man sich mitunter täuschen kann!“

Im Saal stand ein Flügel; Weltschaninoff fragte, wer sich von den Damen mit Musik beschäftige, und plötzlich wandte er sich an Nadjä:

„Sie singen, nicht wahr?“

„Wer hat Ihnen das gesagt?“ fragte Nadjä schnippisch.

„Pawel Pawlowitsch sagte es doch vorhin.“

„Das ist nicht wahr! Ich singe gar nicht! Oder wenn ich singe, dann tue ich es nur so zum Ulk. Ich habe überhaupt keine Stimme.“

„Auch ich habe keine Stimme und doch singe ich.“

„Ja? Werden Sie uns etwas vorsingen? Nun, dann werde auch ich singen!“ rief Nadjä mit aufblitzenden Augen, „aber nicht jetzt, später, nach dem Essen! – Ich kann Musik nicht ausstehen,“ fuhr sie fort, „dieses ewige Geklimper langweilt mich furchtbar. Bei uns wird doch vom Morgen bis zum Abend gespielt und gesungen – Katjä allein übt ja schon den ganzen Tag.“

Weltschaninoff griff sofort die Bemerkung auf und es stellte sich heraus, daß von allen in der Tat nur Katerina Fedossejewna sich ernstlich mit Musik beschäftigte. Da wandte er sich sogleich mit der Bitte an sie, doch etwas vorzuspielen. Ersichtlich berührte es alle sehr angenehm, daß er sich an Katjä gewandt hatte, und maman errötete sogar vor Freude. Katerina Fedossejewna erhob sich lächelnd und trat an den Flügel: und mit einemmal – es kam ihr selbst ganz unerwartet – errötete sie gleichfalls, und plötzlich schämte sie sich entsetzlich, daß sie, die schon so groß und schon vierundzwanzig Jahre alt und schon so üppig war, wie ein kleines Mädchen erröten konnte, – und alles das las man in ihrem Gesicht, während sie sich hinsetzte, um die Bitte des Gastes zu erfüllen. Sie spielte irgend etwas von Haydn und spielte es tadellos, wenn auch ohne besonderen Ausdruck. Offenbar: sie schämte sich. Nachdem sie es beendet hatte, begann Weltschaninoff animiert, nicht ihr Spiel, sondern Haydn und namentlich jene kleine Komposition von ihm, die sie gespielt hatte, beifällig zu beurteilen, und das war ihr augenscheinlich so angenehm und sie hörte so dankbar und glücklich das Lob an, das nicht ihr, sondern Haydn galt, daß Weltschaninoff sie unwillkürlich aufmerksamer und fast sogar zärtlich betrachtete: „Ei, du bist ja reizend!“ sprach sein Blick – und plötzlich errieten alle diesen Blick, und auch Katerina Fedossejewna erriet ihn.

„Sie haben da einen herrlichen Garten,“ wandte er sich wieder an alle, nach einem Blick durch die Glastür der Veranda, „ich möchte einen Vorschlag machen: gehen wir jetzt alle etwas spazieren.“

„Ja, ja, gehen wir, gehen wir!“ erscholl von allen Seiten fröhlicher Beifall, als hätte er den größten Herzenswunsch aller Anwesenden ausgesprochen.

Im Garten blieb man dann bis zum Mittagessen, das nach der Petersburger Sitte wie gewöhnlich um fünf Uhr serviert wurde. Madame Sachlebinin, die nicht gut ohne ein Nachmittagsschläfchen auskam, konnte sich doch nicht enthalten, mit den übrigen hinauszugehen, blieb aber dann „zur Erholung“ auf der Veranda sitzen, wo sie alsbald einschlummerte. Im Garten wurden die Beziehungen zwischen Weltschaninoff und den jungen Mädchen noch freundschaftlicher. Er bemerkte alsbald, daß aus den Nachbarvillen drei Jünglinge sich zu ihnen gesellt hatten. Einer von ihnen war Student, ein anderer erst Gymnasiast. Sie suchten jeder sogleich die entsprechende, junge Dame auf, um derentwillen sie offenbar nur gekommen waren. Der dritte „junge Mann“ – ein zwanzigjähriger Jüngling mit struppigem Haar und finsterem Gesicht, das eine große blaue Brille noch mehr verfinsterte – begann schnell und ärgerlich mit Marja Nikititschna und Nadjä über irgend etwas zu tuscheln. Er musterte auch Weltschaninoff mit strengem Blick und schien es offenbar für seine Pflicht zu halten, ihn mit der größten Verachtung zu behandeln. Einige der Mädchen schlugen vor, schneller „mit dem Spiele“ zu beginnen. Auf Weltschaninoffs Frage, was denn gespielt werden solle und welche Spiele sie gewöhnlich bevorzugten, wurde ihm die vielstimmige Antwort zuteil, daß sie gewöhnlich „alle Spiele“ spielten, am Abend aber komme meist ein Sprichwörterspiel an die Reihe – und sie erklärten ihm dasselbe ausführlich folgendermaßen: Alle setzen sich und einer oder eine muß fortgehen und sich die Ohren zuhalten; die Sitzenden wählen dann irgendein Sprichwort, z. B. „Eile mit Weile“, und nachdem dann der, welcher fortgegangen, wieder zurückgerufen ist, muß jeder oder jede der Reihe nach einen Satz sagen: die erste einen, in dem unbedingt das Wort „Eile“ vorkommen muß, die zweite einen Satz mit dem Wort „mit“, und so weiter. Jener aber „müsse unbedingt die richtigen Wörter herausmerken und das Sprichwort erraten“.

„Das muß ja sehr amüsant sein,“ meinte Weltschaninoff.

„Ach nein, gar nicht, es ist furchtbar langweilig!“ antworteten zwei oder drei Stimmen zugleich.

„Oh, aber zuweilen spielen wir auch Theater!“ wandte sich plötzlich Nadjä ihm zu. „Sehen Sie dort den großen Baum mit dem Buschwerk ringsherum: dort, hinter dem Baum, sind die Kulissen – es sind ja keine, aber wir sagen so – dort sitzen dann die Schauspieler, gleichviel was sie da sind, König oder Königin, oder die Prinzessin, oder der Held und Liebhaber – wie es ein jeder selbst will. Und jeder tritt dann auf, wenn er Lust hat und redet, was ihm einfällt. Nun und so kommt denn dabei irgend etwas heraus.“

„Das muß ja allerliebst sein!“ meinte wiederum Weltschaninoff in lobender Anerkennung der Leistungen.

„Ach nein, schrecklich langweilig! Zuerst ist es ganz lustig, aber zum Schluß wird es immer blödsinnig, denn niemand versteht irgendwie abzuschließen. Ja, mit Ihnen, da wäre es was anderes, wenn Sie mitspielen wollten. Wir glaubten doch, daß Sie ein Freund von Pawel Pawlowitsch seien, aber da stellt es sich jetzt heraus, daß er einfach nur geprahlt hat. Ich bin sehr froh, daß Sie gekommen sind ... und das – aus einem besonderen Grunde ...“

Sie sah ihn sehr ernst und bedeutsam an und kehrte wieder zu ihrer Marja Nikititschna zurück.

„Das Sprichwörterspiel werden wir am Abend spielen,“ tuschelte plötzlich vertrauensvoll und mitteilsam eine der kleinen Freundinnen Weltschaninoff zu, – eine, die er bis dahin noch kaum beachtet und mit der er noch kein Wort gesprochen hatte, „und wenn wir dann alle Pawel Pawlowitsch auslachen, müssen Sie mitlachen, ja?“

„Ach, wie gut das ist, daß Sie gekommen sind, sonst ist es bei uns immer so langweilig!“ teilte ihm freundschaftlich eine andere Kleine mit, die er überhaupt noch nicht bemerkt hatte, und die plötzlich Gott weiß woher aufgetaucht war – eine kleine Rothaarige mit Sommersprossen und einem vom Laufen höchst komisch geröteten Gesicht.

Pawel Pawlowitschs Unruhe wurde immer größer. Weltschaninoff dagegen schloß inzwischen Freundschaft mit Nadjä, die ihn längst nicht mehr mißtrauisch betrachtete, vielmehr jede Absicht, ihn genauer zu prüfen, vergessen zu haben schien, und vorläufig nur lachte und lief und herumhüpfte und zweimal plötzlich sogar seine Hand ergriff. Sie war unsagbar glücklich, Pawel Pawlowitsch jedoch schenkte sie nicht die geringste Beachtung, als existiere er überhaupt nicht. Bald hatte Weltschaninoff sich überzeugt, daß eine regelrechte Verschwörung gegen Pawel Pawlowitsch geplant war. Nadjä und die halbe Schar der Mädchen führte Weltschaninoff nach der einen Seite des Gartens, während gleichzeitig die andere halbe Schar Pawel Pawlowitsch unter verschiedenen Vorwänden nach der entgegengesetzten Seite zu entführen suchte, was jedoch nicht gelang. Pawel Pawlowitsch riß sich nämlich plötzlich los und eilte schnurstracks zu Weltschaninoff und Nadjä, die beide ordentlich erschraken, als sein kahler, unruhig aufhorchender Schädel zwischen ihnen auftauchte. Zu guter Letzt scheute er sich gar nicht mehr, offen seine Eifersucht zu zeigen, – die Naivität seines Gebarens war bisweilen mehr als erstaunlich. Weltschaninoff konnte nicht umhin, Katerina Fedossejewna nochmals mit besonderem Interesse zu betrachten: sie war sich jetzt natürlich schon klar darüber, daß er durchaus nicht um ihretwillen gekommen war und sich bereits gar zu lebhaft für Nadjä interessierte, doch der Ausdruck ihres Gesichts blieb ebenso lieb und gut, wie er vorher gewesen war. Sie schien allein schon deshalb glücklich zu sein, weil sie gleichfalls bei ihnen sein und mit anhören konnte, was der neue Gast sprach; leider verstand es die Ärmste nur gar nicht, sich auch selbst geschickt am Gespräch zu beteiligen.

„Wie reizend Ihre Schwester Katerina Fedossejewna ist!“ sagte er leise zu Nadjä.

„Katjä? Ja kann es denn überhaupt eine bessere Seele geben? Sie ist doch unser Engel, ich bin einfach in sie verliebt!“ entgegnete die Kleine ganz begeistert.

Um fünf Uhr ging man zu Tisch. Auch das Mittagessen zeichnete sich in einer Weise aus, die verriet, daß es zu Ehren des Gastes mit besonderer Sorgfalt zubereitet worden war. Zwei oder drei der Speisen waren zweifellos Zugaben, die die staatsrätliche Küche nicht jeden Tag herstellte, und eine von ihnen war sogar so eigenartig, daß es wohl jedem Uneingeweihten schwer gefallen wäre, der Speise einen Namen zu geben. Außer dem üblichen Tischwein gab es noch – offenbar gleichfalls zu Ehren des Gastes – Tokaier, und zum Schluß wurde sogar Champagner gereicht. Der alte Herr Sachlebinin fühlte sich durch die verschiedenen Gläschen in die leutseligste Stimmung versetzt und war bereit, über alles, was Weltschaninoff sagte, zu lachen. Das endete damit, daß Pawel Pawlowitsch sich von seinem Ehrgeiz verleiten ließ, gleichfalls etwas Witziges zu sagen: und plötzlich erscholl an jenem Ende des Tisches, wo er neben Madame Sachlebinin saß, lautes Gelächter der jungen Mädchen.

„Papa, Papa! Pawel Pawlowitsch hat auch einen Witz gemacht!“ riefen zwei wie aus einem Munde. „Er sagt, wir seien ‚Fräulein, über die man sich freuen müsse ...‘“

„Ah, also auch er macht Witze! Nun, was für einen Witz hat er denn gemacht?“ erkundigte sich erwartungsvoll der Staatsrat, sich huldvoll jenem Tischende zuwendend, und er lächelte bereits im voraus über den Witz, den er nun zu hören bekommen würde.

„Aber das war es doch, er sagt, wir seien ‚Fräulein, über die man sich freuen müsse‘.“

„J–ja? Nun und?“

Der alte Herr begriff den „Witz“ noch immer nicht und lächelte in der Erwartung noch freundlicher.

„Ach, Papa, wie Sie aber auch sind! Nun, ‚Fräulein‘ und dann ‚freuen‘ – ‚Fräu‘ klingt wie ‚freu‘, also ‚Fräulein, über die man sich freuen müsse‘.“

„A–a–ah!“ machte der Alte etwas verblüfft. „Hm! Nun, das nächstemal wird er einen besseren Witz machen!“

Und er lachte vor sich hin.

„Pawel Pawlowitsch, man kann sich doch nicht durch alle Vorzüge auszeichnen!“ neckte ihn Marja Nikititschna. „Ach, mein Gott, eine Gräte ist ihm in den Hals geraten, er erstickt!“ rief sie plötzlich ganz erschrocken und sprang im Nu vom Stuhl auf.

Das rief eine allgemeine Verwirrung hervor – doch weiter wollte ja Marja Nikititschna nichts damit bezwecken. Pawel Pawlowitsch hatte sich nur ein wenig verschluckt, als er, um seine Verlegenheit zu verbergen, beim Weintrinken nach dem Glase gegriffen, doch Marja Nikititschna versicherte nach allen Seiten, daß es eine Gräte sei, sie habe es selbst gesehen, und er könne davon sterben.

„Auf den Rücken klopfen!“ rief jemand.

„Ja, das ist das Beste!“ bestätigte der Hausherr laut, und im Augenblick waren auch schon eine ganze Reihe Dienstbeflissener zur Stelle: Marja Nikititschna und die kleine, drollige, rothaarige Freundin – die man mit zu Tisch geladen hatte – und sogar die Dame des Hauses, die ernstlich erschrocken zu sein schien. Pawel Pawlowitsch war gleichfalls aufgesprungen, um möglichst den Schlägen zu entgehen, doch lange mußte er vergeblich nach links und rechts beteuern, daß er sich nur beim Weintrinken verschluckt habe und der Husten sogleich vorüber sein werde – bis man endlich erriet, daß das Ganze nur ein mutwilliger Streich von Marja Nikititschna war.

„Schäm dich, du bist wieder mal unglaublich! ...“ wandte sich Madame Sachlebinin in streng verweisendem Tone an Marja Nikititschna, konnte sich aber selbst nicht bezwingen und lachte so belustigt auf, wie man es von ihr wohl nur höchst selten gehört hatte, – nach dem Eindruck zu urteilen, den ihr Lachen selbst auf die fröhlichen Familienmitglieder machte.

Nach dem Essen wurde der Kaffee auf der Veranda getrunken.

„Wie schön das Wetter jetzt ist!“ sagte der Alte lobend und mit Wohlgefallen in den Garten blickend. „Regen könnte allerdings nicht schaden ... Doch – ich werde mich jetzt etwas zurückziehen und erholen. Nun, amüsiert euch nur, amüsiert euch! Und auch du amüsiere dich!“ riet er beim Hinausgehen noch Pawel Pawlowitsch und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

Kaum waren alle wieder im Garten, da zupfte plötzlich Pawel Pawlowitsch Weltschaninoff am Ärmel.

„Auf einen Augenblick!“ flüsterte er sichtlich erregt.

Sie bogen in einen Seitenweg ein, der nach dem einsamen Teil des Gartens führte.

„Nein, hier, verzeihen Sie, hier will ich’s mir denn doch verbitten ... hier werde ich es mir doch nicht gefallen lassen!“ sagte er wutbebend – seine Faust ließ den Ärmel nicht los.

„Was denn? Was?“ fragte Weltschaninoff und sah ihn mit großen Augen ganz erstaunt an.

Pawel Pawlowitsch blickte schweigend zu ihm auf, bewegte die Lippen und – lächelte vor Wut.

„Wohin gehen Sie denn? So kommen Sie doch! Wo bleiben Sie denn? Alles ist schon fertig!“ hörte man die ungeduldig rufenden Stimmen der jungen Mädchen.

Weltschaninoff zuckte mit der Achsel und kehrte zu ihnen zurück. Pawel Pawlowitsch folgte ihm.

„Ich könnte wetten, daß er Sie um ein Taschentuch gebeten hat,“ sagte Marja Nikititschna, „gestern hatte er gleichfalls sein Taschentuch vergessen.“

„Ewig vergißt er was!“ bemerkte eine der mittleren Schwestern.

„Er hat sein Taschentuch vergessen! Pawel Pawlowitsch hat sein Taschentuch vergessen! Maman, Pawel Pawlowitsch hat wieder sein Taschentuch vergessen! Maman, Pawel Pawlowitsch hat wieder Schnupfen!“ tönte es von allen Seiten.

„Aber weshalb sagt er denn das nicht gleich! Wie können Sie nur so ... pedantisch sein, Pawel Pawlowitsch!“ sagte überaus langsam Madame Sachlebinin. „Ein Schnupfen kann sehr gefährlich werden. Ich werde Ihnen sogleich ein Taschentuch schicken ... Wie kommt es nur, daß Sie einen Schnupfen haben?“ fragte sie noch im Fortgehen, innerlich froh über den Vorwand, der ihr die Möglichkeit gab, sich wieder zurückzuziehen.

„Ich habe zwei Taschentücher und gar keinen Schnupfen!“ rief Pawel Pawlowitsch ihr nach, doch sie hörte es zu undeutlich, um ihn zu verstehen, und nach einer kleinen Weile, während der man weitergegangen war und Pawel Pawlowitsch sich näher an Nadjä und Weltschaninoff herangeschlängelt hatte, kam ihnen ein Hausmädchen atemlos nachgelaufen und brachte ihm das versprochene Taschentuch.

„Jetzt spielen, spielen, das Sprichwörterspiel!“ riefen die Mädchen eifrig, als erwarteten sie Gott weiß was von diesem Spiel.

Man setzte sich auf die Gartenbänke in einer Reihe hin und Marja Nikititschna erhob sich als erste; man sagte ihr, sie solle möglichst weit fortgehen und „nur ja nicht horchen!“ Währenddessen wählte man ein Sprichwort. Marja Nikititschna wurde zurückgerufen und erriet es sogleich.

Nach ihr kam die Reihe an den jungen Mann mit dem struppigen Haar und der blauen Brille. Von ihm verlangte man, daß er noch weiter fortgehe, bis zur Laube, und sich so hinstelle, „mit dem Rücken zu uns und mit dem Gesicht nach dem Zaun“. Der finstere junge Mann befolgte die Vorschrift mit verächtlicher Miene und schien sie sogar als eine gewisse moralische Erniedrigung zu empfinden. Als man ihn zurückrief, konnte er nichts erraten; er hörte die ganze Reihe nacheinander an, jeder Satz wurde ihm zweimal gesagt, er dachte lange und finster grübelnd nach, doch leider vergeblich. Man lachte ihn schließlich aus und sagte ihm, er solle sich schämen. Das Sprichwort lautete:

„Zu Gott gebetet und dem Zaren gedient, ist nicht vergebliche Müh’.“

„So ’n Blödsinn!“ brummte der verletzte Jüngling unwillig und zog sich auf seinen Platz zurück.

„Ach wie langweilig!“ hörte man von einigen.

Weltschaninoff mußte gehen: man schickte ihn also fort, doch auch er konnte nichts erraten.

„Ach wie langweilig!“ sagten noch mehr Stimmen.

„Nun, jetzt gehe ich,“ sagte Nadjä.

„Nein, nein, jetzt muß Pawel Pawlowitsch gehen, jetzt ist er an der Reihe!“ riefen mehrere Stimmen und alle belebten sich ein wenig.

Pawel Pawlowitsch wurde bis zum Zaun geführt und dort mußte er stehen bleiben; damit er sich aber nicht etwa umsah, mußte die kleine Rothaarige ihn bewachen. Pawel Pawlowitsch, der wieder etwas Mut gefaßt hatte und ordentlich munter geworden war, beabsichtigte natürlich, ehrlich und eifrig seine Pflicht zu erfüllen, und stand wie ein Pfosten, sah den Zaun an und wagte nicht einmal, sich zu rühren, geschweige denn, sich umzuschauen. Die kleine Rothaarige stand bei der Laube, etwa zwanzig Schritt von ihm entfernt, und gab aufgeregt den übrigen verschiedene Winke: es mußte etwas Besonderes geplant worden sein. Plötzlich winkte sie mit beiden Händen so schnell sie konnte: da sprangen alle auf und liefen Hals über Kopf davon.

„Laufen Sie, laufen Sie mit uns!“ tuschelten eifrig und in fast angstvoller Erregung wohl zehn Stimmen Weltschaninoff zu, ordentlich böse und zugleich ganz verzweifelt darüber, daß er nicht sogleich mitlief.

„Was ist denn? Was ist passiert?“ fragte er, schnellen Schritts ihnen folgend.

„Sch! leise! schreien Sie nicht! Mag er dort stehen und den Zaun betrachten, wir aber laufen alle fort. Da kommt auch schon Nastjä gelaufen!“

Die kleine rothaarige Freundin, Nastjä, kam ihnen in einer Eile und Aufregung nachgelaufen, als wäre der Himmel weiß was geschehen. Endlich war man ganz am anderen Ende des Gartens, hinter dem Teich, angelangt. Als Weltschaninoff sich ihnen näherte, sah er, daß Katerina Fedossejewna heftig mit den anderen stritt, namentlich mit Nadjä und Marja Nikititschna.

„Katjä, Täubchen, sei nicht böse!“ bat Nadjä herzlich und küßte die Schwester.

„Nun gut, ich werde es nicht Mama sagen, aber ich gehe fort. Es ist doch wirklich nicht schön von euch, es ist sogar recht häßlich. Was muß der Arme dort am Zaun empfinden, wenn ihr ihn so lange stehen laßt und betrügt!“

Und sie ging wirklich fort – aus Mitleid mit ihm, die anderen aber blieben erbarmungslos bei ihrem Entschluß. Auch von Weltschaninoff wurde streng verlangt, daß er, wenn Pawel Pawlowitsch sich wieder zu ihnen gesellte, ihn überhaupt nicht beachten und tun solle, als sei nichts geschehen.

„Und wir wollen jetzt alle unser Fangspiel spielen!“ rief die kleine Rothaarige ganz außer sich vor Entzücken.

Pawel Pawlowitsch kam erst nach einer guten Viertelstunde wieder zu ihnen. Zwei Drittel dieser Zeit hatte er bestimmt regungslos am Zaun gewartet. Das Fangspiel war in vollem Gange und gelang vortrefflich – alle schrien und amüsierten sich köstlich. Pawel Pawlowitsch kochte vor Wut, trat schnell an Weltschaninoff heran und faßte ihn wieder am Ärmel.

„Auf einen Augenblick!“

„Ach Gott, was will er immer mit seinen Augenblicken!“

„Er will wieder ein Taschentuch haben!“ hörten sie hinter sich rufen.

„Nein, diesmal sind Sie es gewesen! diesmal Sie ganz allein, jawohl Sie, Sie! Sie haben die Mädel dazu veranlaßt! ...“

Pawel Pawlowitsch war so erregt, daß seine Zähne aufeinanderschlugen.

Weltschaninoff unterbrach ihn und riet ihm in ruhigem Tone, mit den Heiteren heiter zu sein: „Man neckt Sie doch nur deshalb, weil Sie sich ärgern, während alle anderen lustig sind.“ Zu seinem Erstaunen machten dieser Rat und diese Bemerkung Pawel Pawlowitsch ganz betroffen: er verstummte sogleich und kehrte wie ein Schuldbewußter zur Gesellschaft zurück, um sich dann gleichfalls am Spiel zu beteiligen. Man ließ ihn ruhig mitspielen und spielte mit ihm wie mit allen anderen. So verging noch keine halbe Stunde und er war wieder munter und guter Dinge. Bei allen Spielen engagierte er als Dame, wenn es nötig war, die kleine rothaarige Verräterin oder eine der Schwestern. Was Weltschaninoff besonders in Erstaunen setzte, war, daß er kein einziges Mal Nadjä anzureden wagte, obschon er sich ununterbrochen in ihrer Nähe aufhielt. Er schien es nunmehr als etwas Selbstverständliches zu betrachten, daß sie ihn überhaupt nicht beachtete und sogar eine gewisse Verachtung hervorkehrte, als sei das ganz natürlich und als müsse es so sein. Zum Schluß wurde ihm übrigens noch ein Streich gespielt.

Man spielte „Verstecken“. Diesmal mit einer kleinen Neuerung: man brauchte nicht in dem einmal erwählten Versteck auszuharren, sondern konnte oder mußte sogar, sobald der Suchende nicht zu sehen war, ein anderes Versteck aufsuchen. Pawel Pawlowitsch hatte sich bereits sehr geschickt zwischen dichten Büschen versteckt, als es ihm plötzlich einfiel, ins Haus zu laufen. Mehrstimmiges Geschrei erschallte – man hatte ihn gesehen. Da schlüpfte er schnell die Treppe zum zweiten Stockwerk hinauf, wo er sich in der Treppenkammer hinter einer Kommode verbarg. Im Nu aber war die kleine Rothaarige hinter ihm hergeschlüpft, auf den Fußspitzen zur Treppe geschlichen und hatte leise den Schlüssel umgedreht: Pawel Pawlowitsch saß eingeschlossen in seiner Kammer. Sogleich brach man das Versteckspiel ab und alle liefen wieder hinter den Teich. Nach etwa zehn Minuten wurde ihm das Warten dort oben doch etwas lang, und er steckte vorsichtig den Kopf zum Fenster hinaus: niemand war zu sehen. Zu rufen wagte er nicht, denn er fürchtete die Eltern zu wecken; den Mägden war natürlich strengstens befohlen, sich nicht blicken zu lassen und auf seinen Ruf, falls er rufen sollte, nicht herbeizueilen. Nur Katerina Fedossejewna hätte ihn aus seiner Gefangenschaft befreien können, doch leider hatte sie sich in ihr Zimmerchen zurückgezogen und war über ihren Träumereien schließlich eingeschlummert. So saß denn Pawel Pawlowitsch dort fast eine ganze Stunde. Und endlich, endlich erst tauchten die jungen Mädchen wieder auf. Sie kamen zu zweien, zu dreien, als wäre nichts passiert, und spazierten harmlos plaudernd vorüber.

„Pawel Pawlowitsch, weshalb kommen Sie denn nicht zu uns? Ach, es ist dort so lustig! Wir spielen Theater! Alexei Iwanowitsch hat den ‚jungen Mann‘ gespielt!“

„Pawel Pawlowitsch, weshalb sitzen Sie denn dort? Sie wollen wohl irgend etwas darstellen, worüber man sich freuen soll?“ fragten im Vorübergehen zwei andere.

„Worüber denn sich wieder ‚freuen‘?“ ertönte da plötzlich die Stimme der Madame Sachlebinin, die ihr Nachmittagsschläfchen beendet hatte und gerade von der Veranda in den Garten trat, um sich bis zum Tee noch etwas zu bewegen und den Spielen der „Kinder“ zuzuschauen.

„Ja dort – über den Pawel Pawlowitsch!“ und sie wiesen nach dem Fenster, in dem man das verzerrt lächelnde, vor Wut gelblich bleiche Gesicht Pawel Pawlowitschs sah.

„Aber was ist denn das für ein Vergnügen, allein in einem Stübchen zu sitzen, wenn draußen alle so lustig sind!“ wunderte sich die Mama.

Inzwischen wurde Weltschaninoff die Ehre zuteil, von Nadjä die huldvolle Bemerkung, daß sie sich aus einem ganz „besonderen Grunde“ über seinen Besuch freue, zu vernehmen, und zwar unter vier Augen in einer entlegenen, einsamen Allee. Marja Nikititschna hatte ihn zu dem Zweck von den anderen fortgerufen – sehr zu seiner Erleichterung, da ihn die Spiele schon unwiderstehlich zu langweilen begannen – und ihn in diese Allee geführt, wo sie ihn mit Nadjä allein ließ.

„Ich bin jetzt vollkommen überzeugt,“ begann diese sogleich, „daß Sie durchaus nicht ein so großer Freund von Pawel Pawlowitsch sind, wie er hier geprahlt hat. Ich habe mich auch überzeugt, daß nur Sie allein mir einen sehr, sehr großen und sehr wichtigen Dienst erweisen können. Hier ist sein abscheuliches Armband“ – sie zog das Etui aus der Tasche hervor – „und nun bitte ich Sie recht sehr, ihm dieses Geschenk unverzüglich wieder einzuhändigen, denn ich selbst werde für keinen Preis noch ein Wort mit ihm sprechen, weder jetzt noch später, in meinem ganzen Leben nicht! Übrigens können Sie ihm sagen, daß Sie es ihm in meinem Auftrage zurückgeben, und fügen Sie nur gleich hinzu, daß er hinfort nicht mehr wagen soll, mir nochmals mit Geschenken zu kommen. Das übrige werde ich ihm dann schon durch andere sagen lassen. Werden Sie nun so gut sein und mir die Freude bereiten, meine Bitte zu erfüllen?“

„Um Gottes willen, verschonen Sie mich damit!“ rief Weltschaninoff fast entsetzt.

„Was? Verschonen? Warum sagen Sie ‚verschonen‘?“ erschrak Nadjä und sah ihn groß an.

Vergessen war der ganze damenhafte Ton ihrer vermutlich vorbereiteten Rede, und sie sah ihn hilflos wie ein Kind an, das dem Weinen nahe ist. Weltschaninoff mußte unwillkürlich lachen.

„O nein ... so war es nicht gemeint ... ich würde Ihre Bitte gewiß sehr gern erfüllen, nur ... ich habe da selbst noch einiges mit ihm vor ...“

„Ich habe es mir doch gleich gedacht, daß Sie nicht sein Freund sein können und daß er einfach gelogen hat!“ unterbrach ihn Nadjä schnell und heftig. „Ich werde ihn niemals heiraten, damit Sie’s wissen! Niemals! Ich begreife nicht, wie er es überhaupt gewagt hat ... Nur müssen Sie ihm trotzdem sein abscheuliches Armband zurückgeben, was soll ich denn sonst anfangen? Ich will, daß er unbedingt, unbedingt heute noch das Geschenk zurückerhält und den Korb einsteckt. Und wenn es ihm einfällt, zu Papa zu gehen und zu klatschen, dann soll er sehen, was Rache heißt! ...“

Plötzlich tauchte hinter ein paar Büschen in ihrer Nähe der junge Mann mit dem struppigen Haar und der blauen Brille auf. Im Augenblick stand er vor ihnen.

„Sie müssen das Armband zurückgeben!“ wandte er sich wütend an Weltschaninoff, „allein schon im Namen der Frauenrechte, vorausgesetzt, daß Sie sich über dieselben überhaupt klar sind und auf der Höhe des Problems stehen! ...“

Weiter kam er leider nicht: Nadjä riß ihn mit aller Gewalt am Ärmel von Weltschaninoff fort.

„Gott, wie Sie dumm sind, Predpossyloff!“ rief sie zornig. „Gehen Sie fort! Gehen Sie fort, so gehen Sie doch fort! – und wagen Sie es nicht wieder, zu lauschen! Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie dort weit hinten stehen sollen!“ Und ihr kleiner Fuß stampfte zornig auf, und selbst als jener wieder hinter dem Gebüsch verschwunden war, ging sie noch ganz außer sich hin und her in der Allee und rang die Hände vor Verzweiflung.

„Nein wirklich, Sie glauben nicht, wie dumm diese Jungen sind!“ sagte sie. „Ja, Sie haben gut lachen, aber was soll ich denn sagen!“

„Das ist doch nicht Er?“ fragte lachend Weltschaninoff, vor dem sie stehen geblieben war.

„Natürlich nicht Er! – wie können Sie sich nur so was denken!“ versetzte Nadjä errötend und mit einem flüchtigen Lächeln. „Das ist nur sein Freund. Ich begreife nicht, was für Freunde er sich aussucht! Von diesem sagen sie alle, er sei eine ‚zukünftige Größe‘, ich begreife aber nichts davon ... Alexei Iwanowitsch, ich habe keinen, an den ich mich wenden könnte, also zum letztenmal: werden Sie ihm das Armband zurückgeben oder nicht?“

„Nun gut, ich werde, geben Sie es her.“

„Ach Sie Lieber, ach Sie Guter!“ rief sie erfreut und gab ihm das Etui. „Ich werde Ihnen dafür den ganzen Abend vorsingen, denn ich habe sogar eine sehr gute Stimme! Damit Sie’s wissen: ich habe es Ihnen nur vorgelogen, daß ich Musik nicht ausstehen kann. Ach, wenn Sie doch noch einmal, noch ein einziges Mal zu uns kämen, ich wäre so froh, und ich würde Ihnen alles, alles, alles erzählen, und vieles noch außerdem, denn Sie sind so gut, – so gut wie ... wie Katjä!“

Und sie hielt ihr Versprechen: nachdem man zum Tee ins Haus zurückgekehrt war, sang sie ihm zwei Romanzen vor. Ihre Stimme war noch gar nicht geschult, sie begann sich erst zu entwickeln, doch war sie angenehm und konnte einmal vielleicht zu einer recht umfangreichen werden.

Pawel Pawlowitsch saß, als die anderen aus dem Garten kamen, bereits ehrbar und ruhig mit den Eltern am Teetisch, auf dem der große Ssamowar und Teetassen aus echtem Sèvresporzellan standen. Offenbar hatte er mit den Eltern über sehr ernste Dinge gesprochen, da er in zwei Tagen Petersburg verlassen mußte und nicht vor neun Monaten wiederkehren sollte. Den Eintretenden und namentlich Weltschaninoff schenkte er überhaupt keine Beachtung. Anzunehmen war, daß er noch nichts „geklatscht“ hatte, denn vorläufig schien alles „ruhig“ zu sein.

Doch kaum begann Nadjä zu singen – da erschien auch er sogleich im Saal. Nadjä war so unhöflich, auf eine Frage, die er direkt an sie richtete, überhaupt nicht zu antworten, doch ließ er sich dadurch nicht im geringsten abschütteln oder auch nur verwirren: er trat hinter ihren Stuhl und seine Miene, wie seine ganze Haltung drückten nur zu deutlich aus, daß er diesen Platz keinem anderen abzutreten gedachte.

„Jetzt wird Alexei Iwanowitsch singen, maman, jetzt wird Alexei Iwanowitsch singen!“ riefen die jungen Mädchen lebhaft alle durcheinander und drängten sich zusammen, ohne die Blicke von Weltschaninoff abzuwenden, der sich, selbstbewußt, wie immer, bereits an den Flügel gesetzt hatte. Sogleich kamen denn auch die Eltern in den Saal, und auch Katerina Fedossejewna, die bei ihnen gewesen und den Tee eingegossen hatte.

Weltschaninoff wählte ein altes, jetzt schon fast ganz vergessenes Lied von Glinka[11]:

„Wenn ich dich sehe und du zu mir sprichst ...“

Während des Vortrages wandte er sich ausschließlich an Nadjä, die am nächsten bei ihm stand und sich an den Flügel stützte. Er hatte schon lange keine Stimme mehr, die zu einem vollendeten Gesang taugte, doch was ihm noch geblieben war, zeigte immerhin, daß er einst eine schöne Stimme gehabt haben mußte. Dieses Lied hatte er als Student vor etwa zwanzig Jahren zum erstenmal gehört, und zwar vom Komponisten selbst vorgetragen: es war bei einem Freunde Glinkas an einem kleinen literarisch-künstlerischen „Junggesellenabend“ gewesen. Glinka war im Zimmer unruhig auf und ab gegangen und dann hatte er sich plötzlich an den Flügel gesetzt und seine Lieblingskompositionen gesungen – darunter auch dieses Lied. Auch Glinka hatte damals keine Stimme mehr gehabt, doch Weltschaninoff entsann sich noch deutlich des außerordentlichen Eindrucks, den gerade dieses Lied, halb sprechend vorgetragen, auf alle Anwesenden gemacht hatte. Niemals hätte ein Dilettant, ein bloßer Salonsänger, selbst wenn er über die größten Stimmittel verfügte, einen ähnlichen Eindruck erreicht. Mit jeder Strophe steigert sich in diesem Liede die Leidenschaft und wuchs schließlich an zu einer alles mitreißenden Macht; und gerade wegen der Größe und Gewalt dieser Leidenschaft hätte alles „Gemachte“, hätte die geringste Übertreibung – wie man sie in der Oper immer wieder hört – das Lied nur herabgezogen und den Sinn jedes Wortes, jedes Tones entstellt. Um dieses kleine, doch ganz einzige Lied zu singen, war unbedingt eines erforderlich: wirkliche Begeisterung, wirkliche Leidenschaft, oder – wenn man ein großer Künstler war – doch wenigstens die vollendetste künstlerische Beherrschung des Ausdrucks dieser Gefühle. Anderenfalls hätte das Lied nur unangenehm und vielleicht sogar sehr peinlich wirken können. Weltschaninoff wußte, daß ihm der Vortrag des Liedes bisher fast immer gelungen war: hatte sich ihm doch damals, als er es zum erstenmal von Glinka gehört, jede Nuance und die ganze Art seines Vortrages unauslöschlich eingeprägt. Und auch diesmal erfaßte ihn, kaum daß er die ersten Töne angeschlagen und die ersten Worte gesungen hatte, wirkliche Begeisterung: und die Begeisterung wirkte auf seine Stimme zurück und ging von da auf die Zuhörenden über. Mit jedem weiteren Wort wuchs das Gefühl und der Ausdruck wurde stärker, sicherer, fast rücksichtslos, und es war, als streife er alle, auch die letzten Bedenken ab. So kam es denn zu dieser außerordentlichen Wirkung. So kam es, daß Nadjä, als er sie bei den Schlußworten

Nur küssen will ich dich, küssen,

Nur küssen, küssen!

mit vor Leidenschaft blitzendem Blick ansah, erschrocken zusammenfuhr und unwillkürlich etwas zurückwich: purpurn stieg das Blut ihr in die Wangen und im Moment war es Weltschaninoff, als habe er in ihrem fast ängstlichen Gesichtchen und ihren erschrockenen Augen ein kurzes Erraten bemerkt. Doch auch die Gesichter aller übrigen Zuhörerinnen verrieten förmliche Entzückung und gleichzeitig doch auch so etwas wie Beschämung oder ein verschämtes Staunen: es war, als meinten sie alle, so etwas könne man doch nicht so vor allen Menschen aussprechen, da müsse man sich doch scheuen! Und doch glühten alle diese Gesichtchen und blitzten aller Augen und es war, als erwarteten sie noch etwas ... Flüchtig streifte Weltschaninoffs Blick sie alle, wie sie dasaßen, und blieb auf Katerina Fedossejewna haften: wie schön sie aussah!

„Nun, das ist mir mal eine Romanze! ...“ brummte jetzt langsam der alte Sachlebinin, der zum Schluß ganz verblüfft dagesessen hatte, „aber ... hm! – ist sie nicht doch etwas zu feurig? Sie ist ja sehr schön, aber ...“

„Ja ...“ wollte etwas unschlüssig auch Madame Sachlebinin ihre Meinung äußern, doch kam sie nicht dazu: Pawel Pawlowitsch war plötzlich neben Nadjä aufgetaucht: er sah wie ein Irrsinniger aus und vergaß sich so weit, daß er Nadjä am Arm faßte und sie von Weltschaninoff fortzog – um dann, fast wankend, wieder vor diesen hinzutreten. Er war offenbar unzurechnungsfähig. Seine Lippen zuckten krampfhaft.

„Auf einen Augenblick,“ brachte er endlich mühsam hervor.

Weltschaninoff begriff sofort, daß dieser Mensch im nächsten Augenblick etwas zehnmal Schlimmeres tun konnte, wenn man ihm nicht zuvorkam: er faßte ihn deshalb an der Hand und führte ihn schnell, ohne sich durch die Verwunderung der anderen aufhalten zu lassen, auf die Veranda und von dort noch ein paar Stufen hinab in den Garten. Es dunkelte bereits.

„Begreifen Sie nicht, daß Sie sogleich mit mir von hier fortfahren müssen!“ stieß Pawel Pawlowitsch bebend hervor.

„Nein, das begreife ich nicht ...“

„Erinnern Sie sich,“ fuhr Pawel Pawlowitsch flüsternd in einer Aufregung fort, die nahezu unheimlich war, „erinnern Sie sich noch dessen, wie Sie damals von mir verlangten, ich solle Ihnen alles sagen, alles, verstehen Sie, und ganz aufrichtig ‚das letzte Wort‘ ... wissen Sie noch? Nun, jetzt ist der Augenblick gekommen für dieses Wort ... Gehen wir!“

Weltschaninoff dachte ein paar Sekunden lang nach, blickte nochmals Pawel Pawlowitsch an und erklärte sich dann bereit, mit ihm zu fahren.

Der plötzliche Aufbruch der beiden Gäste erschreckte die Eltern nicht wenig und empörte die jungen Mädchen ganz maßlos.

„Aber trinken Sie doch wenigstens noch ein Täßchen Tee ...“ bat Madame Sachlebinin fast kläglich.

„Na, was ist denn in dich gefahren, daß du dich plötzlich so aufregst?“ wandte sich mit strenger, unzufriedener Miene der alte Sachlebinin an Pawel Pawlowitsch, der nur eigentümlich lächelte und schwieg.

„Pawel Pawlowitsch, weshalb entführen Sie uns Alexei Iwanowitsch?“ wandten sich die jungen Mädchen teils vorwurfsvoll, teils aufrichtig böse an ihn, und die Blicke, die er auffing, sprachen von nichts weniger als von Sympathie. Nadjä aber maß ihn mit so unaussprechlichem Haß, daß er sich förmlich wand unter ihrem Blick, doch er blieb bei seinem Entschluß.

„Verzeihen Sie, aber Pawel Pawlowitsch hat mich zum Glück noch rechtzeitig an etwas sehr Wichtiges erinnert, das leider keinen Aufbruch duldet,“ entschuldigte sich Weltschaninoff lachend, worauf er dem Staatsrat die Hand drückte, die der Dame des Hauses an die Lippen führte und sich von den jungen Mädchen verabschiedete, bei welcher Gelegenheit er wieder Katerina Fedossejewna vor allen anderen auszeichnete, was wiederum von allen bemerkt wurde.

„Wir danken Ihnen sehr für Ihren Besuch, und es wird uns alle jederzeit freuen, Sie wiederzusehen; jederzeit,“ schloß der Staatsrat nachdrücklich.

„Ach ja, es wird uns sehr freuen ...“ bestätigte die Mama gefühlvoll.

„Kommen Sie wieder, Alexei Iwanowitsch, kommen Sie wieder!“ riefen noch viele Stimmen von der Verandatreppe, als Weltschaninoff sich bereits neben Pawel Pawlowitsch in den Wagen setzte, und unter ihnen etwas leiser ein hohes Stimmchen: „Kommen Sie wieder, lieber, lieber Alexei Iwanowitsch!“

„Das war der rothaarige Racker!“ lachte Weltschaninoff.

XIII.
Die Beiden.

Ja, er konnte noch an die kleine Rothaarige denken, während ihn tiefinnerlich schon längst Ärger und Reue quälten. Und überhaupt war er an diesem Tage, den er doch, wie man meinen sollte, so angenehm verbracht hatte, ein gewisses bedrückendes, an einen unbestimmten Kummer gemahnendes Gefühl nicht losgeworden. Bevor er an den Flügel getreten war, hatte er kaum noch gewußt, was er mit sich anfangen, wohin er vor diesem Kummer flüchten sollte: und vielleicht war auch nur diese Stimmung der Grund gewesen, weshalb er sich beim Vortrag des Liedes von seinen Gefühlen so hatte hinreißen lassen.

„Und ich konnte mich so furchtbar erniedrigen ...“ begann er und wollte sich selbst Vorwürfe machen, doch schnell brach er den Gedanken wieder ab und bemühte sich, an anderes zu denken. So erniedrigend erschienen sie ihm, diese Selbstanklagen, die zudem nicht das geringste nützten! Deshalb wählte er das Angenehmere und ärgerte sich rasch über einen anderen.

„Dieser R–rüpel!“ dachte er wütend, mit einem halben Blick auf den im Wagen neben ihm sitzenden Pawel Pawlowitsch.

Der schwieg noch immer; vielleicht sammelte er sich erst oder bereitete sich auf die Aussprache vor. Von Zeit zu Zeit hob er hastig die Hand und nahm seinen Hut ab, um sich mit dem Taschentuch über die Stirn zu wischen.

„Wie er schwitzt!“ dachte Weltschaninoff verbissen, denn es war ihm geradezu ein Bedürfnis, sich recht über ihn zu ärgern.

Nur einmal wandte sich Pawel Pawlowitsch mit der Frage an den Kutscher, ob es ein Gewitter geben würde.

„O–oh, und was für eins! Den ganzen Tag war’s schwül, sicher wird’s eins geben!“

In der Tat war der Himmel dunkler als je um diese Zeit. Hin und wieder zuckte ein Blitz. Es war halb elf, als sie in der Stadt anlangten.

„Ich fahre ja doch zu Ihnen,“ hatte sich Pawel Pawlowitsch kurz vorher an Weltschaninoff gewandt.

„Verstehe. Doch muß ich Ihnen mitteilen, daß ich mich ernstlich krank fühle.“

„Ich bleibe nur kurze Zeit, nur kurze Zeit!“

Als sie ins Haus traten, verschwand Pawel Pawlowitsch auf einen Augenblick in der Wohnung des Portiers, wo er ein paar Worte mit Mawra wechselte.

„Was suchten Sie dort?“ fragte Weltschaninoff ärgerlich, als jener ihn auf der Treppe wieder einholte und sie eintraten.

„Nichts, nur ... wegen des Kutschers ...“

„Zu trinken gebe ich Ihnen nichts!“

Eine Antwort erfolgte nicht. Weltschaninoff zündete eine Kerze an und Pawel Pawlowitsch ließ sich sogleich auf seinem alten Platz nieder. Weltschaninoff trat finster vor ihn hin.

„Sie entsinnen sich vielleicht, daß ich Ihnen damals versprach, auch mein ‚letztes Wort‘ zu sagen,“ begann er, innerlich erregt, doch äußerlich in vollkommener Selbstbeherrschung. „So hören Sie denn, ich kann es mit gutem Gewissen sagen ... – Also: ich bin überzeugt, daß zwischen uns beiden alles zu Ende ist und wir nichts mehr einander zu sagen haben, Sie verstehen mich: nichts mehr; und deshalb – wäre es nicht besser, Sie gingen jetzt und ich schlösse die Tür hinter Ihnen zu.“

„Lassen Sie uns erst ... abrechnen, Alexei Iwanowitsch!“ sagte Pawel Pawlowitsch und sah ihm dabei ganz eigentümlich sanft in die Augen.

„Wa–as? Abrechnen?“ fragte Weltschaninoff in höchster Verwunderung. „Ein sonderbares Wort haben Sie da gebraucht! In welcher Beziehung denn ‚abrechnen‘, wenn man fragen darf? Oder sollte es etwa gar jenes ‚letzte Wort‘ sein, jenes, mit dem Sie mir versprachen, alles ... aufzudecken?“

„Ja.“

„Wir haben nichts mehr miteinander ‚abzurechnen‘, wir sind bereits vollständig ... quitt!“ sagte Weltschaninoff mit einem gewissen Stolz.

„Glauben Sie wirklich?“ fragte Pawel Pawlowitsch in eigentümlichem Tone, der fast ein Durchschauen verriet, und er hob die Hände – die Ellenbogen ruhten auf den Armlehnen des Stuhles – und schob die Finger zwischeneinander.

Weltschaninoff antwortete nichts und begann im Zimmer auf und ab zu schreiten. „Lisa! Lisa!“ hätte er stöhnen mögen, aber er biß die Zähne zusammen und – fühlte sein Herz klopfen.

„Doch übrigens, worüber wollten Sie denn mit mir abrechnen?“ wandte er sich nach längerem Schweigen mit finsterer Stirn wieder an Pawel Pawlowitsch, dessen Augen ihm während der Wanderung durch das Zimmer unaufhörlich gefolgt waren, der selbst aber nach wie vor regungslos im Stuhl lehnte, die Hände mit den gekreuzten Fingern vor der Brust.

„Fahren Sie nicht mehr dorthin,“ sagte er kaum hörbar mit rührend bittender Stimme, und plötzlich stand er auf.

„Wie! Und nichts weiter?“ – Weltschaninoff lachte zornig auf.

„In der Tat, Sie haben ja heute den ganzen Tag nichts anderes getan, als mich in Erstaunen gesetzt!“ sagte er bissig, doch plötzlich veränderte sich der Ausdruck seines Gesichts. „Hören Sie,“ begann er, und seine Stimme klang tief und traurig und es sprach aus ihr aufrichtiges Gefühl, „ich finde, daß ich mich noch niemals und durch nichts so erniedrigt habe, wie heute, und das erstens dadurch, daß ich einwilligte, Sie dorthin zu begleiten, und zweitens – durch das, was dort war ... Das war so kleinlich, so erbärmlich ... ich habe mich mir selbst so verekelt und mich vor mir selber so entehrt, indem ich auf alles einging ... und ganz vergessen konnte, daß – ... Ach nun, was rede ich!?“ besann und unterbrach er sich plötzlich. „Sie haben mich heute überrumpelt, ich war überreizt und abgespannt, ich ... ich bin krank ... eh, wozu sich da rechtfertigen wollen! Hinfahren werde ich jedenfalls nicht mehr, und ich versichere Ihnen, daß ich dort absolut keine Interessen habe,“ schloß er energisch.

„Wirklich nicht? Ist das wahr? ist das wirklich wahr?“ rief Pawel Pawlowitsch, ohne seine freudige Aufregung zu verbergen.

Weltschaninoff sah ihn mit Verachtung an und begann wieder im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Sie scheinen sich ja entschlossen zu haben, um jeden Preis glücklich zu sein,“ konnte er sich zu bemerken nicht enthalten.

„Ja,“ bestätigte Pawel Pawlowitsch leise und naiv.

„Was geht es mich an,“ dachte Weltschaninoff, „daß er ein Narr und nur aus Dummheit bösartig ist? Ich kann ihn doch nicht – nicht hassen! Wenn er’s auch gar nicht wert ist –!“

„Ich bin ein ‚ewiger Gatte‘!“ sagte Pawel Pawlowitsch mit einem ergebenen Spottlächeln über sich selbst. „Ich habe diese Bezeichnung schon vor langer Zeit von Ihnen gehört, Alexei Iwanowitsch, schon damals, als Sie noch dort mit uns lebten. Ich habe mir damals viele Ihrer Aussprüche gemerkt – in jenem Jahr, jawohl! Als Sie nun hier von neuem ‚ewiger Gatte‘ sagten, fiel es mir wieder ein.“

Mawra trat ein: sie brachte eine Flasche Champagner und zwei Gläser, stellte sie auf den Tisch und ging wieder hinaus.

„Verzeihen Sie, Alexei Iwanowitsch, Sie wissen, daß ich ohne Alkohol nicht sein kann. Fassen Sie es nicht als Unhöflichkeit auf, betrachten Sie es als etwas ganz Nebensächliches und Geringfügiges, über das Sie erhaben sind.“

„Eh ...“ Weltschaninoff wandte sich angewidert fort, „aber ich – ich bin wirklich krank, glauben Sie mir ...“

„Gleich, gleich ... im Augenblick!“ beeilte sich Pawel Pawlowitsch, „nur einen Schluck, denn meine Kehle ...“

Er stürzte gierig sein Glas hinunter, setzte sich und sah gerührt Weltschaninoff an.

„Dieser Ekel!“ murmelte Weltschaninoff.

„Das waren ja nur die Freundinnen,“ sagte plötzlich Pawel Pawlowitsch laut und unversehens munter, als habe ihn der Champagner neu belebt.

„Was? Wer? Ach so, ja, Sie reden immer noch davon ...“

„Nur die Freundinnen! Und dann die Jugend! und das Ganze doch nur eine Kinderei, – sehen Sie, so fasse ich’s auf! Es ist sogar nicht ohne Reiz. Später aber – nun, Sie wissen, später werde ich ihr Sklave sein; sie wird die Gesellschaft kennen lernen ... – sie wird ihre Stellung in der Gesellschaft ... mit einem, Wort, sie wird ein ganz anderer Mensch werden.“

„Teufel, ich muß ihm ja noch das Armband zurückgeben!“ dachte Weltschaninoff und fühlte nach dem Etui in seiner Tasche.

„Sie fragten, ob ich mich nun entschlossen habe, glücklich zu sein? Ich muß heiraten, Alexei Iwanowitsch,“ fuhr Pawel Pawlowitsch nahezu rührend vertrauensvoll fort, „was wird denn sonst aus mir? Sie sehen doch selbst!“ – er wies auf die Flasche – „und das ist erst noch ein Hundertstel meiner ... Eigenschaften. Ich kann überhaupt nicht leben ohne Ehe und ... ohne einen neuen Glauben. Gewinne ich den wieder, dann werde ich von neuem aufleben!“

Weltschaninoff wollte fast in schallendes Gelächter ausbrechen.

„Weshalb teilen Sie mir denn alles das mit?“ Seine Mundwinkel zuckten. Übrigens kam ihm das Ganze doch zu haarsträubend vor.

„Aber so sagen Sie mir doch endlich,“ fuhr er heftig auf, „zu welch einem Zweck Sie mich nun eigentlich dorthin geschleppt haben! Wozu hatten Sie mich denn nötig?“

„Nur ... um zu prüfen ...“ stotterte Pawel Pawlowitsch etwas verwirrt, wie es schien.

„Was zu prüfen?“

„Ich ... ich wollte nur den Eindruck sehen. Ich, sehen Sie, Alexei Iwanowitsch, ich bin doch erst seit einer Woche ... dort –“ er wurde, wie es schien, immer verlegener. „Gestern traf ich Sie, und da dachte ich: Ich habe sie doch noch niemals in anderer Gesellschaft gesehen, ich wollte sagen, in Gesellschaft von Herren – wenn ich mich nämlich selbst nicht zähle ... Es war ein dummer Gedanke, ich sehe es jetzt selbst ein, und ganz überflüssig. Aber ich wollte es doch gar zu gern, eben – nun, aus Charakterschlechtigkeit.“

Er erhob plötzlich den Kopf und errötete.

„Sollte er wirklich die Wahrheit sagen?“ fragte sich Weltschaninoff, noch ganz sprachlos vor Verwunderung, und er starrte ihn an.

„Und?“

Pawel Pawlowitsch lächelte süßlich, doch gleichzeitig eigentümlich verschmitzt.

„Nichts weiter als Kindlichkeit, die noch frisch und reizend ist, nichts weiter! Das waren nur die Freundinnen! Verzeihen Sie mir bloß mein dummes Benehmen Ihnen gegenüber; ich werde mich nie wieder so vergessen, und überhaupt wird es ja nun nie mehr dazu kommen.“

„Zumal ja auch ich nie mehr hinfahren werde,“ versetzte Weltschaninoff etwas höhnisch.

„Ich meinte es auch zum Teil in diesem Sinne.“

Weltschaninoff richtete sich straffer auf und warf den Kopf zurück.

„Übrigens ... ich bin doch nicht der einzige in der Welt,“ bemerkte er fast verletzt.

Pawel Pawlowitsch errötete wieder.

„Es betrübt mich, das zu hören, Alexei Iwanowitsch, und glauben Sie mir, ich achte Nadeschda Fedossejewna so hoch ...“

„Entschuldigen Sie, bitte, verzeihen Sie, ich wollte ja nichts ... Es kam mir nur etwas sonderbar vor, daß Sie meine Vorzüge so übertrieben eingeschätzt ... und ... sich so vertrauensvoll auf mich verlassen haben ...“

„Eben deshalb habe ich mich ja auf Sie verlassen, weil das doch bereits nach allem geschah ... was gewesen ist.“

„Dann müssen Sie mich ja, wenn es so ist, auch jetzt für einen Ehrenmann halten?“ entfuhr es Weltschaninoff, der plötzlich stehen geblieben war, unwillkürlich und ganz unbedacht.

Im nächsten Moment erschrak er selbst über die Naivität seiner Frage.

„Das habe ich von jeher getan,“ sagte Pawel Pawlowitsch, indem er die Augen niederschlug.

„Nun ja, versteht sich ... nein, so meinte ich es auch nicht, das heißt nicht in dem Sinne, ich wollte nur sagen – ungeachtet aller ... Vorurteile!“

„Ja, auch trotz der Vorurteile.“

„Aber als Sie nach Petersburg fuhren?“ – Weltschaninoff konnte sich nicht mehr bezwingen, obschon er die ganze Ungeheuerlichkeit seiner Neugier selbst sehr wohl empfand.

„Und auch als ich nach Petersburg fuhr, hielt ich Sie für einen Ehrenmann. Ich habe Sie immer geachtet, Alexei Iwanowitsch.“

Pawel Pawlowitsch blickte wieder auf und sah mit klarem Blick, jetzt bereits ohne die geringste Verwirrung, seinen Gegner an. Weltschaninoff wurde plötzlich bange: er wollte um alles in der Welt nicht, daß jetzt irgend etwas Gefühlvolles geschah – daß irgend etwas die – Grenze auch nur überschritt, um so weniger, als er selbst es war, der dazu herausgefordert hatte.

„Ich habe Sie geliebt, Alexei Iwanowitsch,“ sagte Pawel Pawlowitsch, als habe er sich plötzlich zu etwas entschlossen, „jenes ganze Jahr in T. habe ich Sie geliebt. Sie haben es nicht bemerkt,“ fuhr er, zu Weltschaninoffs Schrecken, mit einer etwas unsicher werdenden Stimme fort, „ich war als Mensch und Persönlichkeit viel zu gering neben Ihnen, um Sie etwas merken zu lassen. Und es war vielleicht auch gar nicht nötig. In diesen neun Jahren habe ich oft an Sie gedacht, sehr oft, immerwährend, denn ich habe kein zweites solches Jahr in meinem Leben gehabt.“ Pawel Pawlowitschs Augen erglänzten eigentümlich. „Ich habe mir viele Ihrer Bemerkungen, Ihrer Aussprüche und Gedanken gemerkt. Ich habe in Ihnen immer einen Menschen von hoher Bildung gesehen, der sich nach guten Gefühlen sehnt und der eigene Gedanken ausspricht. ‚Große Gedanken entspringen weniger einem großen Verstande, als einem großen Gefühl‘ – sagten Sie einmal; vielleicht haben Sie es jetzt vergessen, ich aber habe es mir gemerkt. So habe ich denn in Ihnen immer einen Menschen von großem Gefühl gesehen ... und folglich auch an Sie geglaubt – trotz allem ...“

Sein Kinn begann plötzlich zu zittern. Weltschaninoff war aufs höchste erschrocken: diesem unerwarteten Ton mußte unbedingt schnell ein Ende gemacht werden.

„Genug, hören Sie auf, bitte, Pawel Pawlowitsch,“ brachte er errötend – da ihm alles dies mehr als peinlich war – und seltsam unsicher, in gereizter Ungeduld hervor. „Weshalb auch, zu welchem Zweck,“ fuhr er plötzlich nervös auf, „zu welchem Zweck heften Sie sich jetzt an einen kranken, überreizten Menschen – ich bin wirklich krank – und ziehen ihn in dieses Dunkel hinein ... während ... während doch – alles nur Trugbilder und Lüge und Schande und Unnatur ist und – und keinerlei Maß hat: das aber ist das Schmählichste an der Sache! Alles übrige ist Unsinn: wir sind beide lasterhafte, gemeine, ganz gemeine – Kellermenschen[12] ... Und wollen Sie, wollen Sie, ich werde Ihnen sogleich beweisen, daß Sie mich nicht nur nicht lieben, sondern hassen, sogar mit ganzer Seele hassen, und daß Sie hier gelogen haben, allerdings ohne es selbst zu wissen! Sie haben mich gar nicht zu diesem lächerlichen Zweck hingeführt: um Ihre Braut zu prüfen – was Sie sich nicht alles ausdenken! –, sondern haben sich gestern, als Sie mich auf der Straße erblickten, einfach erbost und mich dann hingeführt, um sie mir zu zeigen und mir zu sagen und zu verstehen zu geben: ‚Siehst du: sie! Und die wird mir gehören! na, versuch’s mal jetzt hier!‘ Es war eine Herausforderung von Ihnen! Sie wußten das vielleicht selbst nicht, aber es war eine! ja: eine Herausforderung war es! So und nicht anders fühlten Sie! ... Ohne Haß aber kann man keinen so herausfordern: folglich haben Sie mich gehaßt!“

Wie außer sich ging er im Zimmer umher, immer schneller und erregter stieß er alles hervor und ließ sich von seiner Erregung nur so fortreißen: dabei quälte und kränkte ihn nichts so sehr, wie die erniedrigende Erkenntnis, daß er sich selbst in einem solchen Maße herabließ – bis zu Pawel Pawlowitsch ...

„Ich wollte mich mit Ihnen versöhnen, Alexei Iwanowitsch!“ sagte jener plötzlich schnell und entschlossen, doch mit leiser Stimme, und sein Kinn begann wieder zu zittern.

Eine unbändige Wut erfaßte Weltschaninoff, als habe man ihm noch niemals eine solche Beleidigung zugefügt.

„Ich sage Ihnen doch,“ schrie er förmlich zitternd, „daß Sie einem kranken und überreizten Menschen ... auf dem Halse sitzen, um ihm irgendein unmögliches Wort zu entreißen, es ihm im Fieber – wie soll ich sagen: herauszuwürgen! Wir ... ja, wir sind Menschen verschiedener Welten, begreifen Sie das doch endlich, und ... und ... zwischen uns, da hat sich – ein Grab gelegt!“ stieß er durch die Zähne hervor, und – plötzlich kam er zur Besinnung ...

„Aber woher wissen Sie,“ – Pawel Pawlowitschs Gesicht erbleichte und sah entstellt aus – „woher wissen Sie, was dieses kleine Grab hier bedeutet, hier ... bei mir!“ keuchte er, Schritt für Schritt sich Weltschaninoff nähernd, während er mit einer grotesken, doch um so entsetzlicheren Geste die Faust hob und sich ans Herz schlug. „Ich kenne dieses kleine Grab hier auf dem Friedhof, und wir beide stehen an dieser Gruft, ich hier – Sie dort, nur ist auf meiner Seite mehr, als auf Ihrer, mehr ...“ raunte er, indem er sich immer wieder ans Herz schlug, „mehr, mehr, mehr ...“

Plötzlich gellte schrill und laut die Türglocke und riß sie aus der furchtbaren Spannung. Es hatte jemand geklingelt, der sich ordentlich geschworen zu haben schien, den Glockenzug mit einem einzigen Ruck abzureißen.

„Wer zu mir will, klingelt nicht so,“ sagte Weltschaninoff halb zu sich selbst und noch unter dem verwirrenden Eindruck.

„Aber zu mir doch auch nicht,“ flüsterte zaghaft Pawel Pawlowitsch, der gleichfalls zu sich gekommen und im Augenblick wieder der frühere Pawel Pawlowitsch geworden war.

Weltschaninoff runzelte die Stirn und ging, um die Tür zu öffnen.

„Herr Weltschaninoff, wenn ich nicht irre?“ hörte man eine jugendliche, helle und ungemein selbstbewußte Stimme fragen.

„Was wünschen Sie?“

„Ich bin genau unterrichtet,“ fuhr die helle Stimme fort, „daß ein gewisser Trussozkij sich im Augenblick bei Ihnen befindet. Ich muß ihn unbedingt und unverzüglich sprechen.“

Weltschaninoff hatte die größte Lust, diesen selbstbewußten jungen Mann mit einem Fußtritt die Treppe hinunterzubefördern. Doch er bedachte sich, trat zur Seite und ließ ihn eintreten.

„Dort ist Herr Trussozkij, treten Sie ein ...“

XIV.
Ssaschenka[13] und Nadjenka.

Ins Zimmer trat ein noch sehr junger Mann, der etwa neunzehn Jahre zählen mochte, vielleicht sogar noch weniger – so jungenhaft wirkte sein hübsches und höchst selbstbewußt dreinschauendes Gesicht. Er war nicht schlecht gekleidet; wenigstens saß alles vortrefflich. Von Wuchs war er über Mittelgröße; sein schwarzes weiches Haar und seine großen, dreisten, dunklen Augen fielen an ihm am meisten auf. Nur die Nase war etwas breit und aufgestülpt, sonst wäre er ein geradezu schöner junger Mensch gewesen. Er trat sehr stolz ein.

„Ich habe wohl Gelegenheit, mit Herrn Trussozkij zu sprechen,“ begann er gemessen, indem er das Wort „Gelegenheit“ ersichtlich mit besonderem Vergnügen betonte, womit er wohl zu verstehen geben wollte, daß ein Gespräch mit Herrn Trussozkij ihm weder eine Ehre, noch ein Vergnügen sein könne.

Weltschaninoff begann zu begreifen, und auch Pawel Pawlowitsch schien bereits die Hauptsache zu erraten. In seinem Gesicht drückte sich eine gewisse Unruhe aus; übrigens hielt er sich tadellos.

„Da ich nicht die Ehre habe, Sie zu kennen,“ entgegnete er würdevoll, „nehme ich an, daß ich mit Ihnen auch nichts zu erörtern haben kann.“

„Hören Sie zuerst, und dann sagen Sie Ihre Meinung,“ versetzte der junge Mann selbstbewußt und in zurechtweisendem Tone, worauf er seinen an einer Schnur hängenden Kneifer hob und die Champagnerflasche auf dem Tisch zu mustern begann. Als er die Musterung beendet hatte, klappte er den Kneifer ruhig wieder zusammen und wandte sich von neuem Pawel Pawlowitsch zu:

„Alexandr Loboff.“

„Was ist das, ‚Alexandr Loboff‘?“

„Das bin ich. Haben Sie den Namen noch nicht gehört?“

„Nein.“

„Übrigens, wie sollten Sie auch! Ich komme in einer wichtigen Angelegenheit, die Sie – namentlich Sie angeht. Erlauben Sie, daß ich mich einstweilen setze, ich bin müde ...“

„Nehmen Sie Platz,“ sagte Weltschaninoff, doch der junge Mann hatte sich bereits vor der Aufforderung niedergelassen.

Weltschaninoff begann sich, trotz wachsender Schmerzen unter der Brust, für diesen unverschämten Bengel zu interessieren. In seinem hübschen, frischen Jungengesicht war etwas, was ihn an Nadjä erinnerte, – vielleicht bestand sogar eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihnen?

„Auch Sie könnten sich setzen,“ schlug der junge Mann Pawel Pawlowitsch vor, indem er mit einem nachlässigen Kopfnicken nach einem Stuhl deutete.

„Ich ziehe vor, zu stehen.“

„Sie werden müde werden. Sie, Herr Weltschaninoff, können, wenn Sie wollen, auch hierbleiben.“

„Sie scheinen zu vergessen, daß ich hier zu Hause bin.“

„Wie Sie wollen. Und offen gestanden, ich wünsche es sogar, daß Sie bei meiner Auseinandersetzung mit diesem Herrn zugegen sind. Nadeschda Fedossejewna hat Sie mir in ziemlich schmeichelhafter Weise empfohlen.“

„So? Wann hat sie denn dazu Zeit gehabt?“

„Sogleich nach Ihrer Abfahrt, ich komme doch von dort! Also, Herr Trussozkij,“ wandte er sich wieder diesem zu, der immer noch stand, „wir, das heißt, ich und Nadeschda Fedossejewna,“ fuhr er fort, in nachlässiger Pose im Lehnstuhl sitzend – – und ebenso nachlässig, wie er saß, sprach er auch die Worte aus, mit eingezogenem Mundwinkel und kaum sich bewegenden Lippen –, „wir lieben uns schon lange und haben uns miteinander verlobt. Sie sind nun als Hindernis zwischen uns getreten: deshalb bin ich hergekommen, um Sie aufzufordern, das Feld zu räumen. Sagen Sie mir also kurz, ob Sie gewillt sind, meiner Aufforderung nachzukommen?“

Pawel Pawlowitsch erbleichte und zuckte ein wenig zurück, doch schon im nächsten Augenblick lächelte er boshaft.

„Nein, dazu bin ich durchaus nicht gewillt,“ versetzte er lakonisch.

„So!“ Der Jüngling rückte ein wenig auf dem Stuhl und schlug ein Bein über das andere.

„Ich weiß nicht einmal, wer Sie sind,“ fuhr Pawel Pawlowitsch fort, „und ich denke, daß unsere Unterredung hiermit beendet sein dürfte.“

Bei diesen Worten sah er sich nach einem Stuhl um und setzte sich.

„Ich sagte Ihnen ja, Sie würden müde werden,“ bemerkte der Jüngling nachlässig. „Ich hatte soeben Gelegenheit, Ihnen mitzuteilen, daß ich Loboff heiße und daß ich mich mit Nadeschda Fedossejewna verlobt habe – folglich können Sie nicht sagen, wie Sie es soeben taten, daß Sie nicht wüßten, wer ich bin; desgleichen können Sie nicht aufrichtig der Meinung sein, daß unsere Unterredung hiermit beendet wäre: ganz abgesehen von mir, handelt es sich hier um Nadeschda Fedossejewna, der Sie sich jetzt in einer so frechen Weise aufdrängen. Schon das allein wäre eine genügende Veranlassung zu einer Unterredung.“

Diese ganze Rede hielt er mit geckenhafter Nachlässigkeit, kaum daß er sich die Mühe gab, die Worte zur Not gerade noch verständlich auszusprechen; zwischendurch hatte er sogar wieder den Kneifer vor die Augen gehalten und, während er sprach, irgendeinen Gegenstand im Zimmer fixiert.

„Erlauben Sie, junger Mann ...“ fuhr Pawel Pawlowitsch gereizt auf, doch der „junge Mann“ trumpfte ihn sogleich ab, noch bevor er seinen unvorsichtig begonnenen Satz zu Ende sprechen konnte.

„Zu jeder anderen Zeit würde ich es mir von Ihnen natürlich sogleich verbitten, mich mit ‚junger Mann‘ anzureden, doch hier ist es mir insoweit ganz angenehm, als meine Jugend, wie Sie selbst zugeben werden, in diesem Fall gerade mein größter Vorzug vor Ihnen ist, wie Sie zum Beispiel heute bei der Überreichung Ihres Armbandes zweifellos sehr gern ein wenig jünger gewesen wären.“

„So ein Frechdachs!“ dachte Weltschaninoff.

„Jedenfalls, werter Herr,“ verbesserte sich Pawel Pawlowitsch kühl, „kann ich die von Ihnen betonten Gründe – die wohl nichts weniger als anständig sind und auch recht zweifelhaft zu sein scheinen – nicht als derartig empfinden, daß mir eine weitere Verhandlung mit Ihnen notwendig erschiene. Ich sehe, daß es sich hier nur um einen kindischen Einfall handelt; morgen noch werde ich mich von Fedossei Ssemjonowitsch über den Sachverhalt aufklären lassen, jetzt aber bitte ich Sie, uns nicht weiter zu belästigen.“

„Sehen Sie den Charakter dieses Menschen!“ rief der Jüngling aufgebracht, indem er sich sogleich an Weltschaninoff wandte und natürlich aus dem Ton fiel. „Es ist ihm nicht genug, daß man ihn von dort hinausjagt, sich über ihn lustig macht und ihm eine lange Nase zeigt – er will uns morgen noch dem Alten verraten! Beweisen Sie denn damit nicht sonnenklar, Sie gemeiner Mensch, daß Sie das Mädchen mit Gewalt nehmen wollen: daß Sie sie von kindisch gewordenen alten Menschen, denen nur infolge der barbarischen Zustände unserer Gesellschaft die schmählichste Machtvollkommenheit über das junge Mädchen zugesprochen wird, – daß Sie sie von ihnen einfach kaufen wollen? Sie hat es Ihnen doch deutlich gezeigt, daß sie Sie verachtet! Ihnen ist doch Ihr unanständiges Geschenk, Ihr Armband, bereits zurückgegeben worden! Was wollen Sie denn noch?“

„Niemand hat mir mein Armband zurückgegeben, es wäre das auch ganz unmöglich!“ sagte Pawel Pawlowitsch, war aber doch sehr betroffen.

„Wieso unmöglich? Hat Herr Weltschaninoff es Ihnen denn noch nicht zurückgegeben?“

„Teufel, da haben wir die Bescherung!“ verwünschte ihn Weltschaninoff.

„In der Tat,“ sagte er dann ... wie sich besinnend, und runzelte die Stirn, „Nadeschda Fedossejewna hat mich vorhin beauftragt, Ihnen, Pawel Pawlowitsch, dieses Etui einzuhändigen. Ich wollte es natürlich nicht übernehmen, aber sie bat mich so ... hier ist es ... Es tut mir leid, daß ...“

Er legte, ersichtlich peinlich berührt, das Etui auf den Tisch neben Pawel Pawlowitsch, der ihn ganz starr ansah.

„Warum haben Sie es ihm nicht früher zurückgegeben?“ unterbrach ihn der junge Mann in strengem Tone.

„Ich werde wohl noch keine Zeit dazu gehabt haben,“ entgegnete Weltschaninoff ärgerlich.

„Sonderbar.“

„Wa–as?“

„Zum mindesten sonderbar: das werden Sie wohl selbst zugeben, daß hier tatsächlich ein – Versehen vorliegt.“

Weltschaninoff hatte wieder die größte Lust, sogleich aufzustehen und den Bengel gründlich an den Ohren zu nehmen. Doch plötzlich konnte er sich nicht bezwingen und brach in schallendes Gelächter aus. Der Jüngling mußte mitlachen. Nicht so Pawel Pawlowitsch: hätte Weltschaninoff den Blick bemerkt, der ihn traf, als er über den „Frechdachs“ zu lachen begann, dann hätte er begriffen, daß in diesem Menschen etwas Geheimnisvolles vor sich ging ... So begriff Weltschaninoff nur – der den Blick nicht bemerkt hatte – daß er Pawel Pawlowitsch wenigstens beistehen mußte.

„Hören Sie mal, Herr Loboff,“ wandte er sich in freundschaftlichem Tone an den Jüngling, „ich will, ohne auf die übrigen Gründe näher einzugehen, da ich sie überhaupt nicht berühren möchte, Sie nur darauf aufmerksam machen, daß Pawel Pawlowitsch, wenn man ihn als Bewerber um Nadeschda Fedossejewna mit Ihnen vergleicht, jedenfalls sehr schwerwiegende Vorzüge hat: erstens sind die Eltern mit ihm gut bekannt, sie wissen, wer und was er ist; zweitens nimmt er in der Gesellschaft sowohl wie im Staatsdienst eine vorzügliche Stellung ein, und drittens besitzt er ein Vermögen, folglich ist es nur natürlich, daß er sich über einen Nebenbuhler, wie Sie – nun, sagen wir: wundert. Denn, wenn Sie als Mensch vielleicht noch so viele Vorzüge haben, so sind Sie doch dermaßen jung, daß er Sie wahrlich nicht als ernst zu nehmenden Bewerber betrachten kann ... und deshalb hat er wohl recht, wenn er Sie bittet, die zwecklose Unterredung zu beenden.“

„Was heißt das ‚noch dermaßen jung‘? Ich bin seit weit mehr als einem Monat neunzehn Jahre alt. Nach dem Gesetz kann ich folglich schon längst heiraten. Da haben Sie’s!“

„Aber welcher Vater wird sich denn entschließen können, Ihnen seine Tochter anzuvertrauen – und sollten Sie auch in Zukunft mehrfacher Millionär oder sonst so ein Wohltäter der Menschheit werden! Ein Neunzehnjähriger kann nicht einmal für sich selbst die volle Verantwortung tragen, und da wollen Sie noch die Verantwortung für ein fremdes Menschenleben auf Ihr Gewissen nehmen, das heißt die Zukunft eines ebensolchen Kindes, wie Sie selbst eins sind! Das ist doch wohl auch nicht ganz ehrenhaft, was meinen Sie? Ich habe mir diese Meinungsäußerung nur erlaubt, weil Sie sich vorhin selbst an mich, wie an einen Vermittler zwischen Ihnen und Pawel Pawlowitsch, wandten.“

„Ach ja richtig, er heißt ja Pawel Pawlowitsch!“ bemerkte der Jüngling, „wie kam es nur, daß es mir die ganze Zeit schien, er heiße Wassilij Petrowitsch? Also,“ wandte er sich wieder an Weltschaninoff, „Sie haben mich nicht im geringsten überrascht: ich wußte, daß Sie nicht anders sein konnten, als die anderen, – sie sind ja doch alle gleich! Es wundert mich nur, daß man mir von Ihnen als von einem einigermaßen aufgeklärten Menschen gesprochen hat. Übrigens kommt das nicht in Betracht, denn die Sache ist einfach die, daß es hier meinerseits nichts ‚Unehrenhaftes‘ – wie der Ausdruck ja wohl lautete, den zu gebrauchen Sie sich erlaubten – gibt, sondern ganz im Gegenteil, daß es sich um etwas sehr Ehrenhaftes handelt, was ich Ihnen sogleich erklären und verständlich machen zu können hoffe. Wir haben uns also – erstens: verlobt, und außerdem habe ich ihr in Gegenwart von zwei Zeugen feierlich versprochen, daß ich ihr, sobald sie einen anderen liebgewinnen oder einfach nur bereuen sollte, mich geheiratet zu haben, sogleich eine schriftliche Erklärung geben würde, in der ich mich des Ehebruchs schuldig bekenne, um damit vor der betreffenden Behörde ihr Scheidungsgesuch zu unterstützen. Doch das ist noch nicht alles: für den Fall, daß ich nachträglich meinen Entschluß ändern und mich weigern sollte, ihr besagte schriftliche Erklärung einzuhändigen, gebe ich ihr zu ihrer Sicherstellung am Hochzeitstage und noch vor der Trauung einen Wechsel über hunderttausend Rubel auf meinen Namen, so daß sie in dem Falle, wenn ich jene schriftliche Erklärung verweigere, diesen Wechsel sogleich zur Einlösung einer Bank übergeben kann – und damit hat sie mich in der Hand! – verstehen Sie? So ist denn alles sichergestellt, und nach solchen Erklärungen werden Sie mir nicht mehr sagen können, daß ich ein fremdes Leben auf mein Gewissen nehme. Nun, das wäre also erstens.“

„Ich wette, das hat jener – wie hieß er doch? – Predpossyloff ausgedacht!“ rief Weltschaninoff aus.

„Hehehe!“ grinste Pawel Pawlowitsch boshaft.

„Worüber lacht dieser Herr? – Ja, Sie haben es erraten: es ist wirklich ein Gedanke von Predpossyloff – und das können Sie doch nicht leugnen, daß er gut ist. Das unsinnige Gesetz ist auf diese Weise vollständig lahmgelegt. Selbstverständlich habe ich die Absicht, sie immer zu lieben – sie lacht selbst furchtbar über den Einfall, – aber es ist doch immerhin geschickt ersonnen: das werden Sie mir jetzt zugeben müssen – und auch das, daß es ehrenhaft und edel gehandelt ist, und daß nicht ein jeder sich zu so etwas entschließen wird!“

„Ich finde, das es nicht nur keineswegs ehrenhaft, sondern sogar recht ekelhaft ist.“

Der junge Mann zuckte nur die Achseln. „Sie setzen mich wiederum nicht im geringsten in Erstaunen,“ bemerkte er nach kurzem Schweigen, „so etwas hat schon seit gar zu langer Zeit seine Neuheit für mich verloren. Predpossyloff würde Ihnen einfach sagen, daß dieses Ihr Unvermögen, die natürlichsten Dinge zu begreifen, nur auf die Entartung Ihrer Gefühle und Ihres Begriffsvermögens zurückzuführen ist, – und zwar infolge Ihres blödsinnigen Lebens und Ihres ewigen Müßigganges. Übrigens verstehen wir uns wohl noch nicht: man hat Sie mir allerdings anders geschildert ... Sie sind schon in den Fünfzigern?“

„Bleiben Sie gefälligst bei der Sache.“

„Verzeihen Sie meine Indiskretion – ich fragte ohne besondere Absicht. Also – ich fahre fort: ich bin durchaus kein zukünftiger ‚mehrfacher Millionär‘, wie Ihr Ausdruck lautete (was Menschen doch für Einfälle haben!). Was ich bin und was ich habe, das sehen Sie hier vor sich, doch dafür bin ich meiner Zukunft vollkommen sicher. Ein Held und Wohltäter für Fremde werde ich nicht werden, aber mich und meine Frau werde ich ernähren! Allerdings habe ich jetzt noch nichts, und ich bin ja sogar in ihrem Hause erzogen worden, von Kindheit an ...“

„Wie das?“

„Ganz einfach, da ich der Sohn eines entfernten Verwandten von Frau Sachlebinin bin: als meine Eltern starben und mich als Achtjährigen zurückließen, da nahm mich der Alte zu sich und steckte mich in ein Gymnasium. Dieser Mensch nämlich ist sogar gut, wenn Sie es wissen wollen ...“

„Ich weiß es.“

„Nur ist er für unsere Zeit schon gar zu rückständig. Übrigens ist er wirklich gut. Jetzt habe ich mich natürlich schon längst von seiner Vormundschaft befreit, da ich mir selbst meinen Lebensunterhalt verdienen und niemandem als mir verpflichtet sein will.“

„Seit wann sind Sie denn nicht mehr unter seiner Vormundschaft?“ fragte Weltschaninoff.

„O, schon lange! fast seit ganzen vier Monaten!“

„Nun ist mir die Sache allerdings verständlich: wenn Sie Jugendgespielen sind! Doch – haben Sie jetzt eine Beschäftigung?“

„Ja, eine private, ich bin im Kontor eines Notars angestellt, für fünfundzwanzig Rubel monatlich, natürlich nur vorläufig. Als ich um ihre Hand anhielt, hatte ich nicht einmal das! Ich war nämlich damals in der Eisenbahnverwaltung und bekam nur zehn Rubel monatlich, auch natürlich nur vorläufig.“

„Ja haben Sie denn einen Heiratsantrag gemacht?“

„Gewiß, ganz formell, und schon vor längerer Zeit, – vor ganzen drei Wochen.“

„Nun, und?“

„Der Alte lachte zuerst schallend auf, dann aber ärgerte er sich fürchterlich, und sie wurde einfach oben in eine Kammer eingesperrt. Aber Nadjä hielt die Prüfung heldenhaft aus. Übrigens ist der ganze Mißerfolg nur darauf zurückzuführen, daß der Alte sich noch von früher her über mich ärgerte, weil ich nämlich der Abteilung, in die er mich vor damals vier Monaten hineingesteckt hatte, den Rücken gekehrt habe. Er ist ein prächtiger alter Mann, ich sage es Ihnen nochmals, zu Hause ist er gutmütig, freundlich und von Herzen heiter, doch kaum tritt er in sein Abteilungsbureau – da können Sie ihn sich einfach gar nicht vorstellen! Wie ein Jupiter sitzt er da! Ich gab ihm selbstverständlich zu verstehen, daß solche Manieren aufgehört hätten, mir zu gefallen, doch an der ganzen Geschichte war hauptsächlich der Gehilfe des Vorsitzenden schuld: dieser Herr ließ es sich einfallen, sich bei ihm darüber zu beschweren, daß ich angeblich ‚grob‘ geworden sei, während ich ihm in Wirklichkeit gesagt hatte, er sei unentwickelt. Da pfiff ich denn auf sie alle und bin jetzt beim Notar.“

„Wieviel bekamen Sie denn dort, in der Abteilung?“

„Ach, nichts ... ich war ja überzählig! Der Alte selbst gab das Nötige. Ich sagte Ihnen doch, er ist ein guter Mensch, nur werden wir trotzdem nicht nachgeben. Versteht sich, fünfundzwanzig Rubel sind kein Auskommen, aber ich hoffe, in kürzester Zeit an der Verwaltung der verschuldeten Güter des Grafen Sawileiskij teilzunehmen, dann habe ich dreitausend Rubel Einkommen. Oder ich werde Rechtsanwalt. Heutzutage werden Menschen gesucht ... Ha! Wie’s donnert! Das wird ein Gewitter geben! Gut, daß ich noch vor dem Ausbruch angelangt bin. Ich bin ja zu Fuß von dort gekommen, bin fast die ganze Zeit gelaufen.“

„Aber erlauben Sie, wann haben Sie denn Zeit gehabt, noch mit Nadeschda Fedossejewna zu sprechen, wenn man Sie dort abgewiesen hat und wohl auch nicht mehr empfängt?“

„Ach, doch ganz einfach über den Zaun! Die Rothaarige haben Sie ja gesehen?“ fragte er lachend. „Nun, die ist auch eine von den Vermittlerinnen, und auch Marja Nikititschna; nur ist diese Marja Nikititschna eine Schlange! ... Was ist? – weshalb runzeln Sie die Stirn? Fürchten Sie sich vor dem Donner?“

„Nein, ich bin krank, ernstlich krank ...“

Weltschaninoff fühlte in der Tat einen heftigen Schmerz unter der Brust, der immer unerträglicher wurde, so daß er schließlich aufstand und versuchte, im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Ach, dann störe ich natürlich ... beunruhigen Sie sich nicht, ich gehe sogleich!“ Er sprang auf.

„So schlimm ist es ja nicht, bleiben Sie nur,“ sagte Weltschaninoff höflichkeitshalber.

„I wo, ‚wenn Kobylnikoff Leibweh hat‘ – wie Schtschedrin[14] sagt. Lieben Sie Schtschedrin? – Sie kennen ihn doch?“

„Ja.“

„Ich auch, er gefällt mir kolossal. Nun, also, Wassilij ... ach nein, – Pawel Pawlowitsch, richtig! Also kommen wir zu einem Schluß!“ wandte er sich halb lachend an Pawel Pawlowitsch. „Um Ihnen das Verständnis zu erleichtern, will ich meine Frage nochmals formulieren: sind Sie bereit, nicht später als morgen, und zwar offiziell, das heißt also vor den beiden Alten und in meiner Gegenwart, alle Ihre Ansprüche auf Nadeschda Fedossejewna zurückzuziehen?“

„Nein, dazu bin ich durchaus nicht bereit,“ schnitt Pawel Pawlowitsch kurz ab, indem er sich mit einer ungeduldigen Bewegung vom Platze erhob, „und ich bitte Sie nochmals, mich nicht weiter zu belästigen ... denn das sind doch nur Kindereien und Dummheiten.“

„Nehmen Sie sich in acht,“ sagte der Jüngling hochmütig lächelnd, und er drohte mit dem Finger, wie um ihn zu warnen, „daß Sie sich nicht verrechnen! Wissen Sie auch, zu was eine solche Rechnung ohne den Wirt führen kann? Deshalb sage ich es Ihnen im voraus, daß Sie sich nach neun Monaten, wenn Sie dort bereits alle Ausgaben gemacht und sich genugsam gequält haben, hier bei Ihrer Wiederkunft gezwungen sehen werden, unaufgefordert Ihre Ansprüche auf Nadeschda Fedossejewna zurückzuziehen, aber tun Sie das nicht – um so schlimmer für Sie. Sehen Sie, zu was Sie es mit Ihrer Weigerung bringen können! Ich will Sie damit nur gewarnt haben, denn Sie sind jetzt wie jener Hund, der den Knochen keinem anderen gönnt, obwohl er ihn selbst nicht fressen kann – verzeihen Sie den Vergleich. Ich warne Sie also nur aus menschlichem Mitgefühl, überlegen Sie sich die Sache, versuchen Sie wenigstens einmal im Leben, logisch zu denken.“

„Ich bitte Sie, mich mit Ihrer Moral zu verschonen!“ rief Pawel Pawlowitsch empört, „und was Ihre gemeinen Andeutungen betrifft, so werde ich morgen noch meine Maßregeln treffen, und zwar entscheidende!“

„Gemeine Andeutungen? Wovon sprechen Sie? Sie sind selber gemein, wenn Sie – so etwas im Sinne haben. Übrigens bin ich bereit, bis morgen zu warten, doch wenn ... Ach, wieder dieser Donner! Auf Wiedersehen, freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben,“ rief er mit einem Kopfnicken zum Abschied Weltschaninoff zu und entfernte sich eilig, offenbar, um noch vor dem Ausbruch des Gewitters geborgen zu sein.

XV.
Die Abrechnung.

„Haben Sie gesehen? Haben Sie gesehen?“ fragte Pawel Pawlowitsch gespannt auf ihn zutretend, kaum daß der Jüngling das Zimmer verlassen hatte.

„Ja, Sie scheinen kein Glück zu haben!“ entfuhr es Weltschaninoff unbedachtsamerweise.

Diese unvorsichtige Bemerkung wäre ihm bestimmt nicht entschlüpft, wenn nicht der heftige Schmerz ihn gequält und geärgert hätte. Pawel Pawlowitsch zuckte zusammen, als sei er gebrannt worden.

„Nun, und das Armband – das haben Sie mir wohl aus Mitleid nicht zurückgegeben, he?“

„Ich kam nicht dazu ...“

„Weil Sie als aufrichtiger Freund mit dem aufrichtigen Freunde von Herzen Mitleid hatten?“

„Nun ja, weil ich Mitleid hatte,“ sagte Weltschaninoff ärgerlich.

Er erzählte ihm aber doch in kurzen Worten, wie Nadeschda Fedossejewna ihn gebeten hatte, das Armband zurückzugeben und wie er durch sie ganz gegen seinen Willen in diese Angelegenheit hineingezogen worden war.

„Sie begreifen doch, daß ich das Armband sonst nie genommen hätte: man hat schon sowieso genug Unannehmlichkeiten!“

„Sie sind eben dem Zauber unterlegen und haben es doch genommen,“ sagte Pawel Pawlowitsch grinsend.

„Ihre Bemerkung ist köstlich. Übrigens sind Sie zu entschuldigen. Sie haben soeben selbst gesehen, daß nicht ich in dieser Sache die Hauptperson bin!“

„Immerhin haben Sie sich bezaubern lassen.“

Pawel Pawlowitsch setzte sich und füllte wieder sein Glas.

„Sie glauben wohl, daß ich sie diesem Bengel abtreten werde? Zum Teufel jage ich ihn, und wie noch! Morgen fahre ich hin und bringe alles in Ordnung. Diesen Geist werden wir schon ausräuchern – aus der Kinderstube ...“

Er stürzte das Glas in einem Zuge hinab und schenkte sich wieder ein. Überhaupt benahm er sich jetzt mit einer an ihm ganz ungewohnten Zwanglosigkeit.

„Also Nadjenka und Ssaschenka, die lieben Kinderchen! – hehehe!“

Seine Bosheit schien keine Grenzen zu kennen. Ein Blitz zuckte blendend hell auf, knatternd setzte der Donner ein und vergrollte, und plötzlich goß es in Strömen. Pawel Pawlowitsch erhob sich und schloß das offene Fenster.

„Wie er sie fragte, ob Sie sich nicht vor dem Donner fürchten! – hehe! Weltschaninoff und sich vor dem Donner fürchten! ‚Wenn Kobylnikoff ...‘ – wie war das: ‚wenn Kobylnikoff ...‘? Und das noch von den Fünfzigern, was? Besinnen Sie sich noch?“ fragte Pawel Pawlowitsch mit unverhohlener Bosheit.

„Sie haben sich hier ... wohl für immer niedergelassen?“ fragte Weltschaninoff leise, da er vor Schmerz kaum sprechen konnte. „Ich lege mich hin ... Sie ... tun Sie, was Sie wollen.“

„Aber bei solchem Wetter jagt man doch nicht einmal einen Hund aus dem Haus!“ versetzte Pawel Pawlowitsch gekränkt, doch war es, als freue er sich über das Recht, den Gekränkten spielen zu dürfen.

„Nun, ja, gleichviel, trinken Sie weiter ... übernachten Sie auch meinetwegen hier!“ murmelte Weltschaninoff, der sich gerade auf seinem Schlafdiwan ausstreckte, und leise stöhnte.

„Übernachten? Aber werden Sie denn nicht Angst haben?“

„Was?“ fragte Weltschaninoff, indem er den Kopf plötzlich vom Kissen hob.

„Nichts, nur so. Das vorige Mal war es, als ob Sie erschraken – oder vielleicht hat es mir nur so geschienen ...“

„Sie sind verrückt!“ sagte Weltschaninoff, der sich nicht bezwingen konnte, und drehte sich wütend zur Wand.

„Tut nichts,“ erwiderte Pawel Pawlowitsch.

Der Kranke schlief ganz plötzlich ein. Die außergewöhnliche nervöse Spannung, in der er den ganzen Tag verbracht, hatte seiner in letzter Zeit ohnehin schon stark mitgenommenen Gesundheit gewissermaßen den Rest gegeben, seine ganze Nervenkraft war mit einemmal dahin und er fühlte sich schwach wie ein Kind. Doch der Schmerz überwand die Müdigkeit und den Schlaf: nach kaum einer Stunde wachte er auf und erhob sich unter Qualen vom Diwan. Das Gewitter war vorüber. Die Luft im Zimmer war stickig vom Zigarettenrauch. Die Flasche auf dem Tisch war leer. Pawel Pawlowitsch schlief auf dem anderen Diwan. Er lag auf dem Rücken, mit dem Kopf auf einem Schlafkissen, vollkommen angekleidet, sogar in Stiefeln. Sein Kneifer war aus der Tasche geglitten und hing an der Schnur fast bis zum Boden herab. Sein Hut lag auf dem Teppich. Weltschaninoff blickte verdrossen auf den Schlafenden, weckte ihn jedoch nicht. Krumm und wie verzogen vor Schmerz, schritt er langsam im Zimmer auf und ab, da er das Liegen nicht mehr aushielt. Er stöhnte leise und dachte immer wieder über die Schmerzen nach.

Sie ängstigten ihn, und nicht ohne Ursache. Er kannte sie schon seit langer Zeit, doch hatten sie ihn bisher nur selten heimgesucht, nur einmal in zwei Jahren oder höchstens einmal im Jahr. Er wußte, daß sie von der Leber herrührten. Die Schmerzen waren immer dieselben: sie begannen unter der Herzgrube, oder auch etwas höher: zuerst war es nur ein dumpfer, nicht starker, aber doch unangenehmer Druck, der dann allmählich – bisweilen dauerte es ganze zehn Stunden – so stark, so unerträglich schmerzhaft wurde, daß der Kranke schon glaubte, nun komme die Sterbestunde. Als er das letzte Mal diese Schmerzen gehabt hatte, vor etwa einem Jahre, da war er – der Anfall hatte sich erst nach zehn Stunden gelegt – nachher so entkräftet gewesen, daß er kaum die Hand von der Bettdecke heben konnte, und der Arzt hatte ihm nur ein paar Löffel schwachen Tees und ein kleines Stück in Bouillon getauchtes Weißbrot gestattet. Die Wiederkehr dieser Anfälle wurde meistens durch Zufälligkeiten verursacht, doch traten sie immer nur dann auf, wenn seine Nerven vorher bereits überreizt waren. Eine gewisse Verschiedenartigkeit zeigte sich dagegen in der Art, wie die Schmerzen wieder nachließen: das eine Mal gelang es, den Schmerz sogleich in der ersten halben Stunde durch einfache heiße Umschläge zu betäuben, und in kurzer Zeit war dann alles überstanden; das letzte Mal hatte jedoch nichts geholfen, und erst nachdem er mehrere Brechmittel eingenommen, hatte der Schmerz nachgelassen. Nachher hatte der Arzt ihm gesagt, er sei überzeugt gewesen, daß er sich vergiftet habe. Diesmal waren es noch viele Stunden bis zum Morgen, in der Nacht jedoch wollte er nicht nach dem Arzt schicken – überhaupt waren ihm Ärzte zuwider. Aber die Schmerzen wurden doch so unerträglich, daß er laut zu stöhnen begann. Davon erwachte schließlich Pawel Pawlowitsch: er richtete sich auf, saß eine Zeitlang und horchte, offenbar erschrocken, während seine Blicke angstvoll und verständnislos Weltschaninoff folgten. Die Wirkung der geleerten Flasche machte sich bemerkbar: es dauerte ziemlich lange, bis er begriff, was er sah – dann aber sprang er vom Diwan und trat schnell auf Weltschaninoff zu, der vor Schmerz nur etwas Unverständliches stammeln konnte.

„Das ist die Leber, ich weiß!“ – Pawel Pawlowitsch war im Augenblick wie neu belebt und entwickelte sogleich eine ungeheure Geschäftigkeit. „Ich kenne das, Polossuchin, Pjotr Kusmitsch Polossuchin hatte genau dasselbe, – gleichfalls von der Leber. Da sind heiße Umschläge das beste! Pjotr Kusmitsch ließ sich dann immer heiße Umschläge machen ... Man kann doch daran sterben! Soll ich nicht die Mawra rufen, was?“

„Nicht nötig, nicht nötig!“ wehrte Weltschaninoff gereizt ab. „Nichts ist nötig.“

Doch Pawel Pawlowitsch war, Gott weiß weshalb, ganz kopflos vor Besorgnis, als handle es sich um die Rettung seines teuersten Freundes. Er achtete auf keinen Einwand und bestand mit dem größten Eifer darauf, daß unbedingt heiße Umschläge gemacht würden, und außerdem müsse der Kranke noch zwei bis drei Tassen schwachen Tee trinken – „aber nicht löffeln, sondern einfach hinabstürzen, und nicht bloß heiß muß er sein, sondern kochend!“ beteuerte er, lief darauf, ohne auf die Erlaubnis zu warten, zu Mawra, mit der er bald wieder erschien, half ihr in der Küche beim Feueranmachen und blies mit Eifer die Holzkohlen im Ssamowar an. Noch bevor das Wasser zu kochen begann, hatte er Weltschaninoff bereits die Oberkleider abgenommen, ihn zu Bett gebracht und gut zugedeckt – und in kaum zwanzig Minuten war der Tee fertig und der erste Teller heiß.

„Ich habe nämlich Teller genommen,“ erklärte er fast begeistert und legte behutsam, um sich nicht die Finger zu verbrennen, den in eine Serviette gewickelten heißen Teller Weltschaninoff auf die Herzgrube. „Heiße Umschläge sind zu umständlich, es dauert zu lange, bis man die macht, aber heiße Teller, glühendheiße Teller sind sogar das allerbeste, glauben Sie mir, das allerbeste, mein Ehrenwort! Ich habe diese Erfahrung selbst gemacht, an Pjotr Kusmitsch, ich habe es selbst gesehn und gefühlt. Man kann doch daran sterben! Trinken Sie den Tee, schlucken Sie nur; tut nichts, wenn Sie sich verbrühen; das Leben ist teurer als alles.“

Es war ihm tatsächlich gelungen, die schläfrige Mawra munter zu machen. Die Teller wurden alle zwei bis drei Minuten gewechselt. Schon nach dem dritten Teller und der zweiten heißen Tasse Tee, die Weltschaninoff hinabstürzte, fühlte er, daß der Schmerz nachließ.

„Wenn wir den Schmerz erst einmal weggebracht haben, dann Gott sei Dank, – das ist ein gutes Zeichen!“ rief Pawel Pawlowitsch hocherfreut und eilte in die Küche nach einem neuen Teller und neuem Tee.

„Wenn wir nur den Schmerz erst wegbringen! Nur der Schmerz muß erst mal betäubt werden!“ wiederholte er immer wieder.

Und wirklich: nach einer halben Stunde hatte sich der Schmerz fast ganz gelegt, aber der Kranke war so erschöpft, daß er trotz aller Bitten Pawel Pawlowitschs, doch „noch ein Tellerchen“ auszuhalten, nicht mehr darauf einging. Die Augen fielen ihm zu vor Müdigkeit.

„Schlafen, schlafen,“ sagte er nur mit schwacher Stimme.

„Auch das!“ willigte Pawel Pawlowitsch ein.

„Sie übernachten ... wie viel – wie spät ist es?“

„Bald zwei, es fehlen noch ein paar Minuten.“

„Bleiben Sie hier?“

„Ich bleibe, ich bleibe.“

Nach einer kleinen Weile rief der Kranke ihn wieder zu sich.

„Sie ... Sie ...“ murmelte er, als jener zu ihm geeilt war und sich über ihn beugte, „Sie sind besser als ich! Ich begreife alles ... alles ... ich danke Ihnen.“

„Schlafen Sie, schlafen Sie,“ flüsterte Pawel Pawlowitsch und schlich auf den Fußspitzen schnell wieder zu seinem Diwan zurück.

Der Kranke hörte noch im Einschlafen, wie Pawel Pawlowitsch schnell, doch möglichst leise sein Lager zurechtmachte, seine Kleider ablegte, die Kerze auslöschte und sich behutsam, womöglich mit angehaltenem Atem, um den Einschlafenden nur ja nicht zu stören, auf seinem Diwan ausstreckte.

Zweifellos schlief Weltschaninoff wirklich ein, und sogar sehr bald, nachdem die Kerze ausgelöscht war – dessen entsann er sich später noch ganz genau. Doch während der ganzen Zeit seines Schlafens – bis zu dem Augenblick, in dem er plötzlich erwachte – hatte er im Traum die Empfindung, daß er nicht schlafe und auch trotz seiner Erschöpfung und seines Verlangens nach Schlaf nicht einschlafen könne. Schließlich glaubte er – natürlich im Traum –, daß er in wachem Zustande zu phantasieren beginne und die vor ihm auftauchenden, sich um ihn drängenden visionären Erscheinungen, ungeachtet des klaren vollen Bewußtseins, daß es Fiebergebilde waren und nichts Wirkliches, nicht zu bannen vermochte. Es war ihm alles bekannt, was er sah: das Zimmer war, so schien es ihm, wieder voll von Menschen und die Tür zum Treppenflur stand offen. Und immer noch Menschen kamen in Scharen ins Zimmer und drängten sich auf der Treppe. Und am Tisch, der in die Mitte des Zimmers gerückt war, saß wieder ein Mensch – ganz wie damals, im Traum, vor einem Monat. Und ganz wie damals hatte der Mensch auch jetzt einen Arm auf den Tisch gestützt und wollte nicht sprechen; doch hatte er diesmal einen runden Hut auf und um den Hutrand einen Streifen Trauerflor. „Was? Sollte es wirklich auch damals Pawel Pawlowitsch gewesen sein?“ dachte Weltschaninoff, doch als er dem schweigenden Menschen ins Gesicht sah, überzeugte er sich, daß es ein ganz anderer war. „Weshalb trägt er den Trauerflor?“ fragte sich Weltschaninoff verwundert. Der Lärm und das Geschrei der Menschen, die sich um den Tisch drängten, war fürchterlich: sie schienen alle noch viel aufgebrachter über ihn zu sein, als damals, in jenem Traum; sie drohten ihm mit den Fäusten und schrien ihm empört etwas zu, doch konnte er trotz aller Anstrengung nicht verstehen, was es war, das sie ihm da zuschrien. „Aber das ist ja nur eine Vision, ich fiebere ja, ich phantasiere, – ich weiß es doch selbst!“ dachte er, „ich weiß doch, daß ich nicht einschlafen konnte und jetzt ausgestanden bin, weil ich vor Schmerz das Liegen nicht aushielt! ...“ Aber das Geschrei und die Menschen und ihre Bewegungen und alles andere – es war so deutlich, so wirklich, daß er doch wieder an ihrer Unwirklichkeit zu zweifeln begann: „Sollte das wirklich nur eine Fiebervision sein? Was wollen diese Menschen von mir, mein Gott? Aber ... wenn das Wirklichkeit wäre, wie wäre es dann möglich, daß dieses Geschrei nicht Pawel Pawlowitsch endlich aus dem Schlaf weckte? daß er davon noch immer nicht erwacht ist? Und er schläft doch noch, schläft doch dort auf dem Diwan!“ Da geschah plötzlich wieder etwas, ganz wie damals im Traum: alle wandten sich zur Tür und wollten zur Treppe, und es kam zu einem furchtbaren Gedränge in der Tür, denn von draußen begann sich ein neuer Haufe ins Zimmer zu schieben. Und die, die hinter ihnen kamen, trugen etwas, etwas Großes und Schweres: man hörte, wie die Schritte der Träger unter der getragenen Last schwer und ungleichmäßig auf den Treppenstufen dumpf aufpolterten und wie sie sich unter dem Druck der Last mit atemlosen Stimmen erregt Anweisungen zuriefen. Im Zimmer aber begannen alle zu rufen: „Sie bringen, sie bringen!“ und aller Augen funkelten und richteten sich auf ihn, Weltschaninoff, und alle wiesen sie drohend und triumphierend nach der Tür. Er zweifelte jetzt nicht mehr im geringsten daran, daß alles Wirklichkeit und nicht etwa eine Vision war, wie er zuerst geglaubt hatte, und erhob sich auf die Fußspitzen, um über die Köpfe der Menschen hinweg erkennen zu können, was denn dort von den Trägern so Schweres gebracht wurde. Sein Herz aber pochte, pochte, pochte, und plötzlich – ganz wie damals in jenem Traum – wurde dreimal mit aller Kraft am Glockenzug gerissen, und wieder war es ein so gellend heller, so greifbar wirklicher Schall, daß er ihm unmöglich nur geträumt haben konnte! ... Er schrie auf und erwachte.

Doch er stürzte nicht wie damals im Augenblick zur Tür. Welch ein Gedanke seine erste Bewegung lenkte, ob er im Moment überhaupt einen Gedanken hatte – das wußte er selbst nicht! nur war es ihm, als habe ihm irgend jemand gesagt, was er zu tun hatte: er sprang auf und streckte die Arme, wie zur Verteidigung oder zur Abwehr eines Angriffs erhoben, nach der Richtung, in der Pawel Pawlowitsch schlief. Doch im selben Augenblick stießen seine Hände mit zwei anderen, bereits nach ihm ausgestreckten Händen zusammen und er packte sie mit aller Kraft. Jemand hatte sich über ihn beugen wollen! Die Vorhänge waren zugezogen, doch war es nicht ganz dunkel im Zimmer, da aus dem Nebenraum, zu dem die Tür offen stand und dessen Fenster keine Vorhänge hatten, schon ein schwacher Lichtschimmer eindrang. Plötzlich fühlte er einen stechenden Schmerz in der linken Hand, und er wußte sofort, daß er die Schneide eines Rasiermessers erfaßt und sie sich selbst ins Fleisch gepreßt hatte ... Im selben Moment hörte man auch schon das eintönige Aufschlagen eines metallisch schweren Gegenstandes, der zu Boden fiel.

Weltschaninoff war vielleicht dreimal so stark wie Pawel Pawlowitsch, doch ihr Kampf währte lange, währte wenigstens drei Minuten. Endlich drückte er ihn zu Boden und bog ihm die Arme zurück. Doch aus irgendeinem Grunde wollte er diese zurückgebogenen Arme unbedingt auf den Rücken fesseln. Er suchte also tastend mit der rechten Hand – während er mit der verwundeten Linken die Handgelenke des Gegners hielt – lange vergeblich nach der Rouleauschnur, bis er sie endlich doch fand und mit einem einzigen Ruck abriß. Später wunderte er sich selbst darüber, wie er das fertiggebracht hatte, denn es gehörte eine fast übernatürliche Kraft dazu. Nachdem er dann Pawel Pawlowitschs Hände mit der Schnur gefesselt hatte, stand er auf, ließ den Gefesselten auf dem Boden liegen, zog den Vorhang zur Seite und schob die Gardinen fort. Auf der menschenleeren Straße war es schon hell. Er öffnete das Fenster und atmete tief die Morgenluft ein. Es mußte zwischen vier und fünf Uhr sein. Er schloß wieder das Fenster, trat schnell zum Schrank, nahm ein reines Handtuch heraus und wickelte es sehr fest um seine linke Hand, um das aus der Wunde quellende Blut zu stillen. Zufällig stieß er mit dem Fuß an das offene Rasiermesser, das nicht weit vom Schrank auf dem Teppich lag; er hob es auf, klappte es zusammen und legte es in das Etui, das er am Morgen auf dem kleinen Tisch neben dem anderen Diwan vergessen hatte. Er öffnete eines der Schubfächer seines Schreibtisches, legte das Rasierbesteck hinein und verschloß das Fach. Und erst nachdem das erledigt war, trat er an Pawel Pawlowitsch heran und begann ihn zu betrachten.

Dieser hatte sich inzwischen mit Mühe erhoben und sich auf einen Stuhl gesetzt. Er war, ganz wie Weltschaninoff, auch nur in Unterkleidern und ohne Stiefel. Sein Hemd hatte auf dem Rücken und an den Ärmeln große Blutflecke, doch war das nicht sein Blut, sondern das Blut Weltschaninoffs. Freilich war es Pawel Pawlowitsch, der dort saß! Im ersten Augenblick hätte man ihn kaum zu erkennen vermocht – so verändert sah er aus! Er saß wegen der auf dem Rücken gefesselten Hände in unbequemer gerader Haltung, sein entstelltes, verzerrtes, gequältes Gesicht war grünlich bleich, und von Zeit zu Zeit überlief ihn ein Zittern. Mit einem seltsam dunklen, gleichsam noch nicht alles erkennenden Blick sah er regungslos Weltschaninoff an. Plötzlich lächelte er – es war ein so stumpfes Lächeln, wie es nur Übermüdete bisweilen haben –, deutete mit einem Kopfnicken nach der Wasserkaraffe, die auf dem Tisch stand, und sagte halblaut:

„Einen Schluck.“

Weltschaninoff goß das Wasser in ein Glas, hielt es ihm an den Mund und ließ ihn trinken. Pawel Pawlowitsch trank gierig; nach dem dritten Schluck hob er den Kopf, sah unverwandt dem vor ihm stehenden Weltschaninoff ins Gesicht, sagte aber kein Wort und begann wieder zu trinken. Nachdem er dann seinen Durst gelöscht hatte, atmete er tief auf. Weltschaninoff nahm vom Diwan sein Kissen, warf seine Oberkleider über den Arm und ging ins andere Zimmer, worauf er Pawel Pawlowitsch im ersten Zimmer einschloß.

Die Schmerzen unter der Brust waren vollständig vergangen, doch machte sich jetzt wieder ein großes Schwächegefühl geltend, was nach der plötzlichen Anspannung aller Kräfte ganz erklärlich war. Er wollte nachdenken, um sich darüber klar zu werden, was eigentlich geschehen war, doch konnte er seine Gedanken nicht sammeln: es war doch eine zu große Nervenerschütterung gewesen. Seine Augen fielen ihm wieder zu und dann glaubte er, einzuschlafen, doch schon nach wenigen Minuten zuckte er wieder zusammen, erwachte, erinnerte sich sogleich an das Vorgefallene und an seine schmerzende Hand, befühlte das vom Blut feuchte Handtuch und begann wieder fieberhaft zu denken. Er wurde sich jedoch nur über eines klar: daß Pawel Pawlowitsch ihn tatsächlich hatte ermorden wollen – vielleicht ohne noch eine Viertelstunde vorher selbst zu wissen, was er tun wollte. Das schmale Etui des Rasiermessers hatte er am Abend vielleicht nur ganz flüchtig auf dem Tisch liegen gesehen. (Übrigens lag Weltschaninoffs Rasierbesteck gewöhnlich verschlossen im Schubfach, doch gerade an dem Morgen hatte er es herausgenommen, um einige überflüssige Haare am Schnurrbart fortzurasieren, was er mitunter zu tun pflegte.)

„Wenn er schon lange die Absicht gehabt hätte, mich zu töten,“ dachte Weltschaninoff, „so würde er eine Mordwaffe, einen Dolch oder Revolver mitgenommen und nicht auf mein vergessenes Rasiermesser gerechnet haben, das er ja erst gestern abend zum erstenmal bei mir gesehen hat.“

Endlich schlug es sechs. Weltschaninoff raffte sich auf, kleidete sich an und ging zu Pawel Pawlowitsch. Als er die Tür aufschloß, fragte er sich ganz verwundert, wozu er ihn denn eingeschlossen hatte, statt ihn sogleich aus dem Hause hinausgehen zu lassen. Zu seinem Erstaunen sah er, daß der Gefangene bereits vollständig angekleidet war: also mußte es ihm doch möglich gewesen sein, seine Hände von der Fessel zu befreien. Er saß im Lehnstuhl, erhob sich aber sogleich, als Weltschaninoff eintrat. Seinen Hut hatte er bereits in der Hand. Sein erregter, unruhiger Blick schien – gleichsam in geschäftiger Eile – sagen zu wollen:

„Fange nicht an; da ist nichts zu reden; lohnt sich nicht ...“

„Gehen Sie!“ sagte Weltschaninoff. „Nehmen Sie Ihr Armband.“

Pawel Pawlowitsch, der schon an der Tür angelangt war, kehrte zurück, nahm das Etui vom Tisch, steckte es in die Tasche und trat hinaus. Weltschaninoff stand an der Tür, um sie hinter ihm zuzuschließen. Ihre Blicke trafen sich zum letzten Mal: Pawel Pawlowitsch blieb plötzlich stehen; beide sahen sich etwa fünf Sekunden lang in die Augen, als wären sie irgendwie unschlüssig; endlich hob Weltschaninoff die Hand und ließ sie, wie beschwichtigend, sinken.

„Nun, gehen Sie!“ sagte er halblaut und schloß die Tür.

XVI.
Die Analyse.

Das Gefühl einer ungewöhnlichen, befreienden, großen Freude bemächtigte sich Weltschaninoffs; irgend etwas hatte jetzt endlich ein Ende genommen, hatte sich aufgelöst; irgendein lastender Kummer war von ihm gewichen und hatte sich zerstreut. So schien es ihm. Fünf Wochen hatte es ihn bedrückt. Er erhob seine Hand, betrachtete das blutbefleckte Handtuch und murmelte: „Nein, jetzt ist aber auch wirklich alles beendet!“ Und den ganzen Morgen dachte er zum erstenmal in drei Wochen fast gar nicht an Lisa, wenigstens nicht mit jenem quälenden Schmerz – als habe das Blut aus seiner verwundeten Hand sogar diese Schuld getilgt.

Er begriff vollkommen, daß er einer großen Gefahr entronnen war. „Gerade diese Menschen,“ dachte er, „die noch eine Minute vor der Tat nicht wissen, ob sie morden oder nicht morden, – gerade diese sind die gefährlichsten; denn sobald sie erst einmal das Messer in der bebenden Hand fühlen und das erste, heiße Blut ihnen über die Finger fließt – dann genügt es ihnen nicht mehr, nur zu morden, dann schneiden sie gleich den ganzen Kopf ab, – ‚glatt ab‘, wie die Sträflinge sagen. Ja, so sind sie.“

Es litt ihn nicht mehr in seiner Wohnung, und er verließ das Haus in der Überzeugung, daß sogleich irgend etwas getan werden müsse oder – daß mit ihm selbst irgend etwas sogleich geschehen werde. Er schlenderte also durch die Straßen und wartete. Er hätte jetzt gar zu gern jemanden getroffen oder mit irgendwem ein Gespräch angeknüpft, selbst mit einem Unbekannten. Das brachte ihn endlich auf den Gedanken, doch zum Arzt zu gehen, da die Hand sowieso verbunden werden mußte. Der Arzt, ein Bekannter von ihm: fragte neugierig, während er die Wunde betrachtete, wie er sich denn so verletzt habe? Weltschaninoff antwortete mit einem Scherz, lachte und hätte ihm beinahe alles erzählt, bezwang sich aber noch rechtzeitig. Der Arzt fühlte ihm den Puls, und als er hörte, daß Weltschaninoff in der Nacht wieder seine Schmerzen gehabt hatte, redete er ihm zu, sogleich ein beruhigendes Mittel, das er bei der Hand hatte, einzunehmen. In betreff der Wunde beruhigte er ihn: es seien keine schlimmen Folgen zu befürchten. Weltschaninoff versicherte ihm darauf lachend, daß sie bereits die besten Folgen gezeitigt habe. Der lebhafte Wunsch, alles jemandem zu erzählen, erfaßte ihn im Laufe des Tages noch zweimal, und zwar in solchem Maße, daß er einmal Mühe hatte, sich zu bezwingen und nicht mit einem fremden Menschen, der sich in einer Konditorei an seinen Tisch gesetzt hatte, ein Gespräch anzuknüpfen. Dabei war ihm sonst nichts so verhaßt, wie in öffentlichen Lokalen mit fremden Menschen Gespräche zu beginnen.

Er trat in mehrere Läden, kaufte sich eine Zeitung, sprach bei seinem Schneider vor und bestellte sich einen neuen Anzug. Der Gedanke, Pogorjelzeffs besuchen zu müssen, war ihm noch immer unangenehm, aber er dachte nicht weiter daran. Er hatte auch einen Grund, nicht zu ihnen hinauszufahren: er erwartete ja die ganze Zeit irgend etwas, das hier in der Stadt geschehen müsse. Er speiste mit Genuß, wechselte sogar ein paar Worte mit dem Kellner, sprach auch mit seinem Tischnachbar, und trank eine halbe Flasche Wein. An die Möglichkeit, daß die Schmerzen wiederkehren könnten, dachte er überhaupt nicht; er war vielmehr überzeugt, daß seine Krankheit gerade in dem gefährlichsten Augenblick vollständig vergangen sei, als er etwa anderthalb Stunden nach dem Einschlafen in völliger Erschöpfung plötzlich aufgesprungen war und den Mörder mit so ungemeiner Kraft niedergezwungen hatte. Gegen Abend erfaßte ihn aber doch ein leichtes Schwindelgefühl und bisweilen war es ihm sogar, als wollten die Fiebervisionen der vergangenen Nacht wieder vor ihm auftauchen. Er kehrte erst in der Dämmerung nach Haus zurück. Als er in seine Wohnung trat, erschrak er. Unheimlich erschien sie ihm, und es war ihm fast, als wandle ihn Furcht an. Mehrmals ging er durch die großen Räume und trat sogar in die Küche, was er sonst nie tat. „Hier haben sie gestern die Teller gewärmt,“ dachte er. Die Tür verschloß er sorgfältig und machte dann sogleich Licht, – früher, als er es gewöhnlich zu tun pflegte. Beim Verschließen der Tür dachte er daran, daß er vor einer halben Stunde, als er an der Portierstür vorübergegangen war, Mawra herausgerufen und gefragt hatte, ob der fremde Herr in seiner Abwesenheit nicht wieder bei ihm gewesen wäre, ganz als hätte er es selbst wirklich für möglich gehalten, daß jener noch einmal zu ihm gekommen sein könne.

Nachdem er dann auch die Tür zum Korridor zugeschlossen hatte, öffnete er seinen Schreibtisch, nahm das schmale Etui heraus und klappte das „verhängnisvolle“ Rasiermesser auf, um es zu betrachten. Auf dem elfenbeinernen Griff waren noch kleine Blutpünktchen zu bemerken. Er klappte es wieder zusammen und schob es zurück in das Etui, das er wieder im Schreibtisch verschloß. Er wollte schlafen: er fühlte, daß er sich unbedingt sogleich hinlegen mußte, da er anderenfalls am nächsten Tage „zu nichts taugen“ würde. Dieser nächste Tag erschien ihm aus irgendeinem Grunde „verhängnisvoll“, als müsse sich dann erst „alles endgültig entscheiden“, als bringe er gewissermaßen den „wirklichen Abschluß“. Doch die Gedanken, die ihn schon den ganzen Tag, wo er auch ging und stand, verfolgt und keinen Augenblick ganz verlassen hatten, die drängten und stießen sich auch jetzt wieder unermüdlich in seinem schmerzenden Hirn, und er dachte, dachte, dachte, und lange noch konnte er nicht einschlafen ...

„Wenn es nun wirklich feststeht, daß sein Mordanschlag ein unvorbereiteter war,“ mußte er immer wieder denken, „sollte ihm dann der Gedanke, mich umzubringen, nicht wenigstens einmal schon früher in den Kopf gekommen sein – wenn auch nur als kurzer Einfall? in einem Augenblick der Wut?“

Er beantwortete sich die Frage sehr sonderbar, und zwar damit, daß Pawel Pawlowitsch ihn allerdings habe ermorden wollen, daß jedoch der Gedanke an einen Mord dem Mörder kein einziges Mal vorher in den Sinn gekommen sei. „Kurz, Pawel Pawlowitsch wollte mich ermorden,“ sagte er sich, „wußte aber selbst nicht, daß er es wollte. Das klingt widersinnig, ist aber richtig.“

„Nicht, um sich versetzen zu lassen und auch nicht Bagontoffs wegen ist er nach Petersburg gekommen – obschon er sich versetzen lassen wollte und Bagontoff hier aufsuchte und sich über dessen Tod ärgerte. Bagontoff war ihm nichts, den verachtete er einfach. Aber wegen mir – mir! war er hergekommen und ... hatte Lisa mitgebracht! ...“

„Aber sollte ich selbst erwartet haben, daß er mich ... ermorden könnte?“ fragte er sich, dachte wieder lange nach und mußte die Frage schließlich bejahen: er hatte es von dem Augenblick an erwartet, als er ihn damals im Wagen an der Kanal-Brücke erblickt hatte, hinter dem Sarge Bagontoffs. „Ja, von dem Augenblick an begann ich so etwas zu erwarten ... aber, versteht sich, nicht wörtlich und genau so, selbstverständlich erwartete ich nicht, daß er mich ermorden werde! ...“

„Und sollte das wirklich, wirklich alles wahr sein,“ fuhr es ihm plötzlich durch den Sinn und er erhob den Kopf vom Kissen und schlug die Augen auf, „alles das, was dieser ... Verrückte gestern hier von seiner Liebe zu mir sprach, als sein Kinn zu zittern begann und er sich mit der Faust ans Herz schlug?“

„Entschieden ist es wahr,“ urteilte er schließlich, und er vertiefte sich immer mehr in die Analyse, „dieser Mann aus T. war natürlich dumm genug und in seinen Voraussetzungen anständig genug, um sich in den Liebhaber seiner Frau zu verlieben, von deren Untreue er in zwanzig Jahren nichts, nicht das Geringste bemerken konnte! Neun Jahre lang hat er mich verehrt, mich und mein Andenken, und hat sich sogar meine ‚Aussprüche‘ gemerkt – Herrgott! – und ich habe von allem keine Ahnung gehabt! Nein, er konnte gestern nicht lügen! Aber hat er mich denn gestern geliebt, als er mir seine Liebeserklärung machte und ‚abrechnen‘ wollte? Ja, auch gestern hat er mich geliebt, hat mich aus Wut geliebt: und diese Liebe ist die stärkste ...“

„Aber es ist doch möglich, nein, es ist sogar mit aller Bestimmtheit anzunehmen, daß ich damals in T. einen kolossalen Eindruck auf ihn gemacht habe, – gerade einen ‚kolossalen‘ und ‚wohltuenden‘ Eindruck – und gerade bei solch einem Idealisten im Schillerschen Sinne war das möglich! Er hat mich für hundertmal großer gehalten, als ich war. Jawohl: ein so großer Eindruck war es, den ich auf ihn, in seiner vereinsamten Gedankenwelt, machte, ... Doch wäre es ganz interessant, zu wissen, wodurch ich ihm eigentlich imponiert habe? Vielleicht nur durch besondere Glacéhandschuhe und die Art, wie ich sie abstreifte oder anzog. Solche Menschen lieben Ästhetik, oh, und wie! Gar mancher edlen Seele, und wenn sie noch dazu einem ‚ewigen Gatten‘ angehört, genügen ein Paar Handschuhe vollkommen. Das übrige vervollständigen sie dann selbst bis ins Tausendfache, und sie werden sich sogar für einen schlagen, wenn es soweit kommen sollte. Und wie hoch er meine Verführungsmittel einschätzt! Oder vielleicht hat ihm gerade die Art, wie ich mich ihr näherte, damals am meisten imponiert? Und sein Ausruf hier nach dem Kuß: ‚Wenn auch der, wenn auch der!‘ – das heißt: an wen kann man dann noch glauben! Nach diesem Ausruf wird man ja zum Tier! ...“

„Hm! Er ist nach Petersburg gekommen, um mir ‚um den Hals zu fallen und mit mir zu weinen‘, wie er sich selbst gemeinerweise ausdrückte, das heißt, er fuhr, um mich zu ermorden, und glaubte doch selbst, daß er fahre, um mich zu ‚umarmen und mit mir zu weinen‘ ... Und er nahm Lisa mit. Aber wie: hätte ich mit ihm geweint, so würde er mir vielleicht alles verziehen haben, wirklich, denn es war ja sein größter Wunsch, zu verzeihen! ... Und das schlug dann beim ersten Zusammenstoß in betrunkenes Sich-verstellen um, alles wurde zur Karikatur und lief auf nichts anderes hinaus, als auf weibisches Geheul über die ihm zugefügte Beleidigung. (Die Hörner, die Hörner, wie er sich die aufsetzte!) Deshalb kam er angetrunken zu mir, um sich, wenn auch unter Verstellungen, doch zu verraten oder sich erraten zu lassen; im nüchternen Zustande hätte auch er es nicht fertig gebracht ... Und das Verstellen und Verstecken und Hervorlugen und Wiederverstecken – ach, wie er das liebte! Wie froh er war, als er es so weit gebracht hatte, daß ich ihn küßte! Nur wußte er damals selbst nicht, womit es enden würde: mit einer Umarmung oder einem Mord? Natürlich kam’s heraus, daß das beste beides zusammen war. Die natürlichste Entscheidung! – Ja, da sieht man’s wieder: die Natur liebt die Mißgeburten nicht und schlägt sie mit ‚natürlichen Entscheidungen‘ einfach tot. Die mißgeborenste Mißgeburt – das ist die Mißgeburt mit edlen Gefühlen: ich weiß es aus eigener Erfahrung, Pawel Pawlowitsch! Die Natur ist der Mißgeburt keine zärtliche Mutter, sondern eine Stiefmutter. Die Natur gebiert die Mißgeburt, sie bringt sie ja selbst hervor, doch statt nun Mitleid mit ihr zu haben, straft und züchtigt sie sie noch, – und es ist auch gut und recht so. Umarmungen und Tränen des Allverzeihens sind selbst von anständigen Leuten heutzutage nicht umsonst zu haben, geschweige denn von solchen, wie wir beide, Pawel Pawlowitsch!“

„Ja, er war dumm genug, mich zu seiner Braut zu führen, – Gott! Seine Braut! Wahrlich, nur in einem solchen Menschen konnte der Gedanke entstehen, durch die Unschuld einer Mademoiselle Sachlebinin zu einem ‚neuen Leben aufzuerstehn‘! Doch man kann dir deshalb keinen Vorwurf machen, Pawel Pawlowitsch, jedenfalls nicht dir: du bist eine Mißgeburt, und deshalb muß auch alles an und in dir mißgeboren sein. Deine Selbsttäuschungen wie deine Hoffnungen. Aber trotzdem hat er an ihnen zu zweifeln begonnen – weshalb denn auch die hohe Sanktion Weltschaninoffs, des ehrfurchtsvoll geachteten, notwendig wurde! Es ging nicht ohne Weltschaninoffs Beifall, ohne seine Billigung und seine Bestätigung, daß die Illusion keine Illusion, sondern ein wirkliches Ding war! Er hat mich in ehrfurchtsvoller Hochachtung meiner Person und im festen Glauben an die Anständigkeit meiner Gefühle hingeführt, – vielleicht sogar in dem Glauben, daß wir uns dort hinter einem Busch, in der Nähe der Unschuld, in die Arme sinken und miteinander weinen würden. Ja, und dann mußte sich doch dieser ‚ewige Gatte‘ endlich einmal – es war ja einfach seine Pflicht – mußte sich doch wenigstens irgendeinmal bestrafen für alles, mußte sich definitiv bestrafen, und um sich zu bestrafen, griff er zum Rasiermesser, – freilich ganz unverhofft, und ohne daß er es wollte, aber immerhin griff er danach! ‚Er hat ihm aber doch das Messer in den Leib gestoßen, hat es doch fertig gebracht, sogar in Gegenwart des Gouverneurs!‘ Übrigens – ob er wohl schon damals, als er mir diese Hochzeitsgeschichte erzählte, irgend etwas Derartiges im Sinne gehabt haben sollte? – wenn auch nur in ganz entfernter Gedankenverbindung? Und als er damals in der Nacht ausgestanden war und mitten im Zimmer stand, – sollte er auch da schon? ... Hm! ... Nein, damals stand er nur zum Spaß, sich zum Spaß auf. Nur in der Absicht war er aufgestanden, um – ... als er aber sah, daß mir bange wurde, daß ich ihn zu fürchten begann, da antwortete er mir erst nach ganzen zehn Minuten, so lange ließ er mich warten, denn es war ihm doch gar zu angenehm, daß ich ihn fürchtete ... Damals kann ihm vielleicht wirklich so etwas zum erstenmal in den Sinn gekommen sein – als er hier in der Dunkelheit stand ...“

„Und wenn ich nun gestern nicht dieses Rasiermesser auf dem Tisch vergessen hätte, – wäre wohl nichts geschehen. Oder doch? Oder doch? Ist er mir nicht aus dem Wege gegangen – ganze vierzehn Tage lang? Hat er sich doch sogar vor mir versteckt, – aus Mitleid mit mir! Und zuerst erkor er sich den Bagontoff und nicht mich! Und in der Nacht sprang er auf, um für mich Teller zu wärmen, im Glauben, sich damit abzulenken: vom Messer – durch Rührung! ... Und wollte sich und mich damit retten – mit gewärmten Tellern! ...“

Und noch lange arbeitete das kranke Hirn dieses ehemaligen „Salonmenschen“ weiter, bis er endlich einschlummerte. Am nächsten Morgen aber erwachte er mit demselben krausen Hirn: und zwar mit einem ganz neuen und diesmal ganz unerwarteten Schrecken im Gefühl und in den Gedanken ...

Dieser neue Schrecken war die unerschütterliche Überzeugung, die sich plötzlich in ihm festgesetzt hatte, daß er, Weltschaninoff, der Weltmann, der doch genau wußte, was sich schickt und was sich nicht schickt, aus eigenem freien Antriebe, und zwar heute noch, zu Pawel Pawlowitsch gehen werde – warum? Wozu? – das wußte er selbst nicht und wollte es auch nicht wissen, so ekelhaft war es ihm; er wußte nur, daß er sich aus irgendeinem Grunde „hinschleppen“ werde.

Diese „Verrücktheit“ – anders glaubte er sie nicht benennen zu können – entwickelte sich indessen so, daß sie, soweit das möglich war, den Anschein von Vernunft erhielt und daß er schließlich einen ziemlich triftigen Vorwand fand: er sagte sich, daß er schon die ganze Zeit die Empfindung nicht losgeworden sei, Pawel Pawlowitsch habe sich nach seiner Wohnung begeben, sich in derselben eingeschlossen und dann erhängt, – wie jener Kommissär, von dem ihm Marja Ssyssojewna erzählt hatte. Diese Einbildung war in ihm allmählich, mochte sie auch noch so widersinnig sein, zur festen Überzeugung geworden. „Weshalb sollte sich dieser Dummkopf aufknüpfen?“ unterbrach er sich selbst immer wieder in seinem Gedankengang. Ihm fielen Lisas Worte ein ... „Doch übrigens, ich würde mich an seiner Stelle vielleicht auch aufhängen ...“ fuhr es ihm einmal durch den Sinn.

Es endete damit, daß er, statt ins Restaurant zum Mittagessen zu gehen, sich tatsächlich zu Pawel Pawlowitsch begeben wollte. „Ich werde mich nur bei Marja Ssyssojewna nach ihm erkundigen,“ sagte er sich, als er seine Wohnung verließ. Doch noch war er nicht auf die Straße getreten, als er plötzlich unter dem Torbogen des Hauses stehen blieb.

„Nicht möglich!“ dachte er und wurde vor Scham bis unter die Haarwurzeln rot, „sollte ich wirklich zu ihm trotten, um ihm ‚in die Arme zu sinken und mit ihm zu weinen‘? Sollte wirklich gerade diese sinnlose Gemeinheit zur Vollendung der ganzen Gemeinheit noch fehlen!?“

Doch vor der Ausführung dieser „sinnlosen Gemeinheit“ rettete ihn die Vorsehung selbst, die ganz spezielle aller anständigen und ehrenwerten Menschen. Kaum war er nämlich auf die Straße getreten, als er plötzlich mit Alexandr Loboff zusammenstieß. Der Jüngling mußte in größter Eile gekommen sein und sah erregt aus.

„Ah, da sind Sie ja! Ich wollte zu Ihnen. Na, was sagen Sie zu unserem Freunde Pawel Pawlowitsch? Teufel noch eins!“

„Hat sich erhängt?“ stieß Weltschaninoff atemlos hervor.

„Wer hat sich erhängt? Wo?“ – Loboff riß die Augen auf.

„Nichts ... ich meinte es nur so – fahren Sie fort!“

„Pfui Teufel, was Sie für Gedanken haben! Sie meinten ihn? O nein, ist ihm gar nicht eingefallen – und weshalb sollte er? – im Gegenteil, er ist jetzt glücklich abgereist. Ich komme soeben vom Bahnhof, hab’ ihn in den Waggon gesetzt und fortexpediert. Teufel, wie der Kerl säuft, Sie glauben’s nicht! Wir haben zusammen drei Flaschen getrunken, Champagner! Predpossyloff war auch dabei. Aber wie er säuft, wie er säuft! Zum Schluß stimmte er noch Lieder an, sprach von Ihnen, winkte aus dem Fenster und warf uns Kußhände zu, – ließ Sie grüßen. Aber was meinen Sie, ist er nicht doch ein Schuft, – was?“

Der junge Mann war in der Tat nicht nüchtern: sein gerötetes Gesicht, die blitzenden Augen und die nicht ganz gehorsame Zunge legten davon deutlich Zeugnis ab.

Weltschaninoff lachte schallend auf.

„Haha! Da haben Sie zu guter Letzt doch noch mit Brüderschaft geendet! Sind sich in die Arme gesunken und haben gemeinsam geweint! Ach, ihr Schillerianer!“

„Bitte schimpfen Sie nicht. Wissen Sie, er hat sich dort von allem losgesagt. Gestern erfuhr ich’s schon, heute war ich wieder da. Er hat mörderlich geklatscht. Nadjä ist eingesperrt – sitzt wieder in der Kammer. Natürlich: Tränen, Geschrei, aber wir geben nicht nach! Doch wie er säuft, wie er säuft! Ich sag’ Ihnen, Sie glauben’s nicht! Und wissen Sie, was für einen mauvais ton er hat, das heißt, nicht mauvais ton, aber – na, wie heißt das doch wieder? ... Und immer sprach er von Ihnen. Aber er ist ja gar nicht mit Ihnen zu vergleichen! Sie sind doch immerhin ein anständiger Mensch und haben wirklich mal zur höheren Gesellschaft gehört – sind nur jetzt gezwungen, sich von ihr zurückzuziehen – aus Armut, oder wie’s da war ... weiß der Teufel, ich wurde nicht klug aus ihm ...“

„Ah, so hat er Ihnen in diesen Ausdrücken von mir erzählt?“

„Er, natürlich, ärgern Sie sich nicht. Mensch sein, ist mehr wert, als die ganze höhere Gesellschaft. Ich sage das, weil man heutzutage in Rußland nicht weiß, wen man achten soll. Sie müssen doch zugeben, daß das eine schlimme Zeitkrankheit ist, wenn man nicht weiß, wen man achten soll, – nicht wahr?“

„Gewiß, gewiß, aber was sagte er noch?“

„Er? Ja richtig! ... Ach ja! – weshalb sagte er immer: ‚der fünfzigjährige, doch verarmte Weltschaninoff‘? Weshalb ‚doch verarmte‘ und nicht ‚und verarmte‘? Und er lachte dabei, wiederholte es tausendmal! Im Coupé begann er zu singen und dann weinte er – einfach widerlich; er konnte einem sogar leid tun, – in seiner Betrunkenheit. Ach, ich mag Dummköpfe nicht! Den Bettlern warf er Geld hin, die sollten für die Seelenruhe einer Lisaweta beten – das war wohl seine Frau?“

„Seine Tochter.“

„Was ist mit Ihrer Hand?“

„Ich habe mich geschnitten.“

„Tut nichts, vergeht. Wissen Sie, hol’ ihn der Teufel, gut, daß er fort ist; aber ich wette, daß er dort, wohin er jetzt kommt, sogleich wieder heiraten wird, – hab’ ich nicht recht?“

„Aber Sie wollen doch auch heiraten?“

„Ich? Ja, ich! – ich bitte Sie, das ist doch etwas ganz anderes! Sind Sie sonderbar! Wenn Sie ein Fünfzigjähriger sein sollen, dann ist er bestimmt schon ein Sechzigjähriger! Hier tut Logik not, mein Bester! Aber wissen Sie, früher, das ist schon lange her, da war ich ein Slawophile, in meinen Überzeugungen, meine ich, doch jetzt, jetzt erwarten wir die Morgenröte vom Westen ... Nun, auf Wiedersehen; gut, daß ich Sie hier traf, so brauchte ich nicht hinaufzugehen; fordern Sie mich nicht auf, bitten Sie nicht, habe keine Zeit! ...“

Und er eilte davon.

„Ach, richtig, wie konnt’ ich’s denn vergessen!“ rief er plötzlich, indem er schnell wieder zurückkam, „er hat mich doch mit einem Brief zu Ihnen geschickt! Hier ist der Brief. Weshalb kamen Sie nicht zum Abschied zur Bahn?“

Weltschaninoff kehrte in seine Wohnung zurück und erbrach das Kuvert, das mit seiner Adresse versehen war.

Doch der Brief, der in dem Kuvert lag, war nicht von Pawel Pawlowitsch – der hatte keine Zeile geschrieben, kein Wort. Weltschaninoff erkannte aber die Handschrift sogleich. Es war ein alter Brief, das Papier war vergilbt und die Schrift verblaßt. Der Brief war vor zehn Jahren an ihn nach Petersburg geschrieben, zwei Monate nach seiner Abreise aus T. Doch den Brief hatte er niemals erhalten; statt seiner war damals jener andere Brief gekommen: das ging deutlich aus diesen blassen Zeilen hervor.

In diesem Brief machte Natalja Wassiljewna, indem sie für immer von ihm Abschied nahm – die Abschiedsworte waren dieselben, wie in jenem anderen Brief, den er damals erhalten hatte, und indem sie ihm auch gestand, daß sie bereits einen anderen liebte – kein Geheimnis daraus, daß sie tatsächlich schwanger war, was sie ihm ja schon in T. mitgeteilt hatte. Sie versprach ihm sogar, um ihn zu trösten, daß sie Gelegenheit finden werde, ihm das Kind zu zeigen; jetzt seien es Pflichten, die sie verbänden, schrieb sie, und ihre Freundschaft sei nun durch unzerreißbare Bande gesichert. Kurz, es war wenig Logik in dem Brief. Der Sinn war schließlich der, daß er sie mit seiner Liebe verschonen solle. Dann aber erlaubte sie ihm wieder, sie nach einem Jahr einmal in T. zu besuchen, wenn er den Wunsch haben sollte, das Kind zu sehen. Gott weiß, weshalb sie sich bedacht und nicht diesen, sondern jenen anderen Brief abgesandt haben mochte!?

Weltschaninoff war bleich, während er las. Er stellte sich Pawel Pawlowitsch vor, wie er diesen Brief gefunden und zum erstenmal gelesen hatte! – über der geöffneten Schatulle aus Ebenholz, mit der kunstvollen Einlegearbeit in Perlmutter und Silber ...

„Auch er muß bleich geworden sein, wie ein Toter,“ dachte Weltschaninoff, als er sein Gesicht zufällig im Spiegel sah, „er hat nachher wohl die Augen geschlossen und sie plötzlich wieder geöffnet, in der Hoffnung, daß der Brief sich in gewöhnliches weißes Papier verwandelt haben werde ... Dreimal wenigstens mag er den Versuch wiederholt haben! ...“

XVII.
Der ewige Gatte.

Fast ganze zwei Jahre waren seit den von uns geschilderten Ereignissen vergangen. Es war ein wundervoller Sommertag, als Herr Weltschaninoff auf einer unserer neueröffneten Eisenbahnstrecken nach Odessa fuhr. Dort wollte er einen ehemaligen Freund besuchen, und zwar nicht nur, um eine kleine Abwechslung zu haben, sondern gleichzeitig noch aus einem anderen, gleichfalls sehr angenehmen Grunde: durch diesen Freund hoffte er nämlich die Bekanntschaft einer äußerst interessanten Dame zu machen, die näher kennenzulernen schon lange sein Wunsch gewesen war. Ohne auf Einzelheiten einzugehen sei hier nur bemerkt, daß er sich in diesen letzten zwei Jahren stark verändert, oder richtiger, verbessert hatte. Von seiner einstigen Hypochondrie war keine Spur mehr zu bemerken, und von den verschiedenen „Erinnerungen“ und Aufregungen, die ihn vor zwei Jahren in Petersburg heimgesucht hatten – damals, als er infolge der ungünstigen Wendung seines Rechtsstreits ganz nervös geworden war – von all diesen Unannehmlichkeiten war ihm nichts weiter verblieben, als die Empfindung einer gewissen Scham, wenn er seines damaligen „Kleinmuts“ gedachte. Doch auch diese Empfindung wurde zum Teil wieder aufgehoben durch die Überzeugung, daß sich „so etwas“ nie mehr wiederholen werde, und daß von dem „einen Fall“ ja niemand etwas erfahren konnte. Allerdings hatte er sich damals aus dem Gesellschaftsleben ganz zurückgezogen, hatte sogar sein Äußeres vernachlässigt, und war allen aus dem Wege gegangen – was natürlich von allen erst recht bemerkt worden war. Doch hatte er sich so bald mit seinem alten Selbstvertrauen überall wieder eingefunden, daß ihm „alle“ seinen kurzen Abfall gern verziehen; und selbst diejenigen, die er bereits zu grüßen aufgehört hatte und von denen er schon beinahe vollständig übersehen worden war, grüßten ihn jetzt zuerst und streckten ihm die Hand entgegen, und zwar ohne alle langweiligen Fragen – ganz als sei er während der Zeit irgendwo fern von Petersburg in Privatangelegenheiten, die niemand angingen, verreist gewesen und erst jetzt wieder zurückgekehrt. Die Ursache dieser günstigen Veränderungen war natürlich sein gewonnener Prozeß. Weltschaninoff hatte im ganzen sechzigtausend Rubel erhalten, fraglos nur eine Kleinigkeit, die aber für ihn im Augenblick doch sehr wertvoll war: vor allem fühlte er jetzt wieder festen Boden unter den Füßen, und das gab ihm dann einen ganz anderen moralischen Halt. Außerdem wußte er nun mit aller Bestimmtheit, daß er dieses letzte Vermögen nicht mehr „wie ein Esel“ verschleudern werde, wie er die ersten beiden verschleudert hatte, daß er vielmehr jetzt bis an sein Lebensende sichergestellt war. „Mag ihr ganzes Gesellschaftsgebäude krachen und mögen sie da reden und schreiben was sie wollen,“ dachte er bisweilen, wenn er all das Wunderliche und Unglaubliche sah und hörte, das rings um ihn und in ganz Rußland zu sehen und zu hören war, „und mögen sich auch alle Menschen und ihre Ansichten verändern, ich werde doch immer dieses feine und schmackhafte Mittagessen haben, zu dem ich mich jetzt an den Tisch gesetzt, folglich aber brauche ich mir um die Zukunft keine Sorgen zu machen, gleichviel, was da kommen wird.“ Dieser Gedanke, zärtlich, wie er ihn hegte, ging ihm allmählich fast in Fleisch und Blut über und verursachte in ihm nicht nur eine moralische, sondern fast sogar auch eine rein physische Umwandlung: er sah ganz anders aus, war gar nicht mehr zu vergleichen mit jenem Hypochonder, der er vor zwei Jahren gewesen und dem bereits so „unanständige“ Widerwärtigkeiten hatten begegnen können. Er war vielmehr heiter und selbstbewußt und imponierte durch seine Überlegenheit. Selbst die bösartigen kleinen Runzeln, die sich bereits um die Augen und auf der Stirn einzunisten begonnen hatten, waren jetzt so gut wie ganz verschwunden, und sogar seine Gesichtsfarbe sah jünger und frischer aus. Zur Stunde saß er sehr bequem in einem Coupé erster Klasse und hatte nichts dagegen einzuwenden, daß in seinem Gehirn ein plötzlich entstandener Gedanke sich immer breiter machte, zumal dieser nicht ohne Reiz war. Auf der nächsten Station bog nämlich eine Zweigbahn nach rechts ab: wenn er nun, so dachte er, die Hauptlinie verlassen und sich auf kurze Zeit nach rechts begeben würde, dann brauchte er nur die Strecke von zwei Stationen zurückzulegen, um von dort aus eine bekannte Dame besuchen zu können, die gerade jetzt aus dem Auslande zurückgekehrt war und sich zurzeit in einer ihm sehr angenehmen, doch sie gewiß sehr langweilenden Provinzeinsamkeit aufhielt: es bot sich ihm also die beste Gelegenheit, daselbst einige Zeit nicht weniger interessant zu verbringen, als in Odessa – und was ihn dort erwartete, lief jedenfalls auch nicht fort. Er war aber doch noch unentschlossen und wußte nicht, wozu er sich nun endgültig entscheiden sollte. Er wartete auf einen „Schicksalswink“ oder etwas Ähnliches. Inzwischen hatte der Zug die betreffende Station erreicht, und der „Schicksalswink“ blieb auch nicht aus.

Der Zug hatte hier nämlich vierzig Minuten Aufenthalt und die Passagiere konnten sich ein Mittagessen bestellen. Am Eingang zum Wartesaale erster und zweiter Klasse drängte sich wie gewöhnlich eine Menge Ungeduldiger, die es eilig hatten, und bei der Gelegenheit kam es – vielleicht gleichfalls „wie gewöhnlich“ – zu einem Skandal. Eine Dame, die aus einem Coupé zweiter Klasse ausgestiegen war und die ein sehr hübsches Gesichtchen hatte – nur war sie für eine Reisende viel zu auffallend gekleidet – schleppte fast mit Gewalt einen noch sehr jungen und hübschen Ulanenoffizier, der sich immer wieder von ihr losreißen wollte, zum Wartesaal. Der junge Offizier war stark betrunken, und die Dame – offenbar eine ältere Verwandte – mochte ihn nur deshalb bei sich behalten wollen, weil sie wohl befürchtete, daß er sonst das Büfett aufsuchen und weitertrinken würde. In der Tür, wo das Gedränge am größten war, stieß der Ulan recht unsanft mit einem Kaufmann zusammen, der gleichfalls einen Rausch hatte. Dieser Kaufmann hielt sich schon den zweiten Tag auf der Station auf, trank, umringt von einem ganzen Anhang, warf das Geld mit vollen Händen fort, und verpaßte immer wieder den Zug, der ihn weiterbringen sollte. Es entstand ein Streit, der Kaufmann schimpfte und der Offizier schrie ihn an, die Dame aber zerrte ihren Schützling ganz verzweifelt fort und suchte ihn zu beschwören, indem sie immer nur flehentlich „Mitinka! Mitinka!“ rief. Das erschien dem braven Kaufmann doch zu skandalös; alles lachte natürlich, er aber fühlte sich durch die, wie ihm schien, so offen verletzte „Moral“ tief gekränkt.

„Seht doch: ‚Mi–tin–ka‘!“ äffte er die hohe Stimme der Dame im Fisteltone nach, „selbst in der Öffentlichkeit schämen sie sich nicht mehr!“

Und er näherte sich schwankend der Dame, die auf den ersten besten Stuhl niedergesunken war und den Ulan neben sich hingesetzt hatte, betrachtete beide verächtlich und schimpfte gedehnt:

„’Ne Schlumpe bist du, ’ne Schlumpe, sieh, wie dein Kleiderschwanz aussieht!“

Die Dame schrie auf und sah sich hilfesuchend nach einem Verteidiger um. Sie schämte sich und fürchtete sich – und zur Vollendung des Jammers sprang noch der Ulan auf und wollte sich brüllend auf den Kaufmann stürzen, stolperte aber über die eigenen Beine, schwankte und fiel auf seinen Platz zurück. Das Gelächter wurde noch lauter, und niemand dachte daran, der bedrängten Dame zu Hilfe zu kommen. Da griff Weltschaninoff als Retter ein: er packte plötzlich den Kaufmann am Kragen, drehte ihn von der Dame fort und stieß ihn so, daß er fünf Schritte weit flog. Damit aber war der Skandal zu Ende. Der Kaufmann war ganz verblüfft, sowohl durch den Stoß wie durch die imponierende Erscheinung Weltschaninoffs, und ließ sich von der Schar seiner Freunde widerspruchslos fortführen. Das Auftreten des elegant gekleideten Herrn flößte auch den Spöttern Achtung ein: das Lachen verstummte. Die Dame begann sogleich, errötend und fast unter Tränen, ihn ihrer Dankbarkeit zu versichern. Der Ulan stotterte: „Da–anke, da–anke!“ und wollte Weltschaninoff bereits die Hand reichen, besann sich jedoch eines Besseren und streckte sich auf den Stühlen aus.

„Aber Mitinka!“ rief die Dame vorwurfsvoll und schlug die Hände zusammen.

Weltschaninoff begann der Vorfall zu amüsieren und die Dame interessierte ihn. Allem Anscheine nach war sie eine reiche Kleinstädterin, die sich für die Reise viel zu auffallend und leider auch geschmacklos gekleidet hatte. Jedenfalls waren ihre Manieren ein wenig lächerlich. Mit einem Wort, sie schien alle die Eigenschaften zu besitzen, die einem großstädtischen Gecken jeden Erfolg garantieren. Es begann eine Unterhaltung: die Dame erzählte sehr viel und beklagte sich über ihren Gatten, der plötzlich aus dem Coupé irgendwohin verschwunden sei. Nur deshalb sei alles passiert: immer verschwände er gerade dann, wenn man ihn nötig habe.

„Irgendwohin ...“ brummte der Ulan.

„Ach, Mitinka!“ rief sie wieder vorwurfsvoll und rang die Hände vor Ratlosigkeit.

„Na, dem Gatten wird’s schlimm gehen!“ dachte Weltschaninoff.

„Ich werde versuchen, ihn ausfindig zu machen. Darf ich fragen, wie Ihr Herr Gemahl heißt?“

„Pal Palytsch,“ versetzte der Ulan.

„Ihr Gemahl heißt Pawel Pawlowitsch?“ fragte Weltschaninoff interessiert, als plötzlich ein ihm wohlbekannter kahler Kopf zwischen ihm und der Dame auftauchte. Einen Moment sah er wieder den Sachlebininschen Garten, die kindlich frohe Mädchenschar vor sich, und dann diesen lästigen kahlen Kopf, der ewig zwischen ihm und Nadjä aufgetaucht war.

„Da sind Sie endlich!“ empfing die Dame ganz empört ihren Gatten.

Es war tatsächlich derselbe Pawel Pawlowitsch, der jetzt vor ihm stand und ihn anstarrte, als sehe er ein Gespenst. Sein Schrecken war so groß, daß er augenscheinlich nichts davon verstand, was seine gekränkte Gattin erregt und empört vorbrachte, ja, vielleicht hörte er sie nicht einmal reden. Endlich fuhr er erschrocken zusammen und erfaßte offenbar im Augenblick die ganze Sachlage: seine Schuld und Mitinkas Schuld und schließlich, daß dieser „Mßjö“ – so hatte die Dame Weltschaninoff bezeichnet – als „Schutzengel und Retter“ seiner Gattin beigestanden hatte, während er, der Sündenbock, ewig nicht zur Stelle war, wenn er zur Stelle sein sollte ...

Weltschaninoff lachte auf – köstlich amüsiert.

„Aber wir sind ja doch Freunde, sogar ‚Jugendfreunde‘!“ unterbrach er lachend den Redefluß der Dame, und faßte Pawel Pawlowitsch, gleichsam ein wenig familiär protegierend, mit seinem rechten Arm um die Schultern, während dieser mit bleichen Lippen lächelte. „Hat er Ihnen nie etwas von Weltschaninoff erzählt?“

„Nein, niemals ...“ sagte die Dame etwas verwundert.

„Aber so stellen Sie mich doch Ihrer Frau Gemahlin vor, Sie ungetreuer Freund!“

„Das ist ... wirklich, Lipotschka, das ist Herr Weltschaninoff, ja ...“ begann Pawel Pawlowitsch, blieb beschämenderweise stecken, und wußte nicht, was er sagen oder tun sollte.

Die Gemahlin wurde feuerrot vor Zorn, da er sie mit „Lipotschka“ anzureden gewagt hatte: der Blick, der den armen Gatten traf, war gewiß nicht zärtlich.

„Und denken Sie sich, nicht einmal seine Verlobungsanzeige hat er mir geschickt, und auch zur Hochzeit hat er mich nicht eingeladen, doch Sie, Olympiada ...“

„Ssemjonowna,“ half ihm Pawel Pawlowitsch.

„Ssemjonowna!“ wiederholte plötzlich wie ein Echo der Ulan, der bereits eingeschlummert zu sein schien.

„Sie müssen es ihm schon verzeihen, Olympiada Ssemjonowna, um dieses freundschaftlichen Wiedersehens willen ... Er ist – ein guter Gatte!“

Und Weltschaninoff klopfte bei diesen Worten Pawel Pawlowitsch freundschaftlich auf die Schulter.

„Herzchen, ich war nur ... nur einen Augenblick ... etwas ... etwas zurückgeblieben,“ begann Pawel Pawlowitsch sich zu rechtfertigen.

„Und haben Ihre Frau einer schändlichen Szene preisgegeben!“ fiel ihm Lipotschka sogleich ins Wort, „wo es nötig ist – da sind Sie nicht da, wo es nicht nötig ist – da sind Sie da ...“

„Wo’s nicht nötig ist – da, wo’s nicht nötig ist ... wo’s nicht nötig ist ...“ wiederholte der Ulan.

Lipotschka war fast atemlos vor Ärger und Aufregung, sie wußte es ja selbst, daß es nicht gut war, sich in Weltschaninoffs Gegenwart gehen zu lassen, und sie schämte sich deshalb auch, doch konnte sie sich nicht mehr beherrschen.

„Wo es nicht nötig ist, sind Sie nur zu vorsichtig, nur zu vorsichtig!“ entfuhr es ihr unwillkürlich.

„Unterm Bett ... sucht er Liebhaber ... unterm Bett – wo’s nicht nötig ist ... wo’s nicht nötig ist ...“ rief plötzlich auch Mitinka ganz aufgebracht.

Doch mit Mitinka war nichts mehr anzufangen. Übrigens verlief die Sache noch ganz gut. Olympiada Ssemjonowna schickte Pawel Pawlowitsch zum Buffet, damit er ihnen Kaffee und Bouillon besorge, und erzählte dann Weltschaninoff, daß sie aus O. kämen, wo ihr Gatte angestellt sei, und nun zwei Monate auf ihrem Landgute zubringen wollten; das Gut sei von dieser Station nur noch vierzig Werst entfernt und dort hätten sie ein schönes Haus und einen schönen Garten, und es käme auch Besuch hin, und sie hätten auch nette Nachbarn, und wenn er, Alexei Iwanowitsch, ihnen die Freude machen wollte, sie dort in ihrer „Einsamkeit“ zu besuchen, so werde sie ihn wie ihren „Schutzengel und Retter“ empfangen, denn sie könne noch nicht ohne Entsetzen daran denken, was geschehen wäre, wenn nicht er ... usw. usw., mit einem Wort, sie werde ihn aufnehmen wie ihren „Schutzengel“ ...

„Und Retter, und Retter,“ fügte der Ulan eifrig hinzu.

Weltschaninoff dankte höflich und erwiderte, daß er jederzeit gern dazu bereit sein würde, da ihn als den unbeschäftigten Menschen, der er war, nichts binde, und daß ihre Aufforderung ihm sehr schmeichelhaft sei. Darauf begann er eine amüsante Unterhaltung, in der er ihr geschickt zwei oder drei Komplimente sagte. Lipotschka errötete vor Vergnügen, und als Pawel Pawlowitsch zurückkehrte, teilte sie ihm sogleich freudestrahlend mit, daß Alexei Iwanowitsch so liebenswürdig gewesen sei, ihre Aufforderung, sie auf dem Landgute zu besuchen, und einen Monat bei ihnen zu verbringen, anzunehmen und daß er versprochen habe, in einer Woche einzutreffen. Pawel Pawlowitsch lächelte zerstreut und schwieg, weshalb Olympiada Ssemjonowna mit einem Achselzucken zur Decke emporsah, ganz konsterniert über die Unhöflichkeit des Gatten, der kein Wort zu sagen verstand. Endlich trennte man sich: es war nochmals von Dankbarkeit die Rede, wieder fiel das Wort „Schutzengel“ und vor dem „Retter“ wieder in vorwurfsvollem Tone ein „Aber Mitinka“, bis schließlich Pawel Pawlowitsch seine Gattin und den Ulan zum Coupé geleitete. Weltschaninoff zündete sich eine Zigarette an und promenierte auf dem Bahnsteig: er wußte, daß Pawel Pawlowitsch sogleich zu ihm zurückkehren werde, um mit ihm noch bis zum Glockenzeichen zu sprechen. Und so geschah es auch. Pawel Pawlowitsch tauchte alsbald wieder auf, blieb vor ihm stehen und sah ihn mit einer angstvollen Frage im Blick und gewissermaßen in der ganzen Haltung an. Weltschaninoff mußte unwillkürlich lachen, faßte ihn „freundschaftlich“ am Ellenbogen und zog ihn zur nächsten Bank, auf der er sich niederließ und den anderen auch Platz zu nehmen bat. Dann schwieg er, um Pawel Pawlowitsch zu veranlassen, das erste Wort zu sagen.

„Also – werden Sie zu uns kommen?“ begann dieser endlich, indem er ganz offen auf seine Besorgnis zu sprechen kam.

„Wußte ich es doch! Nein, Sie sind noch ganz der alte!“ rief Weltschaninoff lachend. „So sagen Sie mir doch,“ wandte er sich an ihn, indem er ihn wieder auf die Schulter schlug, „haben Sie denn wirklich auch nur einen Augenblick im Ernst glauben können, daß ich wirklich zu Ihnen zu Gast kommen könnte, und das noch dazu auf einen ganzen Monat – hahaha!“

Pawel Pawlowitsch fuhr lebhaft auf.

„So werden Sie – nicht kommen?“ fragte er, ohne seine Freude zu verbergen.

„Nein, beruhigen Sie sich, ich komme nicht!“ lachte Weltschaninoff selbstzufrieden.

Übrigens begriff er nicht, weshalb er lachte, doch je länger sie beisammen waren, um so lachhafter erschien ihm alles.

„Wirklich ... sprechen Sie wirklich im Ernst?“ – Pawel Pawlowitsch sprang von der Bank auf und zitterte ordentlich vor Spannung.

„Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich nicht kommen werde, – Sie sind ein sonderbarer Mensch.“

„Aber was soll ich denn ... wenn es so ist ... was soll ich denn Olympiada Ssemjonowna sagen, wenn Sie nicht kommen und sie Sie vergeblich erwartet?“

„Mein Gott, da ist doch keine Schwierigkeit! Sagen Sie, ich hätte ein Bein gebrochen oder etwas Ähnliches.“

„Sie wird es nicht glauben,“ meinte Pawel Pawlowitsch kleinlaut.

„Nun, dann werden Sie büßen müssen?“ lachte Weltschaninoff immer noch. „Aber wie ich sehe, mein armer Freund, haben Sie ja vor Ihrer schönen Frau Gemahlin förmlich Angst, wie?“

Pawel Pawlowitsch versuchte zu lächeln, doch es gelang ihm nicht. Daß Weltschaninoff den Besuch ablehnte, das war natürlich gut, doch daß er sich in bezug auf seine Frau so ungeniert ausdrückte, das war natürlich nicht mehr gut. Er fühlte sich etwas gekränkt, was Weltschaninoff nicht entging. Da ertönte das zweite Glockenzeichen, und gleich darauf hörte man aus einem fernen Abteil eine hohe Damenstimme ängstlich Pawel Pawlowitsch rufen. Dieser wurde unruhig, folgte aber doch nicht dem Ruf, da er offenbar noch etwas von Weltschaninoff erwartete – natürlich nur die endgültige Versicherung, daß er sie bestimmt nicht besuchen werde.

„Was für eine Geborene ist Ihre Frau Gemahlin?“ erkundigte sich Weltschaninoff, als bemerke er die Aufregung des anderen gar nicht.

„Sie ist die Tochter unseres Propstes,“ antwortete Pawel Pawlowitsch, der ängstlich nach dem Coupé hinsah und zu horchen schien.

„Ah, verstehe, also nur um der Schönheit willen.“

Diese Bemerkung schien Pawel Pawlowitsch wieder nicht recht zu sein.

„Und wer ist denn dieser Mitinka?“

„Der ist nur so – ein entfernter Verwandter von uns, das heißt, von mir, der Sohn meiner verstorbenen Kusine, Golubtschikoff. Wegen Kassengeschichten ist er degradiert worden, jetzt aber wieder avanciert – wir haben ihm wieder aufgeholfen ... Ein armer, junger Mann ...“

„Na ja, also alles in Ordnung: komplette Einrichtung!“ dachte Weltschaninoff.

„Pawel Pawlowitsch!“ ertönte in diesem Augenblick von neuem der Ruf aus dem Coupé, und zwar bereits recht ärgerlich.

„Pal Palytsch!“ wiederholte eine andere, heisere Stimme.

Pawel Pawlowitsch wurde wieder unruhig und wußte nicht, wo er sich lassen sollte, doch plötzlich faßte ihn Weltschaninoff am Ellenbogen und hielt ihn fest.

„Oder wollen Sie – daß ich sogleich hingehe und Ihrer Frau erzähle, wie Sie mich ermorden wollten?“

„Was fällt Ihnen ein, was ...“ Pawel Pawlowitsch starrte ihn ganz entsetzt an, „um Gottes willen!“

„Pawel Pawlowitsch! Pawel Pawlowitsch!“ hörte man wieder rufen.

„Na, dann gehen Sie nur!“ Weltschaninoff gab mit gutmütigem Lachen seinen Arm frei.

„So werden Sie wirklich nicht kommen?“ flüsterte Pawel Pawlowitsch fast verzweifelt, und er faltete dazu die Hände wie im Gebet.

„Aber ich schwöre Ihnen doch, daß ich nicht kommen werde! Eilen Sie nur, sonst kann’s schlimm werden!“

Und er streckte ihm zum Abschied herzlich und offen die Hand entgegen – und – zuckte gleichzeitig zusammen: Pawel Pawlowitsch nahm sie nicht, ja er zog seine Hand sogar zurück.

Das dritte Glockenzeichen ertönte.

In beiden ging plötzlich etwas Seltsames vor sich: es war, als habe ein Augenblick sie verwandelt. Weltschaninoff, der noch vor einer Minute gelacht hatte, war sehr ernst. Es war ihm, als sei in ihm plötzlich etwas zerrissen. Wütend faßte er Pawel Pawlowitsch wie mit eiserner Hand an der Schulter.

„Wenn ich, ich Ihnen hier diese Hand hinreiche,“ und er hielt ihm seine Hand hin, über die sich quer eine breite Narbe hinzog, „so könnten Sie sie wohl nehmen!“ sagte er heiser mit zitternden, bleichen Lippen.

Pawel Pawlowitsch war gleichfalls erbleicht und auch seine Lippen begannen zu zittern. In seinem Gesicht zuckte es eigentümlich.

„Aber Lisa?“ stieß er plötzlich kurz flüsternd hervor und seine Lippen zuckten und die Wangen und das Kinn begannen zu zittern, und plötzlich stürzten ihm Tränen aus den Augen.

Weltschaninoff stand vor ihm und rührte sich nicht.

„Pawel Pawlowitsch! Pawel Pawlowitsch!“ wurde aus dem Coupé geschrien, als werde dort jemand ermordet, – ein Pfiff von der Lokomotive, ein Stoßen ...

Pawel Pawlowitsch kam plötzlich zu sich, als wache er auf, sah sich erschrocken um und eilte dann Hals über Kopf zu seinem Coupé; der Zug hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, doch es gelang ihm noch, im letzten Augenblick auf das Trittbrett zu springen und sich festzuhalten. Weltschaninoff blieb auf der Station zurück und fuhr erst mit dem Abendzuge auf derselben Strecke weiter. Die Fahrt nach rechts, zu seiner Bekannten, unterließ er – er war gar zu wenig in der Stimmung dazu. Nachher hat er’s dann freilich doch sehr bereut!

Fußnoten

[1] Lehrer. E. K. R.

[2] Großmütterchen. E. K. R.

[3] Der alten Dame sagt der Name Polina (Pauline), wohl weil er fremden Ursprungs ist, nicht sonderlich zu, weshalb sie einfach den echt russischen Namen Praskówja (eigentlich Paraskéwa) gebraucht. E. K. R.

[4] Großmutter, übliche Anrede für alte nahestehende Frauen.

[5] Die Ärzte in Rußland waren zu der Zeit größtenteils Deutsche. E. K. R.

[6] Strolch. E. K. R.

[7] Gónor (polnisch) im Russischen ironische Bezeichnung für übertriebenes polnisches „Ehrgefühl“. E. K. R.

[8] Landhaus in einem Villenort, gewöhnlich eine Villa in der Nähe der Stadt für den Sommeraufenthalt, auch kleines Landgut. E. K. R.

[9] Ehrenbegleiter des Brautpaares, von denen der eine über dem Bräutigam, der andere über der Braut während der Trauung die goldene Krone hält. E. K. R.

[10] Abkürzung von Nadeschda. E. K. R.

[11] Michail Iwanowitsch Glinka, 1804-1857, Schöpfer einer national-russischen Musik. E. K. R.

[12] Ein von Dostojewski geprägtes Wort: Der Mensch aus dem dunkelsten Winkel der Großstadt, der in den Keller seiner Selbsterkenntnis gestiegen ist. E. K. R.

[13] Ssaschenka – Diminutiv von Ssascha, der Koseform von Alexandr. E. K. R.

[14] M. J. Saltykoff, 1826-1889 (Pseud. N. Schtschedrin), russischer Satiriker, schrieb „Des Lebens Kleinigkeiten“. E. K. R.

Anmerkungen zur Transkription.

Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert nach:

F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
Zweite Abteilung: Einundzwanzigster Band
R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1910.

Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen Bucheinbänden nachempfunden und der public domain zur Verfügung gestellt.

Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt.

Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Buches verschoben.

Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.

Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.

Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):

Alexandr (Alexander)
Nadjä (Nadja)
Pogorjelzeff (Poporjelzeff, Porgojelzeff)

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme späterer Ausgaben, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):