Title: Landesverein Sächsischer Heimatschutz — Mitteilungen Band XV, Heft 7–10
Monatsschrift für Heimatschutz, Volkskunde und Denkmalpflege
Author: Landesverein Sächsischer Heimatschutz
Release date: August 28, 2025 [eBook #76751]
Language: German
Original publication: Dresden: Landesverein Sächsischer Heimatschutz, 1926
Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
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Landesverein Sächsischer
Heimatschutz
Dresden
Monatsschrift für Heimatschutz, Volkskunde und Denkmalpflege
Band XV
Inhalt: Vom Werden und Sein des Leipziger Landes – Vom Auenwald – Leipziger Land – Altertümliche Lehmwandmuster aus Nordwestsachsens Grenzdörfern – Die Harth und ihr Wert für die Großstadt Leipzig – Werden und Verändern der Vogelwelt im Leipziger Gebiet innerhalb der letzten Jahrzehnte – Leipziger Volksbräuche in alter und neuer Zeit – De Heimat – Bücherbesprechungen
Einzelpreis dieses Heftes 6 Reichsmark
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Dresden 1926
Zur freundlichen Beachtung!
Im Grundstück Dresden-A., Altmarkt 4
(neben Goldmann) haben wir im 1. Stock
Ausstellungsräume
eröffnet, wo monatlich abwechselnd kleinere Ausstellungen aus dem weiten Tätigkeitsgebiet unseres Vereins stattfinden sollen.
Als erste Ausstellung ist von jetzt ab eine
Weihnachts-Verkaufsausstellung
heimatlicher Volks- und Kleinkunst
veranstaltet. Wir bitten um regsten Besuch.
Landesverein Sächsischer Heimatschutz
[249]
Die Mitteilungen des Vereins werden in Bänden zu 12 Nummern herausgegeben
Abgeschlossen am 30. September 1926
Von Richard Buch
Mit Aufnahmen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz
Es hat lange gedauert, bis man der Eigenart und damit der Schönheit des Leipziger Landes gerecht geworden ist. Noch vor fünfzig, sechzig Jahren galt unsere Heimat wegen ihres Mangels an ausgeprägter oder auch nur deutlicher Romantik ganz allgemein für öde, reizlos und langweilig. Diejenigen, die heute noch mit Geringschätzung auf sie herabsehen, können sich auf berühmte Namen berufen (H. v. Treitschke, Ratzel u. a.). Und wer es liebt, »klassische Zeugen« für sich in Anspruch zu nehmen, der könnte hinweisen auf Goethe, auf jene bekannte Beurteilung der Leipziger Gegend in den aus Dichtung und Wirklichkeit gewobenen Lebenserinnerungen des Dichters. Es war ja, nach Goethes eigenen Worten, neben anderen Umständen vor allem der Mangel an schönen und erhebenden Natureindrücken, der ihn während seines Leipziger Aufenthalts jener Richtung des Schaffens zutrieb, die ihn alles in sich selbst suchen ließ und so seine Dichtungen zu Bruchstücken einer großen Konfession machte.
Aber die Anschauungen haben sich gewandelt. Wie sich in der Kunst ein Wechsel vollzogen hat von der sogenannten »erhabenen Landschaft«, die kaum ohne ruinengekrönte Felsen und stürzende Wasserfälle zu denken war, bis zur Darstellung des schlichten im Sonnenflimmer daliegenden Ährenfeldes, so hat sich [250]auch in der Landschaftsbetrachtung ganz allgemein ein Wandel geltend gemacht, bei dem das Was hinter das Wie der Erscheinung stark zurückgetreten ist. In unseren Tagen, wo uns die Kunst gelehrt hat, daß keine Gegend ohne Schönheit ist, wo die einst landschaftlich gänzlich verachtete Heide für Tausende zum Gegenstand schwärmerischer Verehrung geworden ist, wo ein Richard Linde uns die herben Reize der weiten Geest- und Marschbreiten an der Niederelbe in Wort und Bild begeistert verkünden durfte, da kann es auch nicht mehr als Wagnis gelten, von den Schönheiten unserer Leipziger Heimat zu reden. Seitdem uns die Malerei die Augen dafür geöffnet hat, daß selbst im flachen, eintönigen Bauernland jede schlichte Ackerfurche im Wechselspiel von Licht und Farbe eine Fülle malerischer Eindrücke offenbaren kann, wird kein sinniger und empfänglicher Betrachter unserer Leipziger Landschaft in Abrede stellen, daß auch sie Schönheiten über Schönheiten in sich birgt. Freilich liegen die Schönheiten nicht an der Straße. Sie sind dem Tagesgetriebe entrückt. Man muß sie suchen, mit der Seele suchen. Darum aber kann man sie auch still genießen, sie mit ruhigen geistigen Atemzügen in sich aufnehmen. Und wer das gelernt hat, der weiß, daß man sich Stimmungen nicht nur in den Bergen oder am weiten unendlichen Meere suchen kann, und der versteht, daß eine gemütvolle Heimatkunst, wie sie ein Max Heiland und andere Landschafter neben und nach ihm gepflegt haben, auch im Leipziger Lande wohl eine Stätte haben kann.
Wenn man sich der anmutigen Züge unserer Landschaft freuen will, dann darf man sich nicht an anderen Gegenden verdorben haben. In fremden Landen sich umgeschaut zu haben, ist der Betrachtung der schlichten Heimat noch niemals abträglich gewesen; man darf nur keine falschen Maßstäbe aus der Ferne mitbringen und sie unberechtigter Weise auf die Heimat übertragen. Unser Leipziger Land ist Tiefland, Flachland, ein Teil jener großen Ebene, die sich von Frankreich bis zu den baltischen Provinzen breitet. Als Ebene will das Leipziger Land betrachtet, als Ebene landschaftlich genossen sein. Wer unsere Gegend ob ihres Mangels an überraschenden Gegensätzlichkeiten tadelt, wer sie verachtet und langweilig schilt, weil ihr kühnanstrebende, reizvolle Steilformen fehlen, der verlangt – ja was verlangt der eigentlich? – der verlangt, daß das beschauliche, abgeklärte Alter das himmelstürmende, trotzige Feuer der Jugend besitzen soll.
Denn unsere Landschaft ist, erdgeschichtlich betrachtet, alt – sehr alt; sie zeigt durchaus die milden, vom Abendschimmer verklärten Züge des Greisenantlitzes. Unsere so hochgeschätzte Alpenlandschaft mit ihren zackigen Firnen, mit ihren tollkühnen, sich überstürzenden Wildbächen, mit ihren kindlich-träumerisch blickenden blauen Seeaugen ist von knabenhafter Jugendlichkeit gegen unser weites flachwelliges Tiefland. Im Gleichklang ihrer weichen, ruhigen Formen läßt uns diese Ebene kaum mehr ahnen, daß auch hier einst kühne Bergwellen mit zackigen Kämmen und hochaufstrebenden Firsten sich dahingezogen haben. Es war einmal! Aber nicht vor hundert oder vor tausend Jahren wie im Märchen, sondern vor Zeiten, denen gegenüber unser [251]Vorstellen und Denken versagt. – »Mitteldeutsche Alpen« hat man dieses Gebirge urvergangener Tage genannt; »variskisches Gebirge« pflegt es die Wissenschaft zu nennen. – Das Wasser, das talwärts stürzende, strömende, fließende, rieselnde, sickernde Wasser mit seiner unwiderstehlich nivellierenden, einebnenden Macht hat das vielgestaltige Bergland so lange erniedrigt, bis die letzten Hügel und Bergkämme entfernt und die letzten Rinnen und Schluchten mit Schutt- und Trümmermassen ausgefüllt waren, bis die abtragenden Gewässer im trägen Lauf dahinschlichen, bis selbst dem Winde, dem treuen Arbeitsgenossen des nagenden Tropfens, kein Angriffspunkt mehr blieb, weil er die letzten Splitterstäubchen des letzten Felsenkammes längst über die weite Niederung hingebreitet hatte.
Tief, tief im Schoße unserer Heimaterde, unter weitausgedehnten Lehm-, Kies-, Sand-, Braunkohlen- und Porphyrdecken, in Tiefen, die zum Teil nur das Auge der Wissenschaft erreicht, die sich nur den Mitteln der modernen Technik erschließen, da liegt heute der felsige Rumpf unserer Alpen begraben, der übrig gebliebene Kern, der Stumpf dieser Uralpen. Meilenlange Risse und Spalten haben ihn in der Folgezeit zerrüttet. Gigantische Schollenverlagerungen, die die Erde bang erzittern ließen, haben bewirkt, daß die uralte Grauwacke des unterirdischen Gebirgsklotzes bis in die Höhen der heutigen Erdoberfläche »verworfen« wurde, so daß die Menschen einer späteren Zeit unmittelbar vor den westlichen Toren Leipzigs (Kleinzschocher) und auch südlich der Stadt (Otterwisch, Hainichen) im Flachlande Steinbrüche, richtige Steinbrüche, anlegen konnten. Leider ist es trotz angestrengter Bemühungen nicht möglich gewesen, die merkwürdigen Steinbruchswände von Kleinzschocher als die interessantesten geologischen Naturdenkmäler der Leipziger Umgebung vor der Verschüttung zu bewahren.
Seitdem das Wasser das nordsächsische Grauwackengebirge abtrug, ist es der bildende und formende Meister unserer Landschaft bis heute geblieben. Als rollende Meereswoge, als verlandender Sumpfsee, als breiter Wannenfluß und vor allem als blaues kristallnes Inlandeis hat es erniedrigend und auffüllend, hier grobschichtig formend, dort feingliedrig ziselierend, an dem Antlitz unserer Heimat gearbeitet, langsam und oft unmerklich, so daß sich seine tausendjährigen Arbeitsstunden zu Jahrmillionen der Erdgeschichte rundeten.
Nur noch einmal in dieser langen Geschichte unserer Heimat, und zwar noch im Frührot derselben, als der gewaltige Gebirgsabtragungsprozeß noch im Gange war, hat sich die Erde bei uns darauf besonnen, daß ihr noch andere Werkmeister zu Gebote stehen als der stetig und still schaffende Wassertropfen. Dämonenhafte Mächte aus Plutos unterirdischem Reiche türmten mit titanenhafter Kraft und gewaltigem Ungestüm aus glutigem Magma und heißen Aschenmassen trotzige Berge, breite Felsdecken und runde Aschentuffhügel empor. Keines Menschen Auge hat das grandiose Schauspiel ihrer Tätigkeit geschaut; aber wir wissen: die größten Lavaausbrüche mit ihren verheerenden Begleiterscheinungen, die die Menschheit erlebt hat, verschwinden im Vergleich zu den Ereignissen, die damals unsere Heimat erschütterten. Die Luft war [252]weithin durch Aschenmassen verfinstert, aus denen Steine, Aschen und rauschender Regen niederstürzten. Ausgedehnte Sumpfwälder versanken unter Aschenschichten. Farnbäume, Riesenschachtelhalme und altertümliche Nadelhölzer wurden von strömenden Schlammassen verschlungen; glühende Lava, deren rotglutiger Schein die Finsternis kaum zu durchdringen vermochte, brach in rascher Folge an den verschiedensten Stellen unserer Heimat hervor, hier runde Quellkuppen, dort breite Decken formend; kochend heiße Schlammströme verhärteten zu roten ungeschichteten Tuffen.
Der weithin schauende Rochlitzer Berg, die dunkelbewaldeten Porphyrkolmen (Kohlenberg), die heute aus der Gegend von Beucha und Brandis in die Leipziger Ebene grüßen, die burgengekrönten Felsen bei Colditz und Grimma, die in einem tiefeingeschnittenen malerischen Tale die heutige Mulde bergen, die breiten Porphyrdecken, die sich bei Buchheim, Ebersbach, Frohburg und anderorts zum Teil unterirdisch dahinziehen, der Petersberg bei Halle, von dem in frühgeschichtlicher Zeit fromme Klosterglocken ins Land hineinriefen, die Höhen, die im Norden bei Landsberg in blauer, dunstiger Ferne schimmern, der kleine Kreuzberg drüben bei Taucha-Cradefeld, an dem der Leipziger Rat seine Straßensteine bricht, diese und viele andere Erhebungen wurden damals geboren, in der ersten Hälfte der Dyaszeit, in der Zeit des Rotliegenden, wie die Gelehrten sagen. – Heute ertönt in den erstarrten Porphyrbergen der Umrandungszone der Leipziger Tieflandsbucht das lustige Klingklang der Steinhämmer [253]und das dumpfe Dröhnen der Schotterschlagmaschinen, denn das reichbesiedelte Leipziger Land braucht Werksteine für Häuser, Monumentalbauten und Denkmäler und Steinschlag für die Wege im weichen Boden des Schwemmlandes. Das gewaltigste Wahrzeichen der Leipziger Ebene türmt sich empor aus den grünlichen Quadern des harten Beuchaer Granitporphyrs, und eben erstehen vor dem alten Lotterbau auf dem Leipziger Marktplatz aus dem warmgetönten rötlichen Rochlitzer Porphyrtuff die Eingänge zu der großen Untergrundmeßhalle. – Der Steinbruchsbetrieb hat vielfach die Schönheit der Landschaft beeinträchtigt, er hat aber auch Bilder von besonderer Eigenart geschaffen, wie die Beuchaer Kirchwand, deren starren Linien sich die oft gemalte trutzige Wehrkirche da oben auf der Höhe so wunderbar anpaßt. Geheimnisvoll wie kleine grüne Bergseen muten uns oft die tiefen klaren Wasseransammlungen an, die zwischen den moosfarbenen und flechtengrauen Bruchwänden alter aufgelassener Steinbrüche träumen.
Nach den vulkanischen Umwälzungen der Rotliegendenzeit hat in unserer Heimat, wie gesagt, nur noch das Wasser erdbildend und landschaftsgestaltend gewirkt. Die Einebnung der variskischen Alpenzüge, Hand in Hand mit einer [254]starken Senkung des mitteldeutschen Bodens gestattete es, daß ein weites flaches Meer, vom Ural bis in die Mitte Englands reichend, über den größten Teil Deutschlands hinweggriff. Es war das Zechsteinmeer, das an Ausdehnung, Gliederung, Tiefe und Salzgehalt proteusartig wechselnd, dem deutschen Vaterlande seine gewaltigen Steinsalzlager mit den heute darüberliegenden uralten Hallorten und Sulzbädern, ferner die wichtigen Kalilagerstätten und den versteinerungsreichen Kupferschiefer schenkte, der schon zu den Zeiten bergmännisch gewonnen wurde, da Luthers Vater zu Eisleben und Mansfeld ein armer Häuer »gewest«. – Unser Leipziger Land ist vom Zechsteinmeer wahrscheinlich mit der Randzone berührt worden, aber die Niederschlagsgesteine dieser Zone – Plattenkalke und schöne bunte Letten oder Tone – sind zu unbedeutend, als daß sie Einfluß auf das Landschaftsbild unserer Gegend hätten gewinnen können. Steinbrüche bei Ottenhain-Geithain geben uns von ihrem Dasein Kunde.
Der nicht vom Zechsteinmeer bespülte Teil unseres Vaterlandes war Flachküste. Dünenhügel und Dünenkämme mögen ihr das Gepräge gegeben haben. Je mehr sich das Zechsteinmeer zurückzog und in seinen Resten der Eindampfung verfiel, mußte sich dieser Wüstencharakter über Deutschland verbreiten. Sand, Sand, unendlicher Sand, das wurde die Signatur des trocken gelegten Landes. »Die Luftströmungen, die über der sonnendurchglühten Ebene emporstiegen, führten von allen Seiten stürmische Winde herbei«, und mit ihnen zogen samumartig rötliche Sandmassen daher, deren ungeheures Material den vom Wasser zerstörten Graniten und Gneisen der südlichen Züge der variskischen Alpen entstammte. – »Buntsandsteinzeit« hat man diese Wüstenperiode der Erdgeschichte genannt, denn die vielfarbigen Sande sind in der Folgezeit zu festem Sandstein verkittet worden. Vielfach mag das fließende und nagende Wasser die bunten Sandsteinbänke wieder beseitigt haben, auch bei uns in unserer Heimat. Aber da, wo Schnauder und Rippach ihre Bachbetten in das Leipziger Land gruben, da können wir ihre Reste noch heute beobachten. Weiter nach Süden, Westen, an der Elster und an der Saale gewinnen sie dann auch bestimmenden Charakter für die Landschaft.
In der Buntsandsteinzeit grüßen wir schon das Morgenrot jener umfassenden, Jahrmillionen dauernden Erdepoche, die, als Mittelalter der Erdgeschichte bezeichnet, drei Schöpfungsperioden einschließt: die Trias-, Jura- und Kreidezeit. Es ist der Abschnitt der Erdentwicklung, wo sich die aufbauende Tätigkeit der Ozeane und Meere ins Allgewaltige steigert. Aus dem Muschelkalkmeere schlagen sich die zweihundert Meter mächtigen Muschelkalkbänke nieder, von deren Höhe heute stolze Burgen ins freundliche Saaletal herabschauen. Im Jurameer, in dessen Wogen sich die fabelhaften durch Viktor Scheffels feuchtfröhliche Laune so berühmt gewordenen Saurier tummelten, bauen sich aus tierischen Kalkresten die gewaltigen Juragebirge auf. In den Flachseen der Kreidezeit bilden sich aus den Kalkgehäusen unzähliger mikroskopischer Kleintiere die weißen Felsen der Schreibkreide, auf Rügen zum Beispiel und in der Champagne, aus eingeschwemmten und eingewehten [255]Sandmassen aber auch die Quadersandsteine unserer Sächsischen Schweiz. Von all diesen Schöpfungsvorgängen aber bleibt unsere Heimat unberührt. Während sich das Land umher senkt und so den ozeanischen Fluten Zutritt gewährt, bleibt das böhmische Massiv mit einem nordwestlichen Ausläufer, also auch unsere Scholle, Festland, oft inselartiges Festland. Und so fehlen in der Schichtung unseres heimatlichen Bodens wichtige erdgeschichtliche Nachweise; die Chronik unserer Heimaterde zeigt hier eine schmerzliche Lücke.
Als nun die Neuzeit der Erdgeschichte anbricht, als die Alpen von heute zu strahlender Schönheit aufsteigen, als von der Eifel bis zum schlesischen Gebirge erneut lava- und aschespeiende Vulkane lohen und die Basaltkuppen des Erzgebirges der Tiefe entquellen, als zwischen Schwarzwald und Wasgenwald der Graben einbricht, der heute die lachenden Fruchtgefilde des Oberrheins birgt, als die südliche Flanke des Erzgebirges zur böhmischen Tiefe hinabsinkt, da liegt unsere Heimat inmitten all dieses gewaltigen Geschehens da als eine weite flache, nach Norden und Westen sich senkende offene Wanne. Die weiten Porphyrdecken, die die vulkanischen Gewalten der Rotliegendenzeit einst ausbreiteten, sind an der Oberfläche längst in Verwitterungsschutt zerfallen, und die feinsten Teile dieses Schuttes hat das aufbereitende Wasser als ausgedehnte Lehm- und Sandschichten über das flache Wannenland hingelagert. Subtropisches Klima, wie es heute etwa am Mississippi herrscht, brütet über der Heimat. Zwischen flachwelligen Höhen breiten sich weite Sumpfgewässer und Moore aus. Auf ihren Verlandungszonen und auf dem Waldmoorboden wachsen üppige Sumpfzypressen. An den Ufern grünen Zimt- und Feigenbäume, blühen prächtige Magnolien, duften blühende Oleander, stehen Myrte und Lorbeer. Von den flachen Landrücken grüßen immergrüne Eichen, Ahorne, Birken und andere Waldbäume meist heutigen Charakters. – In regenreichen Perioden räumen breite, wasserreiche Flüsse die Täler des sich hebenden erzgebirgischen Nordflügels, der mittelsächsischen Hügelketten und des heutigen Vogtlandes aus, mit den gewaltigen Schuttmassen das Flachland immer mehr einebnend und die überschwemmten, untergehenden Moordecken und Sumpfwälder unter mächtige Schichten von Sand und Schlamm bettend. Da sich das Flachland senkt, bricht von Norden her das Meer ein. Bis dahin, wo heute die Blütenpracht der Röthaer Obsthaine unser frühlingstrunkenes Auge entzückt, plätschern die Wellen der Flachsee. Seicht und breit mündende Ströme tragen von Süden her Kies- und Sandbänke in die See hinein. Und wenn es dem schürfenden Wasser gelang, im südlichen Teil der Tieflandsbucht längst begrabene, verkohlende Moordecken anzuschneiden, dann führen sie wohl in braunschmutzigen Fluten das Material herbei, um es zwischen die Schichten des Deltas als bodenfremde Braunkohlenflöze und -schmitzen einzulagern. Und als dann das Meer sich wieder nordwärts zurückzieht, grünen noch einmal üppige Sumpfwälder empor, um schließlich wiederum unter den Sinkstoffen der Flüsse eingeschichtet zu werden.
Die hohen Schornsteine, die heute an der Wyhra, im Altenburger Land und in der weiten Lützener Ebene wegweisend am Horizonte emporragen, kennzeichnen [256]die Stellen, wo menschlicher Fleiß die ausgedehntesten und mächtigsten Flöze, die immer bedeutungsvoller werdenden braunen Schätze der Tertiärzeit abbaut. Die tiefen, sich weithin erstreckenden Tagebaue, die grüne Saaten verschlingen und Dorf und Wald bedrohen, die keuchenden Bagger, die hochaufgeschütteten Erdhalden, die fauchenden und zischenden Zechenbahnen, die neuerstandenen Brikettfabriken und Kraftwerke mit hochaufragenden Schloten, die Eisenbahnladeplätze mit ihren Schienensträngen und Wagenreihen, die neuzeitlichen Arbeiterviertel in den Dörfern, deren alte Bauernhäuser sich verschüchtert um das verwitterte Dorfkirchlein scharen, die landfremden Kohlenarbeiter mit ihrer dem Tagesberuf angepaßten Tracht, – das und noch vieles andere zeigt, wie eng menschliches Sein und Schicksal von heute mit der unendlichen Vergangenheit der heimatlichen Scholle verbunden ist. Ist es nur neue Form, die wir hier im Braunkohlengebiet schauen, oder ist es nicht auch neue Schönheit? – Die Kunst, die schon eifrig hier ihre Motive sucht, wird uns auch lehren, in diese von menschlichem Willen und menschlicher Kraft so stark beeinflußte Landschaftsgestaltung unsere Seele hineinzutragen.
Das Relief, das die Heimat am Ende der Braunkohlenzeit zeigte, haben die kommenden Jahrtausende der erdgeschichtlichen Entwickelung nicht ganz verwischen können. Der flache Höhenzug zwischen Pleiße und Parthe zum Beispiel, der heute das Völkerschlachtdenkmal trägt und sich nach Nordwesten bis zum Leipziger Alten Theater, bis in den Mündungswinkel der Pleiße und [257]Parthe hineinschiebt, dieser unbedeutende Rücken, der den Kern unserer Stadt, die Altstadt trägt und ihm Schutz vor den Überschwemmungen der Pleiße bot, ist tertiären oder braunkohlenzeitlichen Alters. Ihm verdanken wir, daß bei uns die Kinder am »Barfußberge« spielen, daß wir in Connewitz ein »Oberdorf«, in der Südvorstadt eine »Hohe Straße« verzeichnen können. Von seiner Höhe grüßt heute an Stelle der alten Zwingburg Dietrichs des Bedrängten die Matthäikirche.
Den stärksten Einfluß auf die Formung des heutigen Landschaftsbildes im Leipziger Kreise hat die jüngstvergangene erdgeschichtliche Periode erlangt, die Eiszeit oder die große Schneezeit (Diluvium). Wasser war es wieder, das hier die letzte Arbeit meisterte, – Wasser, diesmal in Gestalt des blauen Gletschereises.
Die subtropische Hitze, die einst die Braunkohlenwälder dem Sumpfboden unserer Heimat entlockt hatte, war längst einem kühleren Klima gewichen. Die mittlere Jahrestemperatur war langsam stetig gesunken, so daß sie noch um einige Grade tiefer lag als unser heutiges Jahresmittel. Dazu hatte das Klima ozeanischen Charakter angenommen. Die Niederschläge mehrten sich; im hohen Norden Europas, sowie in den Bergen der Alpen und auf den Höhen der deutschen Mittelgebirge häuften sich die Schneemassen. Bald quollen in den Bergen die Firnbecken über. Von den Alpen, vom Schwarzwald, vom Odenwald, vom Harz und von den Sudeten stiegen die Gletscher in die Vorlande. Und von den höchsten Höhen Skandinaviens verbreitete sich nach allen Seiten hin dickes Inlandeis, wie wir es heute aus Grönland kennen. Vom Ural bis Holland und England begrub es Nordeuropa unter seine gewaltige Last. Auch über unsere Heimat schreitet das Eis bei seinem stärksten Vorstoß von Norden her in einer Dicke von dreihundert Metern hinweg. Erst der Fuß des Erzgebirges gebietet ihm Halt. – Wie ein Riesenbagger schürft das langsam vorrückende Eis das Land unter sich auf. Es bricht gewaltige Blöcke und Platten der norwegischen und schwedischen Felsgesteine los, es hebt ganze Schollen der feuersteinreichen Kreide auf Rügen ab, es preßt die ungeheuren Lager von weichen Tonen und lockeren Sanden in der norddeutschen Ebene auf und schleppt alles im Weiterschreiten und Weitergleiten als Grundmoräne in seiner Sohle mit sich fort. Wo das Eis über anstehende Felskuppen hinweggleitet, da scheuert es das harte Gestein mit dem feinen Sand-, Ton- und Kalkschlick seiner Sohle ganz blank und kratzt in die fast spiegelglatten Flächen feine Ritzen und Schrammen hinein. Wenn drüben bei Beucha oder Kleinsteinberg die Steinbrecher neue Sprengungen vornehmen wollen und vorher die fruchtbare Ackerkrume vom Porphyrgestein abdecken, dann finden sie solche »Gletscherschliffe« als Erinnerungsmerkmale der eiszeitlichen Vergangenheit unserer Heimat. – Als die klimatischen Verhältnisse Europas ganz allmählich sich denen von heute näherten, da trat das Eis seinen Rückzug nach Norden an. Oft aber unternahm es bei eintretenden Klimaschwankungen erneute Vorstöße, so daß auch für unsere Heimat Zeiten der Vereisung mit Zwischeneiszeiten wechselten, in denen die Leipziger Tieflandsbucht eisfrei blieb. Mit Sicherheit [258]sind wenigstens zwei stärkere Vereisungen unserer Gegend anzunehmen. Das zurückgehende Eis ließ als kostbares Geschenk den mit Blöcken und Steinen gespickten zähen Lehmbrei seiner Grundmoräne zurück, den sogenannten Geschiebelehm. Er bildet heute die fruchtbare Ackererde unserer Felder mit ihrem Reichtum an Lesesteinen, mit ihren zahlreichen einsamen Irr- und Wanderblöcken in stiller Feldflur.
Zwischen Saale und Elster im Westen, zwischen Pleiße und Parthe im Osten und vor allem im Norden ins Provinzialsächsische hinein hat der Geschiebelehm unübersehbare tischglatte Gemarkungen geschaffen. Hier werden wir uns des Flachlandcharakters unserer Heimat am deutlichsten bewußt. Hier reiht sich Feld an Feld, Ackerstreifen an Ackerstreifen. Nichts als die regelnde Hand des menschlichen Fleißes ist in dem schachbrettartigen Getäfel erkennbar. Geradlinig ist alles, die Straßen und Schienen oft wie mit dem Lineal gezogen. Selbst das langgestreckte Straßendorf bringt wenig Abwechselung in das Bild. Und doch ist dieses flache Bauernland schön und wird dem, der es kennen lernt, zum tiefen Erlebnis. Der weite in die Ferne hinausführende Horizont, der hohe unendliche Himmel mit seiner zu Herzen gehenden Wolkensprache, die unerschöpflichen Feinheiten der Luftperspektive, die unvergleichlichen Sonnenuntergänge, die prachtvollen Gewitter, die in der Ebene viel mehr dem Auge als dem Ohre predigen, das alles wirkt bedeutend – und erhebend. Glücklicherweise steigert sich die Ebenflächigkeit nirgends zur Monotonie. Das bunte Mosaik der Felder, die im Blütenschnee schimmernden Reihen der Straßenbäume, die von blumigen Wiesengründen begleiteten und von Erlen und Weiden gesäumten Bäche und Rinnsale, die weithin blinkenden Teiche, die duftigblau fernschimmernden Waldsäume der Diluvialwaldungen, die zahlreichen mit ihren Dächern und Türmen aus segenspendenden Obstbäumen hervorlugenden Dörfer, die weithin leuchtenden Wassertürme, das alles gruppiert sich zu immer neuem, fortwährend wechselnden Bildern von schlichter, lieblicher Schönheit. Vieles ist in dieser Landschaft charakteristisch und typisch. Nicht zuletzt das Menschenleben. Der »uralt heilige Beruf des Landmannes«, in Bildern von unerschöpflicher Schönheit tritt er uns hier entgegen. Der ernst schreitende Säemann, der rüstige Schnitter, die flinke Garbenbinderin, der hochbeladene Erntewagen, der Pflüger mit den strebenden Rossen. »Oft sind sie zu fünf, sechs oder mehr auf der sonnigen Erdscheibe zu sehen, bis zu Fernen, in denen sie sich zu winziger Kleinheit verlieren«. Und darüber im blauen Frühjahrshimmel windzerrissene Märzwolken. Wenn es wahr ist, daß Schönheit mit der Schlichtheit wächst, hier im flachen Bauernland wird es Ereignis.
Indem das Inlandeis bei seinen einstigen vor- und rückläufigen Bewegungen die Erhebungen des Bodens einebnete und die Senken mit dem Material seiner Grundmoräne ausfüllte, hatte es dem Leipziger Land noch einförmigere Linien verliehen, als es wohl schon am Ausgange der Braunkohlenzeit aufgewiesen hatte. Gleichsam unzufrieden mit dieser seiner Arbeit, brachte es vor seinem endgültigen Rückzuge ganz neue belebende Züge in das [259]Bild der Landschaft. Da wo der Rand des Inlandeises auf längere Zeit, Jahrhunderte, Jahrtausende, zur Ruhe, zum Stillstand kam, häuften sich die Gesteinstrümmermassen des Gletschers zu langen Hügelreihen, zu riesigen eiszeitlichen Stirn- oder Endmoränen. Die von den Steilwänden des Gletscherrandes herabstürzenden, gurgelnden Schmelzwässer durchspülten unaufhörlich die gewaltigen Schuttanhäufungen der Endmoräne und entführten ihr die lehmigen und tonigen Bindemittel, so daß schließlich nur noch lose Haufwerke von Sanden, Kiesen, Blöcken und Gesteinsgrus blieb.
Der bewaldete Bienitz mit dem benachbarten Wach- und Sandberg im Westen Leipzigs und die zahlreichen Höhen, die uns nördlich und östlich der Parthe grüßen, sind solche Endmoränenzüge. Wallartig geschlossen und nur am Bienitz durch die breite Elster-Luppen-Niederung unterbrochen, erstrecken sie sich von Dehlitz drüben bei Weißenfels an der Saale bis nach Eilenburg an der Mulde hin. Während sie aus weiter Ferne geschaut fast untertauchen in dem gewaltigen Gleichklang unserer Ebene, treten sie, aus der Nähe betrachtet, oft recht auffällig hervor. Einzeln für sich gesehen riesigen Maulwurfshaufen gleichend, bieten sie Freunden schöner Linienführung in ihrer Aneinanderreihung (Gordemitz) großen Genuß. Da wo die Gegenstücke unserer Landschaft, Moränenhügel und Aue unmittelbar nebeneinander auftreten (Parthenlauf), wo sich dem sanftanstrebenden Decksandhügel die Aue mit blumigen Wiesen anlehnt, da ist die Landschaft von überraschender Lieblichkeit. Die Windmühle [260]mit den lustig im Winde sich drehenden Flügeln auf kahler luftiger Moränenhöhe und die stille Wassermühle am Auenfluß, tief eingebettet in das Grün buschiger Erlen und Weiden, mit dem schwerfälligen unterschlächtigen Mühlrade, sind Symbole einer Gegensätzlichkeit, die man im Leipziger Land nicht sucht. Oft sind die sandigen Hügel von Beständen der genügsamen Kiefer gekrönt. Ihr düsteres Grün gibt einen feinen Kontrast zur hellgrauen, spärlichen Ackerscholle oder zum gelblich-weißlichen Sande der abgebrochenen Sandgrubenwand. Wenn man da oben sitzt und das Auge die sandig welligen Abhänge hinabgleiten läßt, wenn man den weichen, sonnenheißen Sand durch die Finger rieseln läßt und das sandholde Pflanzen- und Tierleben belauscht, dann kommt Heidestimmung über einen, und Heidesehnsucht quillt im Herzen auf. Häufig tragen die Hügel kleine trutzige Wehrkirchen (Panitzsch, Thekla, Frankenhain u. a.) aus den Zeiten, da unser Land heißumstrittener Kolonialboden war und deutsche Ansiedler die neugewonnene Heimat gegen die von Osten heranbrandenden slawischen Sturmfluten verteidigen mußten. Obwohl die Moränenhügel die Höhe von einhundertundachtzig Meter nirgends überschreiten, sieht der anspruchslose Bewohner der Ebene doch in ihnen Berge. Als Wach-, Kreuz-, Wein-, Fuchs-, Galgenberge usw. sind sie in den Heimatkarten verzeichnet. Gelegentlich hat man sie sogar mit Aussichtstürmen geschmückt. Und es lohnt sich reichlich, einen solchen Ausguck zu besteigen. Bei der Ebenflächigkeit des Landes gibt es Ausblicke von überraschender Tiefe ins weite, weite Land [261]hinein. Wo zwischen die Hügelreihen einsame Dörfer eingebettet liegen, da atmet die Heimat fast den Frieden und die Abgeschiedenheit stiller Gebirgsdörfchen.
Als sich das nordische Eis unserer Heimat näherte, schob es mächtige Eiszungen in die breiten Strombetten der heimatlichen Gewässer vor. Haushohe Stauwehre von Eis zwangen unsere Elster und Pleiße, die ursprünglich in nördlicher Richtung flossen, nach Westen dem Eisrande entlang auszubiegen. Auch die Mulde gab damals ihren nördlichen Lauf in der Gegend von Grimma auf und wälzte ihre durch Gletscherwässer verstärkten Fluten in zwei breiten Armen dem Lauf der heutigen Gösel und Parthe folgend über Leipzig der Saale zu. In der Eiszeit entsteht so die breite Entwässerungsrinne zwischen Leipzig und Merseburg, in der jetzt alles fließende Wasser des Leipziger Landes der Saale zuströmt. – Nach der Eiszeit brach für Norddeutschland und auch für unsere Ebene eine Trockenperiode an, eine Steppenzeit, in der gewaltige, lößaufhäufende Staubstürme über die Gegend dahinbrausten. Die Flüsse büßten mehr und mehr ihre Wasserfülle ein. – Und nach dieser Steppenperiode nahm dann infolge erneuter klimatischer Veränderungen unsere heutige Pflanzenwelt von der Heimat Besitz. Blumige Wiesen und schimmernde Laubwälder breiteten ein farbenfreudiges Gewand über die Landschaft. Trotz reichlicherer Niederschläge aber blieben die Flüsse jetzt klein und unbedeutend bis auf den heutigen Tag. – Nur wenn im Frühjahr die Schneeschmelze eintritt, scheinen sich die schwächlichen Epigonen der riesigen Eiszeitströme ihrer gewaltigen Vergangenheit zu erinnern. Sie steigen aus ihren schmalen Ufern und verwandeln die breite Aue in einen blinkenden See. Dann gibt es südlich bei Markkleeberg und im Nordwesten bei Modelwitz und Papitz trotz aller Dämme und Flutrinnen eine Fülle reizvollster Überschwemmungsbilder. – Die gelbe Flußtrübe der Überschwemmungsfluten setzt sich zu Boden, und eine dünne Schlammkruste bleibt zurück. Der Märzwind trocknet sie, und aus den tausend Rissen und Sprüngen sproßt hoffnungsfreudig neues Grün hervor. Unzählige Male ist die Flußaue so überschwemmt worden. Aus den dünnen Schlammschichten ist eine mächtige Lehmdecke geworden. Es ist der Aulehm unserer Flußtäler, ein feuchter, schwerer, steinfreier Lehm, der zahlreichen Ziegeleien ein ausgezeichnetes Material liefert. Unter ihm liegen zuweilen Sand- und Schottermassen, die die Flüsse hier ablagerten, wenn sie besonders transportfähig waren.
Aus der Höhe von Papitz schauen wir heute hinein in die lachende Aue. Wie eine ebene Tafel ist das Schwemmland der Aue eingelagert in die höher gelegene Geschiebelehm- und Endmoränenlandschaft. Bald ist der Gegensatz von Aue und Auenrand scharf, bald klingen die Höhen des Randes sanft in die Aue hinein aus. Es sind zwei verschiedene Welten, die sich hier berühren, Hochland und Tiefland, Steppe und Wasserland, Geest und Marsch, Ackerland und Bruchland, Kultur und Wildnis, uralte Gegensätze, die sich auf Erden so oft wiederholen. – Wasser, Wiese und Wald sind die drei Landschaftselemente, die sich in der Aue in immer neuen überraschenden Gruppierungen zusammenfinden [262]und so den Reichtum an Landschaftsbildern ergeben, der die Aue auszeichnet. Ihrer eigensten Natur nach ist die Aue uraltes Wasserland. Wasser quillt im sumpfigen Boden; Wasser rinnt in den Flüssen mit ihren vielen Armen und Gräben; Wasser erfüllt die zahlreichen Überschwemmungstümpel, die stillen Altwässer, die verträumten Lachen, die waldumgürteten Sümpfe, die schilfreichen alten Lehmstiche; Wasser braut um Busch und Baum, wenn am Abend den tiefen Wiesengründen graue Nebelschwaden entsteigen. Was die Aue unter allen Landschaftsformen der Heimat obenanstellt, das ist der prächtige Auwald mit seinem Reichtum an Laubbaumarten, mit seinen weichen Blättermassen und seinen weichen runden Laubformen, mit seinen vielhundertjährigen Rieseneichen, seinem dichten aus Strauchwerk und Stockausschlag bestehendem Unterholz, mit seiner eigenartigen Frühlingsflora und seinen üppigen Schattenstauden im Sommer. Wo sich dieser Wald kulissenartig hinausschiebt in die Wiesenlandschaft der Aue, da gibt es Bilder von hoher landschaftlicher Wirkung; im Mondenlicht gesehen sind diese Bilder von überraschender Plastik, so daß sie das Auge fast körperlich aufnimmt. Im Strahl der Herbstsonne lohen die reichen Blättermassen der zahlreichen Baumarten in einer unvergleichlichen Farbensymphonie auf. Herbstfahrten durch die Aue! Einen höheren Naturgenuß kann es kaum geben! Die Laubgänge leuchten rot und gelb, als blicke farbendämmerndes Licht durch bunte Kirchenfenster. Von Tag zu Tag werden [263]Farben flammender, bis der erste Frost der Herrlichkeit ein jähes Ende bereitet. – Die Auenwiesen, die besonders in der Elster-Luppen-Aue (Oberthau) in manchmal kaum übersehbarer Weite hingebreitet sind, können sich an Blumenreichtum und Farbenpracht nicht mit Gebirgswiesen messen. Der kühle Aulehm ist der Farbenfülle nicht günstig. Zumeist ist es eine bestimmte Pflanze, die mit ihrer Blütenfarbe die Wiese eine Zeit lang beherrscht. Das tiefe Gelb der duftenden Schlüsselblume wird abgelöst vom zarten Blaßblau des Wiesenschaumkrautes; das prächtige Rosa des Wiesenknöterichs weicht dem Scharlachrot des Ampfers usw. – Die menschlichen Siedelungen fliehen die Aue wegen der Überschwemmungsgefahr. Es sind zumeist Einzelsiedelungen, die uns in der Aue begegnen, Gasthäuser an Querwegen, Wassermühlen und Ziegeleien. Gering ist die Zahl der Auendörfer. Aber oben auf dem Auenrand, da reihen sich schon seit vorgeschichtlichen Zeiten die Siedelungen aneinander wie die Perlen an der Schnur. Die Großstadt hat die Wassernatur des Landes überwunden und die Aue erobert. Aber in hundert Zügen hat ihr das Wasser den Charakter der »Auenstadt« aufgeprägt. Als köstliches Geschenk der engen Beziehung seiner Stadt zur Auenlandschaft schätzt der Leipziger, daß er wenige Minuten von dem alten Marktplatz, dem Mittelpunkt der Stadt, und vom Hauptbahnhof, dem heißklopfenden Herzen des Großstadtverkehrs, in [264]Waldungen eintreten kann, die nach Roßmäßlers Urteil zu den schönsten in Deutschland zählen.
So liegt das Leipziger Land vor uns als ein Geschenk des Wassers: Schwemmland von uraltem Schwemmlandscharakter. – Das menschliche Schicksal von Jahrtausenden ist heute in diese große Schwemmlandstafel eingegraben. »Alles Schaffen, alles Hoffen und Leiden, alles Gewinnen und Verlieren längst vergangener Menschengeschlechter ist hier verzeichnet.« Selbst da, wo die Landschaft noch am ursprünglichsten zu uns spricht, im weiten Wasserland der Aue, gibt es wohl keinen Schrittbreit Boden, den menschlicher Wille nicht beeinflußt hätte. Und doch kann die Landschaft die Züge, die ihr die Weltenjahre erdgeschichtlicher Vergangenheit aufgedrückt haben, nirgends verleugnen. Die Urnatur des Landes, gewissermaßen die Wildnis, schaut überall durch den dünnen Schleier der Kultur hindurch. »Gewaltiger als der Mensch ist die Natur, die ihn selbst mit unlösbaren Banden umspannt.«
Von Professor Dr. Naumann
Als Muster eines Auenwaldes bezeichnet Roßmäßler die artenreichen, feuchtkühlen Laubwälder der Leipziger Umgebung. Er sagt darüber: »Die Nähe eines gepflegten Auenwaldes schützt die große Stadt der Tiefebene vor dem Hereinbrechen der Langweiligkeit, welche dem vordringenden Feldbau auf dem Fuße folgt. Und in solch glücklicher Lage befindet sich Leipzig, welches aus seinem westlichen Tor unmittelbar in einen der schönsten Auenwälder Deutschlands tritt.«
Jeder Auenwald verdankt seine Entstehung und seine Zusammensetzung der überschwemmenden Tätigkeit eines Flußsystems.
Während der Oberlauf des Flusses sich eingeengt sieht durch die ansehnlichen Bodenerhebungen eines Berglandes, dringt der Mittellauf meist durch liebliches Hügelgelände. Solch begleitende Höhen lassen eine breite Überschwemmungszone kaum aufkommen. Der schmale Ufersaum ist meist blockreich und schotterbedeckt, so daß sich Baumbestände auf vereinzelte Weiden, Erlen und Espen beschränken, wie wir an den schmalen Uferstreifen unserer Erzgebirgsflüsse wahrnehmen können. Der meist gewundene Lauf ist einer ruhigen und steten Ablagerung feinerer Anschwemmungsprodukte nicht günstig, und infolge des noch starken Gefälles im jugendlichen Strom bleiben nur kiesige Massen an den Uferrändern, während die aufschwemmbaren Produkte bis weit hinab ins Niederland geführt werden. Hierzu kommen die reißenden Schmelzwässer des Frühjahrs, welche etwa angehäuften Feinboden wieder zerstören. Nur selten zeigt sich in breiteren Gebirgsmulden, wie am Hemmschuh bei Rehefeld im Flußgebiet der Wilden Weiseritz, ein auwaldähnlicher Holzbestand, welcher als Auwaldpflanze noch den Märzbecher [265]führt. (Abb. 1.) Der Prallhang der Bergflüsse bietet den Holzgewächsen gar keinen Raum, und der kiesige Gleithang ist meist mit strauchigen Weiden[1], einem Salicetum, bestanden.
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Erst in der Niederung fließt der Strom in majestätischer Breite und altersträger Ruhe ohne besondere Richtungsänderung dahin. Nach starkem Herbstregen oder durch die Schmelzwässer des Frühlings tritt er weit über seine Uferränder hinaus und setzt feinkörnige fruchtbare Verwitterungsmassen ab, die wir als Aulehm bezeichnen, und welche aus Ton und feinem Sande bestehen. Nur dann weicht der Strom der Niederung von seiner eingeschlagenen Hauptrichtung ab, wenn sich ihm leichtgewellte Höhenzüge, wie bei der Elbe der Fläming, entgegenstellen, oder wenn seitliche, wasserreiche Zuströme ihm eine andere Richtung aufdrängen, wie dies bei der Weser durch die Aller geschieht. Dort, wo mehrere gleichgerichtete Flüsse sich auf engem Raum vereinigen, wo also ein engmaschiges Flußnetz gewebt ist, wird sich die günstigste Gelegenheit zur Auwaldbildung finden, und hier dürfen wir auch typische Auenwälder erwarten. In Sachsens Nordwesten, in Leipzigs Umgebung, ist ein solches Gebiet geschaffen durch den Zusammenfluß von Elster, Parthe, Pleiße und Luppe (Abb. 2), und die malerische Gruppierung verschiedenartigster Laubbäume am Hundewasser gibt uns einen Begriff von den Schönheitswerten solcher Bestände.
Schon im Jahre 1912 fand eine Anregung unseres Landesvereins Heimatschutz auf Schaffung eines Auwaldschutzbezirkes durch die einsichtige Stadtverwaltung Leipzigs Erfüllung, indem vom Rate der Stadt beschlossen wurde, einen Teil des sogenannten Burgauer Forstreviers, den Polenz, der in der Nähe des Parkes vom Lützschenaer Rittergute liegt und dem Verkehr nur schwer zugänglich ist, bis auf weiteres in der bisherigen Gestaltung zu erhalten, d. h. von forstlicher Nutzung abzusehen. Dieser Teil wird von einem Elsterarm, eben dem Hundewasser, umflossen und zeigt den Typus des Auenwaldes mit seiner üppigen Vegetation noch recht unverfälscht. Weißbuchen und Ulmenaltholz bilden längs des Ufers eine Laubwand von gewaltiger Wirkung (Abb. 3). Auch der Anblick des Polenz von Osten her zeigt uns einen geschlossenen Laubwalddom, hinweg über einen vorgelagerten Hochwasserspiegel, welcher trotz wechselnder Wasserfülle den stolzen Fischreihern vorübergehend als Aufenthalt dient (Abb. 4).
Zum eigentlichen Heimatschutzgebiet aber wurde dieser köstliche Landesteil erst im Jahre 1922. Von diesem Jahre konnte man durch eine entsprechende Tafel mit der Inschrift:
Naturschutzgebiet
Urwüchsiger Auenwald
des Elstergebietes
Mit zahlreichen Baumarten (außer Rotbuche)
Helft alle dazu, dieses Naturdenkmal
unversehrt der Nachwelt zu erhalten.
gemeinsam unterzeichnet vom Heimatschutz und der Stadt Leipzig den Auwald am Hundewasser als »geschützt« bezeichnen. Abbildung 5 zeigt den Eingang zum Schutzgebiet, und der Blick fällt auf ein Baumgemisch von Eschenaltholz und stattlichen Rüstern. Wohl gibt es noch andre, vielleicht auch naturwissenschaftlich reichere Orte in Leipzigs Flußnetz, aber wir dürfen mit dieser Wahl zufrieden und Leipzigs Stadtverwaltung recht dankbar sein. Zwischen Gundorf und Lützschena finden sich malerische Altwassertümpel, die als Reste früherer Überschwemmungen verblieben sind (Abb. 6), und noch immer einer interessanten, leider immer weniger werdenden Groß- und Kleintierwelt günstige Lebensbedingungen gewähren. Diese Plätze sind daher als Sammelgebiet ein Dorado für Aquarienliebhaber geworden, und man ist damit umgegangen, dort eine biologische Arbeitsstätte zu schaffen. Leider wollte man auch Ansiedelungsversuche mit verschiedenen, auch fremdländischen Tieren machen. Ein solches »Ansalben« ist höchst bedenklich! Als Naturschutzgebiet im eigentlichen Sinne darf man derartige Orte, selbst wenn [271]sie für bestimmte naturwissenschaftliche und Liebhaberzwecke der Allgemeinheit entzogen sind, nicht betrachten. Ein solches muß sich selbst überlassen bleiben, d. h. frei von forstlichen Eingriffen und frei von neugieriger Begängnis gehalten sein, um für unsere Nachfahren das Walten einer ursprünglichen Natur zu retten.
Nahe Leutzsch liegt ein stiller Auwald-Zauber über einer Luppenlandschaft, und man kann es der städtischen Forstverwaltung (Forstmeister Zacharias) nicht genug danken, daß auch dieser Winkel in seinem ursprünglichen Zustand gepflegt und erhalten wird (Abb. 7). Auch weiter westlich, in der Umgebung von Maslau und Horburg (vgl. Karte Abb. 2) bietet die Luppe malerische Baumbestände und wird mit dem wechselnden Grün und dem Silbergrau der Weiden, deren Spiegelbild in dem ruhenden Wasser zu uns leuchtet, zu einem landschaftlichen Kleinod (Abb. 8). Aber nicht bloß die herrlichen Baumgestalten entzücken uns; das träg fließende Wasser schmückt sich am Ufer weithin mit flüsterndem Ried und raschelndem Röhricht, und eine reizvolle Spiegeldecke lichtgrüner Schwimmpflanzen belebt anmutig die majestätische Ruhe (Abb. 9). Kaum satt kann sich das Auge trinken an dieser grünen Dämmerpracht, durchfunkt von den Goldblüten der Mummel. Darum darf wohl ein zweites Bild des Maslauer Auenwaldes (Abb. 10) auch dem verwöhnteren Leser nicht überflüssig erscheinen.
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Auch im Muldenlande, südlich von Leipzig, zeigen die restlichen Baumbestände um Rochlitz noch den Charakter des Auenwaldes, wie er sich vor Zeiten, anstelle der jetzigen fruchtbaren Auwiesen und Felder, zu beiden Seiten des Flusses ausgebreitet hat (Abb. 11).
In der norddeutschen Niederung erlangen naturgemäß die periodischen Überschwemmungsgebiete ihre weiteste Ausdehnung und erzeugen, wie Drude sagt, scharfe Gegensätze zwischen Heide- und Auenwald. Hier werden auch die Flußauen, soweit der Eisgang das Aufkommen von Baumbeständen hindert, von sumpfigen Grasfluren und Grünmooren begleitet, wie uns die Abbildung 12 eines Flußtales in Posen durch den reichen Bestand an Wollgras mit seinen weißleuchtenden Fruchtfahnen dartut. Am Horizont erkennt man den dunkelgrünen Wall des Auenwaldes, soweit nicht dauernd nasses Gelände einen Bruchwald schafft, einen Sumpfwald aus Erlen und stattlichen Weiden, durchsetzt mit Birken und Schwarzpappeln[2].
Der Auenwald ist ein ausgesprochener Laubmengwald, der Nadelbäume ursprünglich völlig ausgeschlossen hat; wenn sie heute darin erscheinen, verdanken sie ihren Ursprung dem Zufall oder künstlicher Anpflanzung[3].
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Wie schon früher bemerkt, ist der Auwaldboden größtenteils zusammengesetzt aus Feinsand und Ton. Solcher Feinboden ist wenig luftdurchlässig und wird daher nur in geringem Maße das Sauerstoffbedürfnis tiefgreifender Wurzeln befriedigen können. Es bleiben daher auf solchem Überschwemmungsboden Bäume mit lufthungrigen Wurzeln ausgeschaltet: die sandgewohnte Kiefer, die bergfrohe Tanne und die sonst anspruchslose Fichte. Es fehlt daher zumeist auch die Rotbuche, welche blockreiches Gelände bevorzugt. Wenn die Fichte im Gebirge trotzdem in versumpften, torfmoosbedeckten Böden auftritt, so ist sicherlich ihre Wurzel gebettet in Boden von gröberer Struktur, also »luftumgeben«. Schließlich wird der Sphagnum-Bestand und der von ihm gebildete Moostorf den Fichtenwald doch ersticken.
An dieser Stelle möchte ich ganz besonders auf das Sauerstoffbedürfnis aller lebenden Pflanzenorgane, also auch der Wurzel, aufmerksam machen. Auch Wurzeln müssen atmen, um sich die zum Wachstum nötige Betriebswärme zu schaffen. Wie es unter den Bakterien aërobe, d. h. sauerstoffbedürftige und anaërobe Arten gibt, die mit geringen Sauerstoffmengen auskommen können, so besteht sicher für die Wurzeln der verschiedenen Waldbäume ebenfalls ein abgestuftes Sauerstoffbedürfnis. Dasselbe ist noch wenig studiert, wird aber so manches Standortsrätsel bei Formationen und Assoziationen der Lösung entgegenführen.
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Bäume, deren Wurzeln vorübergehenden Sauerstoffmangel vertragen können, werden auf periodisch überschwemmten Standorten, also Auwaldböden, gedeihen. Hierzu scheinen graduell geordnet: Eiche, Hainbuche, Ulme und Esche zu gehören. Andere Bäume müssen dauernd mit der äußerst geringen Sauerstoffmenge in stagnierenden Gewässern fürlieb nehmen. Dies sind die Moor und Bruch gewohnten Erlen, Espen, Birken und Weiden. In den berühmten Sumpfwäldern (cypress-swamps) von Florida und Südgeorgien gedeiht auch eine nadelwerfende Konifere Taxodium distichum, da sie ihr Luftbedürfnis durch über die Erde ragende Atemwurzeln decken kann. Natürlich können auch Erle, Espe und Birke im Auenwald eingesprengt erscheinen, sind aber die Hauptbestandteile der Bruchwälder.
Für die Rotbuche ist zur Besiedelung des Auenwaldes neben dem ungestillten Sauerstoffbedürfnis wohl auch die Kalkarmut des ausgelaugten Schwemmlandbodens ein Hindernis.
In der Auenwaldfrage verdient auch eine eigenartige symbiotische Erscheinung unsere Aufmerksamkeit: Das Zusammenwirtschaften von [280]Baumwurzeln und Pilzmycel, die Mycorrhiza. Noch ist der Nutzen der Mycorrhiza für den Baum nicht völlig geklärt, doch läßt sich annehmen, daß diese verpilzte Wurzel eine Nützlichkeitserscheinung darstellt, die auch in die Frage der Besiedelung von Überschwemmungsböden hineinspielt. Auch die pilzdurchsetzten Wurzelknöllchen aller Erlenarten mögen hier Erwähnung finden. Abbildung 13 zeigt uns solche später verholzende, traubige Wurzelknöllchen, welche bis zur Größe einer Kinderfaust heranwachsen können. Diese Gebilde werden hervorgerufen durch in das Wurzelgewebe eindringende Pilzfäden, welche in bakterienähnliche Kleinstäbchen bzw. kugelige Zellketten zerfallen. Nach Kulturversuchen von Nobbe und Hiltner, Tharandt, wissen diese Pilze den freien Stickstoff der Luft zu binden, so daß der von Stickstoffsalzen ausgelaugte Schwemmland- bzw. Uferboden den Erlen ein freudiges Gedeihen ermöglicht.
Während bei uns die Schwarzerle sich meist auf Bruchland findet, spielt in den prächtigen Auenwäldern der Donau (vgl. Schlußverzierung, aufgenommen von L. Kniese, Pillnitz) die Weiß- oder Grauerle eine hervorragende Rolle, wie ich auf meinen Wanderungen in der Wachau beobachten konnte. In den Donauauen Ungarns vergesellschaftet sie sich mit der südosteuropäischen Schwarzpappel, mit stolzen Baumweiden und der prächtigen Silberlinde zu Baumbeständen, in welchen als häufige Liane der Hopfen rankt, [281]Jelängerjelieber die Zweige umspinnt und die Waldrebe ihre weißen Blütenzweige von Ast zu Ast in reizvollen Girlanden zieht, während der Boden von üppigem Kräuterwuchs, in Abbildung 14 von bitterem Schaumkraut, weithin bedeckt ist. Wir könnten meinen, das Bild eines tropischen Regenwaldes vor uns zu sehen, wie auch bei diesem hopfendurchrankten Teil der Pillnitzer Elbinsel (Abb. 15). Auch die Pillnitzer Insel besitzt übrigens noch schöne Schwarzpappeln, und es ist meines Erachtens eine müßige Frage, ob dieselben einheimisch sind. Bei Gelegenheit solcher Uferbegleiter sei noch auf eine spezifische, d. h. artverschiedene Eigenschaft der Bäume hingewiesen: auf das leichte oder schwere Vernarben von Wunden. Es sind besonders die Eisschollen, welche beim Eisgang des Frühjahres die Stämme schürfen und den Bäumen oft häßliche und gefährliche Rindenwunden schlagen. Manche Baumarten würden dadurch zu dauernder Kümmerung verurteilt, aber Weichhölzer, zumal Pappel und Weide, heilen sich rasch wieder aus. Auch der Wurzeltracht der Bäume muß bei der Besiedelungsfrage Aufmerksamkeit geschenkt werden, gibt es doch Tief- und Flachwurzler. Flachwurzelnde Bäume sind selbstverständlich in dem tiefgründigen Auwaldboden bei dem Flutendrang jährlicher Überschwemmungen völlig ausgeschlossen. Bei der diesjährigen anhaltenden Frühsommerüberschwemmung sind auf der Pillnitzer Elbinsel so manche Baumriesen durch Flutendrang und durch Unterspülung und Wirbelbildung gefallen (Abb. 16) andere Holzleichen zeigen ein vom Sturm gewaltsam abgerissenes Wurzelsystem (Abb. 17), so daß geradezu wertvolle Zerstörungsbilder eines Urwaldes geschaffen sind.
Nachdem ich die allgemeinen Ursachen der Auwaldbildung und die natürliche Auswahl der dazu geeigneten Bäume besprochen habe, soll ein typischer Auenwald eine plastische Schilderung erfahren und dazu dürften die Auenwälder der Leipziger Umgebung besonders geeignet sein.
Als Charakterbäume derselben zeigen sich: Stieleiche, Hainbuche, Esche und Ulme oder Rüster. Selten finden sich Spitzahorn und Linde ein. Die machtvollste Erscheinung ist unbestreitbar die Eiche. Es ist die besondere Art der Stieleiche, welche im Auenwald zur Herrschaft gelangt. In Mitteleuropa besitzen wir zwei, durch allerlei Übergänge miteinander verbundene Unterarten der Eiche: Die Stieleiche mit langgestielten Einzelfrüchten und herzförmigem Blattgrund und die Steineiche mit kurzstieligen Fruchtbüscheln und keilförmigem Blattgrund.
Ich erinnere mich von meiner Studienzeit her noch einer Rieseneiche im Auenwald bei Leutzsch. Sie sollte ein tausendjähriges Alter haben und besaß einen Stammdurchmesser von zwei Meter. Auf der Fahrstraße Leipzig–Leutzsch–Böhlitz–Ehrenberg sehen wir noch jetzt berühmte Eichenbestände von ähnlichem Ausmaß (Abb. 18), und eine Eiche der Maslauer Auwaldbestände darf sich in ihrer Wuchskraft und stolzen Baumschönheit diesen Veteranen getrost zur Seite stellen (Abb. 19). In Abbildung 20 erblicken [283]wir einen solchen Auwaldriesen im Rhedenholz bei Roßwein längs der Freiberger Mulde.
Alte Eichen beanspruchen mit ihren weitausgreifenden Ästen einen weiten Standraum und gestatten bei der Lockerheit ihrer Krone dem hereinflutenden Licht einen Durchgang, der dem Auwaldinneren einen grüngoldenen Schimmer von zauberhaftem Reiz gewährt. Von Ulmenarten findet sich besonders die Feldulme mit glatter Blattoberseite und kurzer Blattspitze. Doch kommt auch die rauhblättrige Bergulme im Überschwemmungsgebiet der Elster und Saale vor. Eine wohltuende Abwechslung bieten im Auenwald auch Farbe und Musterung der Stämme: Glattrindige, grüngelbe Espen neben weißstämmigen Birken, der dunkle Borkenstamm der Eiche neben den graugemusterten Säulen der Hainbuche, die braune Schuppenborke der Feldulme neben dem Silbergrau der Eschen.
Bei der reichen Artenzahl der Waldbäume von verschiedener Wuchskraft und Wuchshöhe, bei wechselnder Verästelung und vielgestaltigem Blattbau, ist die einfallende Lichtmenge immerhin groß genug, um auch einen artenreichen Unterholzbestand aufkommen zu lassen. Gerade das Unterholz, welches eine reiche Vogelwelt beherbergt und dem lieblichsten Sänger, der Nachtigall, ihre leichtsinnig ausgewählten niederen Brutplätze bietet, ist ein besonderer [286]Wesenszug des Leipziger Auenwaldes. Auch hierbei herrscht eine reichhaltige Mannigfaltigkeit der Arten. Dr. Reiche sagt in einer netten, in den Dresdner Isis-Berichten 1886 veröffentlichten Skizze, daß das Unterholz in gleicher Zusammensetzung sich innerhalb Sachsens nur zweimal, um Leipzig und Meißen, entwickelt findet. Es besteht aus Ulmen, Feldahorn, Hasel, Weißdorn, Faulbaum, Traubenkirsche, schwarzem Holunder, Pfaffenhütchen und – als besondere Erscheinungen – aus Liguster und Hartriegel. Die meisten derselben schmücken sich im Spätsommer und Herbst mit saftig-fleischigen Früchten, die eben der Vogelwelt diese grünen Laubhallen zum beliebten Aufenthalt machen. Die gefiederte Welt besorgt gewiß auch die weitere Ansaat dieser Pflanzen, und wir sollten bei unseren Formationsbetrachtungen dem zoogenen Einfluß weit mehr Aufmerksamkeit schenken. Wasserläufe, welche als Kanäle oder Flußverzweigungen den Auenwald reichlich durchziehen, schmücken ihre Ufer weithin mit Strauchweiden (vgl. Abb. 8). Infolge der späteren Belaubung von Eiche und Esche wirkt die Frühlingssonne lebenweckend auf den sonst feuchtkühlen Auwaldboden und zaubert eine Fülle frühblühender Kräuter hervor, deren meist breite und tiefgrüne Blätter als erster Lenzesschmuck dem winterfahlen Waldboden entsprießen. Erst heben sich [290]nach Reiches Schilderung die grünen Spitzen der Laubblätter des massenhaft vorhandenen Märzbechers empor, ihnen folgt das kräftige Blattwerk des Aronstabs (Abb. 21) und das zarte Grün des Bärenlauches (Abb. 22), der alsbald seine weißen Sterndolden entfaltet, aber leider auch seinen Knoblauchduft, welcher unser Entzücken über die Waldespracht etwas herabstimmt. Zur Osterzeit läuten die Großglocken des Märzbechers, es leuchten die trübpurpurnen oder weißen Trauben des Lerchensporns, die rotknospigen Blaublüten des Lungenkrautes, die goldgelben Blütenbüschel des Goldsterns, die Blumensonnen der Feigwurz. Dazu erfreuen weiße und gelbe Anemonen und Blütendolden der Himmelschlüssel unser Auge, und ein zarter Duft wird von dem niedlichen Moschusblümchen in die Lenzluft gehaucht. In den pflanzenreichen Auwäldern der Eger südlich Theresienstadt mit ihren Millionen von Märzbechern (Abb. 23) gesellt sich zu den genannten Pflanzen noch der Blaustern der Scilla und das zarte Gedenkemein (Omphalodes), die beide auch in Sachsens Elbegebiet als Reste früheren Auwaldes, wenn auch als Seltenheiten, erhalten geblieben sind (Abb. 24). Eine ähnliche entzückende Auenwaldflora aus Frühlingsblühern gewebt, schmückt in Sachsen auch den Jahnalauf bis Riesa und streckenweise auch die Ufergehölze der Döllnitz, so daß wohl als sicher gelten darf, daß [291]auch die jetzigen Wermsdorfer Forsten früher ein Auenwaldgebiet darstellten, welches sich über Wurzen bis nach Leipzig hinzog. Auch an der Röder war sicherlich ein Auenwald entwickelt, und der Schloßgarten zu Wachau bei Radeberg (Abb. 25) bietet uns noch einen Restbestand. Überhaupt hat sich Auwaldgelände zu Parkanlagen englischen Stiles besonders geeignet und ist vielfach entsprechend benutzt worden.
All die vorher genannten Lenzesboten müssen sich beeilen, an die Sonne zu dringen, ehe der zartgrüne Schleier des Unterholzes sich dichter webt, und ehe noch das grüne Laubdach in geschlossener Schwere dem Sonnenlicht den Zugang wehrt. Das doppelte Laubdach von Ober- und Unterholz hemmt aber nicht bloß das Licht, sondern sättigt auch die Waldluft reichlich mit Wasserdampf, so daß die Blätter der bodendeckenden Pflanzen den Bau von Hygrophyten (Feuchtpflanzen) zeigen: breite und zarte, chlorophyllreiche und daher dunkelgrüne Blattspreite ohne jede Trockenschutzeinrichtung. Da sind selbst die Blätter der Waldgräser breit, biegsam, bogenförmig herabgeneigt und besitzen Spaltöffnungen auf Ober- und Unterseite. Von solchen nenne ich die Waldhirse mit ihrem schwankenden Gehälm, das Waldrispengras mit dem oberseits abgespreizten Blatt, den stattlichen Riesenschwingel und den grünen Hundsweizen, vier Gräser, die sich auch im Auwald der Pillnitzer Elbinsel finden. Im Frühsommer sprießen die Waldveilchen – im Leipziger [292]Auwald auch das seltene pfirsichblättrige –, Maiblumen duften und die Weißwurz schüttelt ihre Hängeglöckchen, während die familienverwandte giftige Einbeere mit der Vierzahl ihrer Blatt- und Blütenorgane kokettiert. Die meisten Gewächse schließen ihre Blütezeit im Juni ab, denn alsdann wird für den nötigen Lichtgenuß das Laubdach zu dicht. Darunter sind viele Allerweltspflanzen wie Brennessel, Zaungiersch, Benediktenkraut, Knoblauchshedrich, Gamanderehrenpreis. An Wasserläufen und Wasserlachen, die der Sonne Zugang gewähren, so daß das Waldesdunkel zu Halbschatten herabgemindert ist, entwickeln sich meterhohe Hochstauden, ich nenne davon Kerbelrübe, Waldklette, Engelwurz und Krausdistel. Eine große Anzahl der genannten Pflanzen finden sich noch heute als Begleiter unserer Zäune und Hecken, vielfach auch in bäuerlichen Grasgärten. Es sind eben die Reste vergangener Auwaldherrlichkeit, die durch Rodungen seit vielen Jahrhunderten unwiederbringlich dahin ist. Es ist sicher, daß in allen Flußniederungen Auenwälder vorherrschten, daß aber auch jene tiefgründigen Gelände, die durch jährliche, schichtenweise Bodenanschwemmung sich allmählich selbst über die Schwemmlandzone erhöhten, die auch durch hohe Dämme leicht vorm Hochwasser geschützt werden konnten, von den Ansiedlern zuerst zu Wohnstätten, zu Wiese und Weide benutzt wurden. Der stolze Auenwald wurde der Axt überantwortet, bot er doch zur Zimmerung von Buhnen und Wohnstätten vortreffliches Material. Die ursprünglichen Wälder der Niederung verschwanden und an ihrer Stelle wogen segenschwere Getreidefelder oder breitet sich das grüne Meer der Graswiese. Wo aber, wie in Leipzigs Umgebung und auf unserer Pillnitzer Elbinsel, sich jene Naturgebiete von höchster Eigenart, jene Lebensgemeinschaften von charakteristischer Prägung noch erhalten haben, sollten sie nach Möglichkeit geschont werden. So hat sich auch unser Landesverein dieser schwindenden Ursprünglichkeit angenommen, und es ist ihm gelungen, durch Mitarbeit und Geneigtheit von staatlichen und städtischen Behörden die Elbinsel zu Pillnitz, vor allem aber die weit reichere Auwaldherrlichkeit um Leipzig im Burgauer Forstrevier in ihrer Eigenart als Schutzgebiete erhalten zu sehen.
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Fußnoten:
[1] Salix Caprea, cinerea, fragilis aurita u. Bastarde.
[2] Spreewald und Oderbruch.
[3] So dankbar wir dem Finanzministerium für den Schutz der Pillnitzer Insel sein müssen, so bedauerlich ist es, daß es noch immer Widerständen nachgibt, welche die störenden Fremdbilder, vor allen Dingen die undeutschen Robinien (als Bienenfutter!!) erhalten möchten.
Von Dr. Dr. Karl Berger, Leipzig
Mit Aufnahmen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz
Leipziger Land! Ihm ist dies Heft gewidmet. Vermögen aber nicht erst recht wenige selbst von den Leipzigern damit eine bestimmte Vorstellung zu verbinden? Und doch kam das glückliche Wort schon vor dem Krieg auf. Damals, als – trotz des Offenstehens aller Grenzen – jäh zunehmend die lastende innere Leere der unaufhaltsam Wälder, Felder und Menschen fressenden Großstädte gerade die Besten aus Hörsälen und Werkstätten sehnsüchtig am Wochenende ausziehen lehrte, um Wiesen, Wolken und Wind wiederzufinden und mit Auge und Lunge ein wenig davon für den Werktag sich einzufangen. Damals, also zugleich mit dem alten Wandervogel und mit den Pfadfindern, ward »Leipziger Land« zuerst Heimatfreunden rings um das Völkerschlachtdenkmal zur Bezeichnung voll leisen Wohllauts und voll spröder Innigkeit für die Leipziger Landschaft als eigenes und heimatliches Wandergebiet.
Das Leipziger Land umfaßt annähernd gerade die Leipziger Tieflandsbucht. Denn die Auen der Saale und Mulde rahmen es nicht nur mit breitem silbergrünen Samt im Westen und Osten ein: Sie scheiden es auch durchaus fühlbar von den Vorbergen Thüringens jenseits Weißenfels und Roßbach und auch von den sandigen, ins Märkische hinübergeleitenden Heiden und den fetten Lößlehm-Fruchtebenen, wie sie wenige Stunden nordöstlich und südöstlich von Wurzen beginnen und bis Wittenberg und Meißen reichen. Und hebt nicht auch im Norden der Linie Wettin–Petersberg–Eilenburg die Landschaft der Cöthener Zuckerrüben-Kultursteppe und des Bitterfelder Braunkohlenreviers sich ebenso ab wie im Süden, etwa die jenseits von Teuchern–Borna, besonders seitdem auch sie der Bergbau immer mehr verwandelt?
Freilich droht auch dem Leipziger Land mannigfache Gefahr, daß durch fortschreitende Industrialisierung seine Ursprünglichkeit und, was schlimmer, seine Eigenart, die Weite seiner einsamen Ebenen und die Unberührtheit seiner Auenlandschaften beeinträchtigt, ja mehr als vielleicht bei eingehenderer Würdigung ihrer herben und verhaltenen Schönheit nötig wäre, zerstört wird. Freilich, die Umgebung einer Großstadt ist nun einmal der Nährboden, aus dem diese ihre beste Kraft zieht. Und je mehr diese in tausendjährigem Wuchs aufblüht und ihre Mauerkrone rundet, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit daß, von ihr überschattet, gerade zarteste Gebilde in ihrem Umkreis verkümmern. Dazu tritt die zunehmende Dezentralisation der Industrie und das gleichfalls an sich aus ethischen wie gesundheitlichen Gründen begrüßenswerte Trabantensystem der modernen Großstadterweiterung, d. h. die bewußte Anlegung von größeren, die Hauptstadt entlastenden Verkehrs- und Siedlungsmittelpunkten in deren weiterem Umkreise, also im Gegensatze zur bisherigen mechanischen Vorstadtbildung. Für das Leipziger Land kommt noch in Sonderheit der, zumal im Süden um Borna und Böhlen, seit dem Kriege unaufhaltsam [294]zunehmende Braunkohlentagebau hinzu, der der Landschaft so ganz besonders tiefe Wunden schlägt.
Das alles erfüllt die Leipziger Heimatfreunde mit schwerer, ja mit immer mehr zunehmender Sorge um die Zukunft der gewiß oft bescheidenen und vielfach recht spröden Reize der Leipziger Umgegend. Dem Fremden aus reicheren Landstrichen mögen sie simpel und jene Sorgen unverständlich erscheinen. Aber auch karge Erde ist als Muttererde heilig. Und es sind vielleicht nicht immer die Klügsten, aber oft die Weisesten und Besten, denen sie es am meisten ist. Es handelt sich hier auch nicht um die Sorgen einiger Dutzend oder etlicher Hundert Ästheten oder Altertümler. Was bedeutet denn das wachsende Drängen der vielen Ruder- und Schwimmvereine, Baugenossenschaften und einzelnen Siedler nach Naturnähe, nach Ruhe und Fernblick, oft trotz vieler Unbequemlichkeiten und Kosten? Was vor allem die große Zunahme der »Schrebergärten«, – jener für die anderen deutschen Großstädte vorbildlich gewordenen Schöpfung des verdienten Leipziger Arztes Dr. Schreber vor zwei Menschenaltern, – auch nach Beendigung der Lebensmittelblockade? All das beweist doch schlagend, wie jede neue Generation unseres mechanisierten Maschinenzeitalters unbewußt oder bewußt, still oder leidenschaftlich, zunehmende Sehnsucht nach der Verbindung mit der Allmutter Natur empfindet, ja empfinden muß. Und der wäre kein Staatsmann [295]und kein Volkswirt, der den rechnungsmäßigen Hektarertrag für Kleingartenland um den Goldwert all der unzähligen Sonnenstunden aufzuwerten unterließe, die der Garten vor der Stadt – ebenso wie rechtes, echtes Wandern über Land – gerade dem Bewohner einer so dichtgebauten Stadt wie Leipzig bedeutet, die keine lachenden Uferhöhen oder lockenden Bergwälder hier und da als Straßenabschluß oder als Platzkulisse, so wie etwa Dresden oder Plauen, besitzt.
Innerhalb des Leipziger Landes fehlt es fast völlig an umfänglichen Ortschaften, wie sie das Erzgebirge oder die südöstliche Lausitz so zahlreich aufweist, wenn man absieht von den mit Leipzig verwachsenen Industrie- und Arbeiterwohnsitzgemeinden, die indes zum größten Teil in den letzten fünfzehn Jahren und schon vorher um 1890 einverleibt worden sind. So liegt keine Gemeinde von mehr als 10 000 Einwohnern im eigentlichen Leipziger Lande. Merseburg, Eilenburg, Wurzen, auch Borna liegen schon an seinen Grenzen. Städte wie Naunhof, Zwenkau, Delitzsch, denen größtenteils die Industrie ihr Gepräge als Landstadt noch nicht oder nur teilweise genommen hat, und Bauerndörfer überwiegen noch immer, im ganzen betrachtet, die Industrie- und räumlich und ihrer Zahl nach fast auch die Arbeiterwohnsitzgemeinden. Auch Einzelsiedlungen, so häufig im Dresdner Lande und um Hamburg oder Berlin, [296]sind jenseits des Leipziger Stadtgebietes, etwa von der Pleißenaue abgesehen, noch recht selten, z. T. auch wohl infolge der nahen Landesgrenze, die die Stadt im Halbkreis umzieht und manche Verkehrserschwerungen nach wie vor im Gefolge hat, die ungerechtfertigtsten, und in der großen Handelsstadt besonders schmerzlich empfundenen, bekanntlich im Eisenbahnverkehr.
Aber der Wandersmann braucht darum freilich sich nicht zu grämen. Und so besteigt er denn auch großmütig den preußischen Zug, um zwei Stationen weit nordwärts nach Rackwitz zu fahren. Hei, wie jagt schon beim Verlassen des Wagens der West ganz anders schneidig vom fernen Landsberger Kapellenberge mit der kunstreichen Doppelkapelle aus Barbarossas Zeiten herüber, als eben noch im gemütlichen Sachsen. Rein ländliche Gefährte und Gefährten am kleinen Bahnhof, der auch in seinem Ziegelrohbau und mit der Birkenallee als Zufahrt uns leise schon die Überschreitung der Grenze veranschaulicht. Bald verläuft sich der kleine Schwarm. Die unwahrscheinliche Stille und Weite der großlinigen Ebene schluckte sie unversehens auf.
Denn meilenweite Felder umfrieden wie im Westen um Lützen, Großgörschen und Kitzen, und im Südosten um Wachau und Liebertwolkwitz, so besonders hier im Norden, fast unmittelbar jenseits des Weichbildes die Stadt. Schon Breitenfeld, einst gleichfalls blutige Walstatt, drüben wenig Kilometer von der Stadtgrenze, könnte ebensowohl ein Gutsbezirk in [297]Pommern sein mit seinen weiten, ausnahmslos dem Rittergut gehörenden Flächen, der Brennerei und den Landarbeiterkasernen und mit dem dunklen Forst, der auch in den letzten Jahren und Jahrzehnten noch so manche blutigen Kämpfe zwischen Wilderern und Förstern erlebte.
Wundersam wandernde und wechselnde Wolkengebirge treiben uns entgegen. Oh, ja, auch der Wanderer im Leipziger Lande kann es verstehen lernen, hat er nur Sinn und Andacht dafür, was der Wilde Jäger unseren Urvätern, was die Windsbraut den Romantikern mit ihrem Fernweh bedeutete, und was auch uns neunmal Weisen und Geschäftstüchtigen ein Luftschloß für ein narrendes und doch beglückendes Ding sein kann. Stieg da nicht eben eines [302]blau auf, dort links hinter dem Kapellenberge? Ja, nein, doch ja. Und es ist diesmal wahrlich kein Luftschloß nur: Der Petersberg ist es mit Kirche und Ruine des Klosters, das vor achthundert Jahren sich Otto der Reiche, derselbe, der 1160 Leipzig mit Stadtrecht begabte, als Alterssitz erkor, um hier auf dem mons serenus, dem Lauterberge des Mittelalters, der Wiege seines Geschlechts und dem Himmel zugleich näher zu sein.
Unterdessen haben wir ein paar hundert Meter jenseits der Delitzscher Staatsstraße ein anderes und kaum jüngeres, ganz einsam in den Feldern wachendes Gotteshaus erreicht. Eine Fichtenhecke säumt es und hegt den verwunschenen »Gottesacker«, darauf nur noch wenig Dutzend Gräber eines abgelegenen [306]Dörfchens, überdacht von hohen Lebensbäumen, träumen. Der Rest der Kirchfahrt ward, spätestens im Dreißigjährigen Kriege, Wüstung, wie so viele Orte des schlachtenreichen Leipziger Blachfeldes. Aber wenn die Nebel aus den Erlen des nahen Löberbachs aufsteigen, dann steigen auch die Tillyschen Reiter und die schwedischen Musketiere aus ihren eingesunkenen Gräbern. Dann geht es hoch her: Der Würfelbecher kreist, und die Knöchel klappern so laut auf das Kalbfell, daß der abendliche Wanderer drüben nicht daran denkt, daß es vielleicht nur das Rütteln des morschen Fensterladens der Glockenstube war, was ihn schreckte, der Glockenstube des alten, einsamen Gotteshauses mit dem Märchennamen Buschnaukirche.
Doch wir steuern im flutenden Lichte der gütigen Nachmittagssonne unbeirrt weiter westwärts. Ja, bei windigem Wetter, – und der Wind ist häufig längs der Nordgrenzen Sachsens, – bei Föhn- und Äquinoktialstürmen zumal ist Wandern durch, nein Wandern über das Leipziger Land, außerhalb der Auen, oft wie eine Seefahrt. Ungehemmt brausen die Stürme hier dahin, jagen und hetzen hundertfältige Wolkengebilde, Schleiern, Rauchfahnen, Reitern gleich, von der Saale zur Mulde. Schneestürme, Wolkenschatten, Sonnengarben wandern auf Sturmesflügeln märchenschnell und märchensam, stundenweit auf der endlosen Ebene verfolgbar, über die meilenweite Fläche in einem jäh wechselnden Reichtum der Farben, der an Hochgebirge und wiederum an [313]Meereslandschaften erinnert. Kein Hindernis hemmt Fuß oder Auge: Nur ab und zu schüttere Pappel- und Pflaumenalleen, aussterbende sperrige Windmühlen und ab und zu ein einsamer Baumriese, ein vergessener Moränenhügel und bei klarem Wetter immer wieder einmal eine verblauende Wald- oder eine leise, ferne Hügellinie. Von Menschenwerk sind da und dort eine romanische Wehrkirche, ein hochgiebeliges Herrenhaus aus der Reformations- oder aus der Barockzeit und neuerdings einzelne Wassertürme und das großmaschige, zu mancher Stunde seidig knisternde Netz der elektrischen Überlandleitungen noch immer dem Wanderer im Leipziger Land vielfach bald nach dem Überschreiten der Stadtgrenze die einzigen Landmarken. Und sie sind zugleich Symbole der Herren des Landes im Mittelalter, in der neueren Zeit und in der Gegenwart, der Kirche also, dann des Feudalherrn und nun der Volksgemeinschaft.
Die seltenen Dörfer Hayna, Radefeld, Freiroda sind zeitlos und typisch: Lehmmauern und vielfach schon norddeutsche Ziegelbauweise längs der Dorfstraße, rührende ernste Gotteshäuser aus Findlingsblöcken, noch nicht wie in den Städten überschattet von den Menschenmassenbehausungen, sowie diese hier noch nicht überwuchert werden von den Werkstätten. Und doch waren diese verwitterten Kirchen leicht längere Jahrhunderte schon katholisch, als sie nun protestantisch sind. In Hayna fesselt ein unverhofftes kunstvolles Portal mit [320]romanischem Tympanon aus der Kreuzzugszeit und davor ein Gedächtnismal für die Helden des Weltkriegs in so einfachen edlen Formen, wie einst die alten Mäler aus den Jahrzehnten nach 1813 rings im Leipziger Lande.
Und immer wieder weite leise Wellen blauenden Landes. Die Elsteraue taucht auf. Schkeuditz lugt über ihren steilen Nordhang. Großdölzig, Bienitz und Wachberg und wieder weites Leipziger Land dahinter, winkt von Süden westwärts Röglitz, die Sommerresidenz des Merseburger Geigenherzogs und seines Hofes, und Gröbers, Vorposten des Hallischen Kohlenreviers, wo in den Tagen des unseligen Kapputsches so viele Tapfere ihre Pflichterfüllung mit dem Tode besiegelten. Den Horizont aber begrenzen vor den hauchzarten Linien der ersten Thüringer Berge längs der Saale das vieltürmige Merseburg, das architektonische Kleinod des Leipziger Landes, Dürrenberg, die jahrtausende alte Salzstätte und eine preußisch tadellos ausgerichtete kilometerlange Linie von dreizehn, weit über hundert Meter hohen Schornsteinen – gottlob vier, fünf Stunden von uns entfernt: Das Leunawerk, das neueste große Denkmal deutscher Hand- und Geistesarbeit und das neue westliche Grenzmal des weiten, einsamen, unbekannten Leipziger Flachlandes.
Über die verraste mittelalterliche Salzstraße von Halle nach Schlesien und über die Eisenbahn von Leipzig nach Halle steigen wir durch Hänichen [321]oder Schkeuditz nun bald den Hang der Elster- und Luppenaue hinab, die sich vier Kilometer breit als Elsteraue von Pegau–Groitzsch nach Leipzig und von Leipzig bis zur Saale zieht. Erst nach der letzten der – nach Jeckels neuesten Forschungen – wohl vier Eiszeiten, ist die Elsteraue in geologisch sehr junger, schätzungsweise hundert bis hundertundfünfzigtausend Jahre zurückliegender Zeit durch Erosion des nach dem Schmelzen des Inlandeises viel wasserreicheren Flusses entstanden. Andere, ähnliche Auen des Leipziger Landes, sind vor allem die der Pleiße und der Parthe, dann die der Saale und Mulde zwischen Weißenfels und Halle und zwischen Grimma, mehr noch zwischen Wurzen und Eilenburg. Diese für das Leipziger Land ganz besonders kennzeichnenden Flußauen sind bald urwald- und sumpfartig. Bald aber sind sie, wie besonders an der Mulde, insbesondere bei Nischwitz, Püchau und Thalheim, aber auch an der Pleiße und an der Parthe, mehr wald-, park- oder wiesenartig. So sind auch zahlreiche große Parks in den Auen angelegt worden; von den öffentlich zugänglichen sind wohl die schönsten die der Schlösser Knauthain, Machern, Lützschena und Dölkau. Zu jeder Jahreszeit aber bescheren die Auen die sinnfälligsten und mannigfachsten Natureindrücke im Leipziger Land. Häufige Überschwemmungen verändern auch heute noch, oft binnen weniger reißender Stunden, durch Dammbrüche auf weite Strecken, zumal an der Elster bei Bösdorf und Eythra und bei Gundorf, das Land und [322]machen mühsam angelandeten Wiesen- oder gar Haferboden für lange Jahre wieder zu Schilfland, wenn nicht gar zu Lehmlachen. Dem Naturfreunde freilich gewähren sie, und zwar schon vielfach innerhalb des Gebiets seiner Seestadt Leipzig, unerwartet eindrucksvolle und mannigfache Bilder.
Und die Rückstände dieser Überschwemmungen, feine Ton- und Sandteilchen, oft durch Trockenrisse weithin netzartig geädert wie manche Porzellane, bringen eine in Sachsen unübertroffen üppige Wald-, Sumpf- und Wiesenvegetation hervor.
Freilich bis zur Kaisereiche bei Maslau, wohl dem größten Baume Sachsens und seiner Grenzgebiete mit weit über acht Meter Umfang etwa einen Meter über dem Boden, mit achtunddreißig Meter Höhe und hundert Festmetern Kubikinhalt, ist der Weg zu weit und verschlungen, nun langsam der Abend niedersinkt. Fast ein wenig unheimlich wird es im weiten Röhricht und unter den Espen und Erlen, die im aufkommenden Abendwinde gespenstisch schauern. Weben und werben dort auf den Wiesen gen Papitz nicht Erlkönigs Töchter in den Weiden über den Wassern? Locken nicht Irrlichter ganz nahe vom schmalen abschüssigen Damm in ihr feuchtes Reich? Und jetzt hebt auch ein Käuzchen hier an zu klagen und ein zweites antwortet drüben über der Luppe her als Stimme und Symbol der fast plötzlich verwandelten dunkelblauschwarzen Einsamkeit. Und als wir nun auf oft verwachsenem Jägerpfad nach [323]der Gundorfer Ziegelei zur Straßenbahn hinüberschreiten, denken wir an manche Mär, die auch unsere Aue, so wie den längst viel nüchterner gewordenen alten Sumpfwald der Schratte, den Schraden bei Ortrand, mit Gestalten der Sage beleben, an den Schatz im Attnitzberge bei Oberthau und an den Mann ohne Kopf an der Kahlen Hufe bei Kleinliebenau, an den Drachen zu Zschöcherchen und an den Köckeritz bei Möritzsch mit seinen mancherlei altgermanischen Funden und mit seinen Sagen vom Wilden Jäger. Vielleicht ist es nicht restlos Zufall, daß gerade am Rande der Aue die althochdeutschen Zaubersprüche zur Bannung böser Geister noch in der Zeit lebendig waren, aus der auch unserem Leipziger Lande in den Merseburger Chroniken und Zaubersprüchen erste literarische Urkunden überliefert sind.
Literaturhinweise (nur eine kleine Auswahl guter Werke).
1. Leipziger Land, herausgegeben vom Leipziger Dürerbund und Wandervogel. 2. Auflage. 1912. Fritz Eckardts Verlag. 132 Seiten. Ein noch jetzt brauchbarer Führer unter Betonung des Landschaftlichen und Geschichtlichen.
2. Leipziger Lehrausflüge. Herausgegeben von Kurt Krause. 1920. Ferdinand Hirt und Sohn in Leipzig. 164 Seiten. Überwiegend erdkundlich-geologisch. Auch für Anspruchsvollere.
3. Sächsische Wanderbücher, Rund um Leipzig. Herausgegeben von Dr. Kurt Krause. 1924. Verlag von Kommerstädt und Schobloch, Dresden-Wachwitz. 330 Seiten. Sehr inhaltsreich und gründlich; hauptsächlich geologisch und siedelungsgeschichtlich. Bis Gera und zur Dübener Heide reichend.
4. Leipziger Land im Bild, Heft 1. Herausgegeben von der Sektion Jung-Leipzig des Deutschen und Österreichischen Alpenverein 1912. Fritz Eckardts Verlag. Die leider nicht fortgesetzte Veröffentlichung von neunundsiebzig ausgezeichneten kennzeichnenden Landschaftsaufnahmen aus dem Leipziger Land.
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Von Rudolf Moschkau, Leipzig
Mit sieben Zeichnungen vom Verfasser
Zu den unscheinbarsten Blüten alter heimatlicher Volkskunst gehört eine Gruppe von Hausornamenten, die mir an Sachsens Landesgrenze bei Leipzig häufiger vorzukommen scheinen, als sonst in Leipzigs näherer Umgebung. Daß hierbei die erst hundertjährige politische Grenze keinerlei Rolle als Kulturscheide spielt, bedarf kaum der Erwähnung. Tatsächlich finden sich die in Rede stehenden Verzierungsmuster an bäuerlichen Lehmhäusern hüben wie drüben. Die reizvolleren Beispiele freilich traf ich jenseits der grün-weißen Grenzpfähle auf provinzialsächsischem Boden an. In unmittelbarer Umgebung der Großstadt dagegen hat großstädtische Bauweise mit den alten Lehmhäusern auch die alte Verzierungsweise verschwinden lassen. Ob heute die Technik der Lehmwandmusterung in dem unberührteren landwirtschaftlichen Nachbargebiete, in dem sie besser erhalten blieb, auch noch ausgeübt wird, entzieht sich meiner sicheren Kenntnis. Ich bezweifle es; auf jeden Fall könnte es sich nur um ein örtlich begrenztes, letztes Aufflackern einer verlöschenden Gepflogenheit handeln.
Die Hausornamente bestehen aus geometrischen Furchen- und Stichmustern, die in den noch bildsamen feuchten Lehm der eben fertiggestellten Hauswände eingetieft wurden. Das drei- bis sechszinkige Gerät, dessen sich der bäuerliche Handwerker hierzu bediente, ist kammartig zu denken. Zu Gesicht ist mir ein solches Instrument bisher nicht gekommen. Vielleicht genügte für einfache Muster das fünfzinkige Urbild aller Kämme, die menschliche Hand. Wo die gemusterte Lehmwand vor Schlagregen geschützt blieb, erhielten sich Furchen und Einstiche sehr wohl.
So kann man noch ganze Außenwände, mit unbegrenzten Mustern gefüllt, antreffen. Für Innenwände schuf man sich auf gleiche Art einen billigen Tapetenersatz. Als Beispiel mag ein Bauernhaus des siebzehnten Jahrhunderts aus Leipzig-Wahren dienen, das von seinem Besitzer pietätvoll geschont ward. (Abb. 1.) Ohne Kalk- oder Farbtünche geben seine Zimmerwände ein Bild armseliger und doch nicht schmuckloser Einfachheit: Der Balkenrichtung angepaßt, verlaufen vierfurchige Wellenbänder in Begleitung von Stichgruppen ziemlich sorglos zwischen senkrechten Furchenbändern oder folgen schrägen Streben des Balkenwerkes. An anderen Stellen tritt durch regelmäßige Kreuzung geradliniger Bänder ein strengeres Rautenmuster mit gewellten kurzen Mittelstrichen auf. Der Bauer hat die letztgenannte Art, eine Wandfläche im Ganzen aufzuteilen, entschieden vor anderen Möglichkeiten bevorzugt, so daß sie über weite Landstriche Sachsens und der Nachbarländer Verbreitung gefunden hat.
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Durch besseren Wetterschutz vor der Wandfläche begünstigt, zeigt das Dachgesims die empfindlichen Kammuster in besserer Erhaltung. Die ausgewählten Beispiele sprechen für sich selbst. Was die Konstruktion des Simses angeht, so war ich um Ansichten in Übereckstellung bemüht. An den Ecken liegen die wunden Stellen des Lehmhauses, die nicht selten erkennen lassen, wie der Sims gebaut und mit Lehm verkleidet worden ist. Die Muster selbst werden an dem überschatteten Sims von ungeübten Augen leicht übersehen. Nur bei guter Erhaltung und Seitenbeleuchtung sind sie so deutlich wie auf unseren Zeichnungen sichtbar. (Abb. 2–7.)
Was an der Bemusterung der Simse sogleich auffällt, ist der größere Reichtum an Formen. Zickzack- oder Wellenbänder mit Überschneidungen folgen der Hauptrichtung des Simses und werden meist begleitet von Stichgruppen, die sinngemäß die freien Mittelfelder und Zwickel füllen. Aus der Zahl der Furchen, die ein Band bilden, oder der Punktzahl einzelner Stichgruppen ist die Zinkenzahl des verwendeten Kammes ohne weiteres erkennbar. Eine Reihung einzelner Elemente wie in Abbildung 5 mag durch die Reihe der vorstehenden Dachbalkenköpfe eingegeben worden sein. Diese Balkenköpfe werden gern durch Lehmauftrag verdeckt, um eine glatte Durchführung des Musters über den ganzen Sims hin zu ermöglichen. Da aber der dünnere Lehmauftrag an dem Balkenende weniger fest haftet, treten sie meist wieder zutage, wie in Abbildung 4. Hier hält überdies ein kahler, späterer Mörtelputz das freundliche alte Girlandenmuster bis auf eine Bruchstelle verdeckt.
In geschmacklicher Hinsicht verdient dieser bescheidene Hausschmuck fast ausnahmslos ein Lob. Es scheint, als ob die Hersteller Kenntnis gehabt hätten von den Ornamentgesetzen der Reihung. Nicht nur, daß die rhythmisch geordneten Zierteile und die rhythmisch bewegten Linien Gefallen erregen – selbst der Rhythmus des unbegrenzten, denkbar bescheidenen Musters in Abbildung 7 hat noch seinen Reiz – nein, auch die Logik dieses Schmuckes ist zwingend: Der Schmuck ist werk- und materialgerecht; denn der Kamm, der nur stechen und ritzen kann, wird allein in diesem Sinne verwendet, und zwar an einem Material, das eben diese Tätigkeiten mühelos erlaubt. Es sind nichts weiter als Werkzeugspuren in gefälliger Anordnung, die so entstehen, keine andere Herstellungsweise, kein fremder Werkstoff wird vorgetäuscht. Und auch die Stelle, wo der Schmuck sitzt, ist sinnvoll gewählt. Es ist der obere Wandabschluß des Hauses, wo das Muster wirkt wie der säumende, abschließende Besatz eines Kleides.
Man sehe noch einmal ein Beispiel wie Abbildung 3 an, und man wird gestehen, daß der so erzielte Eindruck von Harmonie zwischen baulichen und schmückenden Gliedern ungetrübt ist. Ein ehrlicher, derber Menschenschlag mit Sinn für Zweckmäßigkeit und Freude an bescheidener Schmückung steht hinter solchem Werk. Aber noch ein anderer Eindruck drängt sich uns auf: Der Eindruck, daß es »so lange her« sei, daß hier eine uraltertümliche Kunstübung vorliegen müsse; und dem ist auch so. Wer in Europas vorgeschichtlicher Kunst Bescheid weiß, der kennt bereits diese Kreuzchen und Stichgruppen, Zickzack- [332]und Wellenmuster. Sie sind zu allen Zeiten in mehr oder weniger primitiven Kulturen in Gebrauch gewesen. Vom Volk erfunden und angewandt, stellen sie im eigentlichen Sinne primitives Gemeinschaftsgut dar.
Schon die eiszeitlichen Fundstellen der Aurignackultur liefern auf Knochengeräten schön entwickelte Beispiele. Auf nacheiszeitlichen Rentierstäben der Yoldiaperiode tauchen sie wieder auf. Die reichste Entwicklung aber findet das primitive, geometrische Ritzornament in der Keramik der jüngeren Steinzeit Deutschlands. Hier läßt es sich auch zum erstenmal an Häusern – Grabhäusern freilich, wie das berühmte Merseburger Steinkistengrab, sowie an tönernen Hausmodellen aus Mähren – neben bildhaft symbolischen Zeichen beobachten. Für die viel spätere Zeit der Römerherrschaft bekundet Tacitus, Germania XVI, in einer vielgenannten Stelle, daß die Germanen manche Teile des Hauses mit feiner glänzender Lehmmasse überzögen, wodurch Malerei und Zeichnung gleichsam vertreten würden. Die merkwürdigste technische Übereinstimmung mit unseren Lehmwandmustern liefert jedoch der slawische Kulturabschnitt unserer Heimatgeschichte. Die slawischen Gefäße vom Ausgang des ersten nachchristlichen Jahrtausends kennen als ausschließliche Verzierung nur die Ritzkammusterung. Sehen wir von der viel kleineren Ausführung derselben ab, so ist die Ähnlichkeit dieser tausendjährigen Gefäßmuster mit unserem Lehmhausschmuck verblüffend. Davon kann sich jeder Besucher einer heimatlichen Vorgeschichtssammlung, die slawische Scherben enthält, überzeugen. Wenn heute noch in slawischen Ortschaften an der March[4], wie auch anderwärts in slawischem Siedlungsgebiet, Lehmwände in gleicher Weise mit Kammustern geschmückt werden, so darf auch eine ununterbrochene Tradition wenigstens für slawische Stämme vermutet werden. Ebenso wird für unsere Heimat eine Fortdauer vor- und frühgeschichtlicher Tradition bis zur Gegenwart nicht zu bestreiten sein.
Außer der primitiven Technik unseres Lehmhausornamentes weist aber noch ein zweiter Umstand in die graue Vorzeit als den Nährboden solcher Kunstübung, ein Umstand, der uns die Muster nicht mehr allein aus reiner, primitiver Schmuckfreude herleiten läßt. Das ist das Auftreten symbolartiger Bildzeichen. So erscheint, von mir freilich nur erst einmal in Leipzigs Umgebung beobachtet (Wölpern, südöstlich Eilenburg), in Verbindung mit Zickzackmusterung ein Bäumchen auf gestellartigem Untersatz, beides in Stichmanier ausgeführt. Ganz gleiche primitive Bäumchen mit aufwärtsweisenden Zweigen, wiederum verbunden mit Dreieckzacken und Punktmusterung sind im Hannöverschen als gelegentliche Malerei an Hausbalken bekannt. Auf Befragen eines volkskundlich eingestellten Forschers gaben Einheimische eine bildliche Ausdeutung der abstrakten Muster bis auf die Punktdreiecke, deren Erklärung mit einem »zweideutigen Schmunzeln« abgelehnt wurde[5]. Sie dürften wohl geschlechtliche Beziehung haben. Und da solche Zeichnungen einer Braut im Hause gelten, so ist die Beziehung auf künftige eheliche Fruchtbarkeit [333]offensichtlich. Was hier im symbolischen Sinne geschieht, ist in alten Zeiten als zeichnerischer Fruchtbarkeits- und Abwehrzauber geübt worden. Darauf weist auch das Auftreten der Symbolzeichen in jenen steinernen Grabkammern des Neolithikums hin, in denen gerade das primitive Bäumchen, mit einem Sonnenrad beziehungsvoll verbunden, wiederholt beobachtet worden ist.
So kann vergleichende Volkskunde und Vorgeschichte die bescheidensten Zeugnisse heimatlicher Volkskunst in ein neues Licht rücken. Mochten die heutigen Lehmwandmuster auch von ihren Herstellern nur als Schmuck angebracht und empfunden worden sein, so gehen sie doch letzten Endes auf alte Vorbilder zurück, in denen sich Schmuckwirkung mit zauberischer Absicht verband. An anderem Bauzierat des Hauses läßt sich diese Verwurzelung in primitiver magischer Denkweise vorgeschichtlicher Kulturen deutlicher erkennen. Doch liegt hier durch die Sammlung von Wetterfahnen, Giebelzeichen, Dachluken, Hausinschriften usw. ein ungleich reicheres Material vor. Möchten sich auch für unsere aussterbenden Lehmwandmuster einige Heimatforscher finden, die durch zeichnerische Sammelarbeit das Material vermehren helfen, das auf diesen Seiten nur erst teilweise veröffentlicht worden ist, und das zusammenzutragen mir manche Freude bereitet hat.
Fußnoten:
[4] Mitteilungen der Anthropolog. Gesellschaft in Wien. Bd. VII, S. 318, mit Abbildung.
[5] Zeitschrift für Ethnologie. Verhandlungen 1896, S. 589, mit Abbildung.
Von Dr. Gustav Schulze, Leipzig
Es ist jetzt vielfach die Rede von großzügigen Bebauungs- und Wirtschaftsplänen, durch die nicht nur die eigentlichen Siedlungsflächen, Bau- und Industrieland, sondern auch die Adern des Personen- und Güterverkehrs zu Wasser und Lande, Eisenbahnlinien, Autostraßen, vor allen Dingen aber die Grünflächen, die Lungen der Großstadt, weitblickend festgelegt werden sollen.
Künstlich angelegte Grünflächen, Promenaden, Volksparks werden immer etwas Gewolltes, Unnatürliches an sich haben, die wahre Erholungsstätte für alt und jung bleibt doch der Wald. Nur schade, daß er sich in seiner natürlichen Unberührtheit, sei es auch nur Kulturwald, nur selten noch nahe dem Weichbild einer Großstadt finden wird. Bei Leipzig, dessen Lage ja, mit Unrecht allerdings! für besonders reizlos gilt, wird man das am wenigsten vermuten und doch ist es der Fall. Zehn Kilometer Luftlinie vom Marktplatz, vier Kilometer von der Stadtgrenze entfernt, befindet sich ein echter Nadelwald von acht Quadratkilometern Fläche, das Staatsforstrevier Harth. Der Name bedeutet soviel wie Weidewald.
Die Harth, Leipzigs Stolz und meistgewähltes Ausflugsziel – jede Leipziger Schulklasse tobt sich hier einmal wenigstens im Jahr aus, – liegt auf einer diluvialen Halbinsel zwischen den kilometerbreiten Talauen der Elster und Pleiße, die sich noch südlich der Stadt Leipzig vereinen und als breiter Auwaldstreifen die westlichen Vororte von dem eigentlichen Stadtkern scheiden. Die diluviale Tafel erhebt sich etwa fünfzehn Meter über die Auen und erreicht [334]innerhalb der Harth im Südwesten ihren höchsten Punkt mit 133 Meter, an der Straße südlich Prödel liegt die tiefste Stelle mit 122 Meter. Die geringe Erhebung über den Grundwasserspiegel hat genügt, hier einen typischen Trockenwald, eine kleine Heide entstehen zu lassen, der allerdings alle dünenartigen Bodenwellen völlig fehlen. Die Eigenart der diluvialen Bodendecke hat diese Heidebildung noch begünstigt.
Den Boden der Harth bildet eine sechzig bis hundert Zentimeter dicke Lößschicht, ein durchaus gleichförmiges Gebilde, dem Geschiebe fast gänzlich fehlen. Dieser Löß liegt über lockeren und daher leichtdurchlässigen altdiluvialen Flußschottern. So war es möglich, daß durch Auslaugung der feinen Bestandteile und ihre Wegführung nach unten eine Decke von sandartigem Habitus übrig blieb, die, physikalisch betrachtet, wohl einen guten Boden darstellt, aber [340]bei rund fünfundachtzig Prozent Kieselsäure doch recht arm an Nährstoffen ist. Sandliebende Pflanzen werden sich hier wohlbefinden und so entstand ein echter Heidewald mit Kiefern, Fichten, Lärchen und Birken; den Boden besiedeln Heidekraut und Heidelbeeren, Farne und Maiblumen, die der Leipziger natürlich weit mehr schätzt als den Knoblauch, der ihm zuzeiten die schönen Auenwälder fast vergällt.
Im Gegensatz zur feuchten, nebel- und mückenerfüllten Aue stellt die Umgebung der Harth ideales Siedlungsgelände dar. Das mag schon immer so gewesen sein, denn rings im Umkreis weisen Erdfunde, in der Harth selbst der Rennstieg, Wallanlagen und Brandgräber mit Aschen- und Knochenresten (Bronzezeit?) auf eine vorgeschichtliche Besiedlung hin. Auch die Siedlungen der geschichtlichen Zeit haben sich aus der Gefahrenzone des Überschwemmungsgebietes und vor seinen kalten Nebeln hinaufgeflüchtet auf das diluviale Hochplateau. In engem Kreise schließen Gaschwitz, Debitz-, Groß- und Probstdeuben, Stöhna, Zeschwitz, Zwenkau, Prödel, Zöbigker und Großstädteln die Harth ein. Es ist gar kein Zweifel, daß ihre ackerbautreibende Bevölkerung in früheren Zeiten der Harth manchen Quadratmeter Boden abgerungen hat, denn der Heideboden reicht viel weiter, als sich heute die Harth erstreckt. Sie war darauf angewiesen, dort ihren Pflug anzusetzen, denn die Aue eignete sich nur für Wiesenkultur. Alle diese Orte haben sich bis heute frei von Industrieunternehmungen gehalten, und kein giftiger Qualm, kein ohrenbetäubender Lärm belästigt hier den Erholung suchenden Menschen. Die meisten der Orte wußten die Vorzüge ihrer Lage wohl zu schätzen und hoben sie durch vorzüglich ausgebaute Straßen und mustergültige Beschleusung. Wohlgepflegte Wege führen von all diesen Orten hinüber zur Harth, und Gaschwitz, Deuben und Zwenkau schieben sich heute schon mit Villenkolonien dicht an sie heran.
Alles in allem, die Harth ist das Ideal eines natürlichen Großstadtgrünfleckes. Die Eisenbahn hat die Bedeutung dieser Tatsache voll erfaßt und bringt die Ausflügler der Altstadt, wie auch der östlichen, südlichen und westlichen Vororte vom Hauptbahnhof, vom Schönefelder, Stötteritzer, Gautzscher und vom Plagwitzer Bahnhof her Sonn- und Wochentags mit vierundfünfzig Zügen heran, und von Gaschwitz, Deuben, Großstädteln, Böhlen oder Zwenkau mit siebenundfünfzig Zügen bei einer Fahrzeit von rund zwanzig Minuten wieder in die Großstadt zurück. Bis zum Gaschwitzer Bahnhof, dessen Verkehr dem einer Großstadt wenig nachsteht, ist die Strecke viergleisig ausgebaut, und die neuzeitlich ausgestattete Bahnhofsanlage ermöglicht auch die glatte Abwicklung des Feiertagsverkehrs, der durch Sonderzüge gewöhnlich noch eine Steigerung erfährt.
Eine der besten Autostraßen Leipzigs führt über Connewitz, Gautzsch, Zöbigker, Prödel geradlinig zur Harth, und über Knauthain, Eythra, Zwenkau sowie Ötzsch, Städteln, Gaschwitz ist die Zufahrt im Auto nach der Harth ebenfalls günstig.
Der Hauptvorteil der Harth gegenüber anderen Nadelwäldern in Leipzigs weiterer Umgebung liegt darin, daß sie durch Fußgänger auf schattigen, staubfreien [344]Wegen fast von allen Teilen der Stadt aus zu erreichen ist, ohne daß man dabei vom Groß- und Schnellverkehr belästigt wird. Vom Westen und Süden der Stadt aus kann man ohne großen Umweg in der Elsteraue über Lauer, Cospuden, Eythra, Zwenkau oder vom Osten aus in der Pleißenaue über Lösnig, Dölitz, Markkleeberg, Crostewitz, Gaschwitz zur Harth gelangen. Die Karte vermöchte dieses weitverzweigte Wegenetz doch nicht vollständig wiederzugeben, darum wurde gar nicht erst der Versuch gemacht, um den Eindruck der Geschlossenheit der Auen zwischen Stadt und Harth nicht zu verwischen.
Schon auf der Wanderung zur Harth findet der Naturfreund vieles, was sein Herz erfreut, breite schattige Wege durch den hochstämmigen Auenwald oder enge verschlungene Pfade durch Weiden- und Erlengebüsch, ständig wechselnde Bilder längs der zahlreichen Wasserläufe, lauschige Plätzchen an stillen, von Wasserlinsen überzogenen Altwässern, breit hingelagerte Ziegeleien inmitten blumiger Wiesen, in entlegenen Talwinkeln und Flußschleifen verträumte alte Wassermühlen und efeuumsponnene Herrenhäuser hinter halb ausgetrockneten Schutzgräben. So gelangt man auf immer neuen, immer schönen Wegen in zwei, drei, höchstens vier Stunden hinaus zur Harth. Und nun hat man den doppelten Genuß. Der Laubwald ist reizvoll, es ist doch aber immer wieder etwas Eigenes um den Nadelwald in seiner herben, straffen Schönheit. Kerzengerade streben Fichten und Kiefern zum Himmel empor, in geraden Reihen, Soldaten gleich, wies ihnen die sorgende Hand des Försters den Platz. Gradlinig ziehen Schneisen und Wege dahin, weite Durchblicke gewährend, die dunklen ernsten Massen gesäumt von lichten, freundlichen Birken und Lärchen.
Mag an den Pfingstsonntagen die Harth noch so stark von Tausenden und Abertausenden besucht sein – »hier ist des Volkes wahrer Himmel« – der Kundige findet immer noch ein ruhiges, friedliches Plätzchen in verschwiegenem Gebüsch und vergißt für einige glückliche Stunden das Großstadtgetümmel und ruht und träumt, daß kluge Menschen und ein weitblickender Staat aus diesem unersetzlichen Kleinod einen Naturschutzpark gemacht hätten, den keine frevle Hand berühren darf und wenn das mächtigste Braunkohlenflöz der Erde darunter läge. – Ein schöner Traum, aber vielleicht wird er doch noch Wirklichkeit, wenn auch die Gefahr groß ist, die der Harth vom Staatlichen Braunkohlenwerk Böhlen her droht.
Von Richard Schlegel
Vergehen und Werden, Unbeständigkeit und Wechsel sind die ehernen Gesetze, denen sich alles Naturgeschehen vom »ersten Schöpfungstage« an beugt. Und dieser Wechsel im Aufbau unseres Planeten prägte in langen erdgeschichtlichen Epochen die reich differenzierte Pflanzen- und die mit ihr in innigster [345]Wechselbeziehung stehende Tierwelt, deren Zahl sich in Legionen verliert. Der Wechsel in der Vergangenheit rief der Vielgestaltigkeit der Lebewesen sein Werde!, und der Wechsel in der Zukunft beugt sie wieder unter seine zwingende, umformende Gewalt. Der Wechsel in Bodenbeschaffenheit und Klima nagte an der Starrheit der Art und schuf in den Rassen Abwechselung und Vielgestalt. Wie wirkt aber der Wechsel auch in geschichtlich absehbaren Zeitabschnitten noch heute verändernd und umgestaltend auf die uns umgebende Lebewelt? Das zu verfolgen, soll hinsichtlich einer scharf umrissenen Tierklasse, der Klasse der Vögel, der Zweck meiner kurzen Ausführungen sein, soweit dies auf engbemessenem Raume möglich ist. Zu Untersuchungen nach dieser Richtung bietet gerade ein Lebensraum mit einer Millionenstadt, wie sie annähernd Leipzig ist, im rastlosen Wechsel des Werdens und Veränderns die denkbar beste Gelegenheit. Ja, fordert sie den Natur- und Heimatfreund, der jahrzehntelang nicht achtlos am lauten Herzschlag des Naturgeschehens auch inmitten des hastenden Räderwerkes einer Großstadt vorüberging, nicht geradezu zu solchen Vergleichen heraus? Zwar dürfen wir nicht erwarten, daß in so kurzen, übersehbaren, am Leben des Menschen gemessenen Zeitabschnitten sich die Veränderung der Umwelt auch morphologisch und physiologisch im Vogel widerspiegelt, solche Umformung mißt man mit Meilenmetern und Millionenjahren; sie finden nur in biologisch-ökologischen Faktoren sichtbaren Ausdruck. –
Die lawinenartig wachsende Zunahme der Bevölkerungszahl in der Vorkriegszeit forderte gebieterisch Neuland für Siedlungszwecke. Wo einmal goldene Ähren im Winde nickten, und frischgrüne, bunt durchwirkte Wiesenflächen die Häusermauern malerisch säumten, da machen sich neue Straßen breit und greifen weit hinein in die einst ländlich stille Landschaft, wo der Pflug friedlich seine Furchen zog. Damit im Zusammenhange steht, daß die Wellen des Großstadtverkehrs weit hinaus in ländliche Gefilde schäumen, auf die ehemals Ruhe und Frieden ihre Fittiche breiteten. Verödet und entheiligt vom Tritt und Lied naturfremder Wanderscharen liegen die Gefilde, wo einstmals unser stolzester und ansehnlichster Vertreter der deutschen Vogelwelt, der Großtrappe, in reicher Besiedlung heimatete und bis in Stadtnähe heran dem Brutgeschäfte obliegen konnte. Nur noch ganz sparsame Reste dürften es sein, die uns in südwestlichen und nördlich-nordöstlichen Gebieten, nahe der preußischen Landesgrenze, erhalten geblieben sind. Wir wünschen den Bestrebungen des sächsischen Heimatschutzes von Herzen Erfolg bei seinen Bemühungen um Erhaltung dieses vaterländischen Naturdenkmals ganz hervorragender Art. –
Noch in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erstreckten sich, vom hinteren Rosentale an, über Gohlis, Möckern und Wahren hinaus ausgedehnte Ausstichsümpfe und Lachengebiete mit interessanten feuchtigkeits- und wasserliebenden Pflanzengemeinschaften, die einer ebenso interessanten und vielseitigen Lebewelt von der Amöbe bis zur Wasserspitzmaus in lückenloser Aufstiegreihe die Daseinsbedingungen schufen. Auf diesen wahrhaft klassischen [346]Stellen, nun ausgefüllt mit allem Unrat der Retorte Großstadt, baut gegenwärtig der Schrebergärtner Salat und Sellerie. Hier »erfreuten« sich einst Höckerschwan, Zwergrohrdommel, Knäkente, Blaukehlchen und allerlei heimliches, lichtscheues Rallenvolk ungestörten Daseins. Wiesen- und Gartengelände wurden gewonnen, aber die Mücken leben dort scheinbar alle noch, und Höckerschwan und Blaukehlchen sind aus der Liste Leipziger Brutvögel zu streichen. Andere Stellen gleicher Beschaffenheit, beispielsweise die Luppensümpfe bei Gundorf, verlanden mehr und mehr. Wo man noch im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts dort auf den Schlammbänken und Seichtwasserstellen zur Zugzeit allerlei artenreiches Stelzvogelvolk anzutreffen die sichere Aussicht hatte, wetzt zwar noch Bläßhuhn und knärren die Entenerpel, aber Reichtum und Vielseitigkeit gehören der Vergangenheit an. Die fortschreitende Entwässerung des Geländes überhaupt war einer der einschneidendsten Faktoren in der veränderten Physiognomie der Vogelwelt des Leipziger Gebiets. Vom Nisten des weißen Storches berichten uns Vogels Annalen aus früheren Jahrhunderten, und selbst aus den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sind uns noch drei Stadtbrutstellen bekannt. Heute sind sämtliche Niststellen der näheren und weiteren Umgebung verlassen, und selbst bis zur Elbe hin war 1924 Malkwitz, östlich der Mulde, der einzige Ort überhaupt, der noch eines Nistpaares sich rühmen durfte. In einer im Druck erschienenen Broschüre, Verlag von Max Weg, Leipzig, über die Vogelwelt Nordwestsachsens, habe ich aller uns bekannt gewordenen Niststätten eingehender gedacht. Wer sich näher für das Werden und Verändern der Vogelwelt dieses Gebiets interessiert, den verweise ich auf die dortigen Ausführungen. –
Ein Zeitgenosse Chr. L. Brehms, der alte Leipziger Ornithologe Heinrich Kunz, berichtet uns, daß in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf der sogenannten Kuhweide, einem sumpfigen, mit Hecken durchsetzten Wiesengelände an der Frankfurter Straße, der graurückige Würger so häufig genistet habe, daß die Sammler die Eier überhaupt nicht mehr beachteten, und daß auf Schimmels Teich – in der Gegend des Reichsgerichts – u. a. auch die niedliche kleine Rohrdommel und die große Rohrdommel gebrütet haben. Heute ist der graue Würger wohl schon allenthalben in deutschen Gebieten als Seltenheit zu werten. Den Schönefelder Rohrteich kannte Kunz als Brutort der Rohrweihe und Sumpfohreule, Arten, von denen es heute wie im Märchen heißt: »Es war einmal«. Teils ohne ersichtlichen Grund, teils des Eierraubs wegen, wie behauptet wird, sind die Lachmöwenkolonien der Rohrbacher, Haselbacher und Eschefelder Teiche sowie die Brutgebiete der Fluß- und Zwergseeschwalbe im Muldengebiete bei Wurzen bzw. an den Rohrbacher Teichen gegenwärtig völlig erloschen. Hinsichtlich des Wachtelkönigs sei erwähnt, daß gegen Jahrzehnte zurückliegende Zeiten eine stetige und sichere Abnahme zu verzeichnen ist. Ein jahreweises Aufleben des Bestandes kann die Tatsache zwar verschleiern, aber nicht entkräften. Das einstige Vorkommen erstreckte sich ausnahmslos [347]auf die ausgedehnten üppigen Wiesenflächen der heimatlichen Fluß- und Bachläufe, sowie der grün umrahmten Teich und Lachengebiete, ohne in den mehr trockenen Gebietsstrichen des Nordens und Ostens ganz zu fehlen. Selbst ganz stadtnahe Wiesen beherbergten den Wiesenknarrer jahrelang und nicht selten. Ich muß ferner als äußerst bemerkenswerte Tatsache darauf hinweisen, daß nach dem Berichte des zuverlässigen Oberförsters Fritzsche in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auch Wodans Vogel, der reckenhafte Kolkrabe, im nahen Harthwalde Heimatsrecht genoß. Leider fehlen eingehendere Aufzeichnungen hierüber, aber zwei Belegstücke im Zoologischen Universitätsmuseum aus Connewitzer- und Kleinzschocherschem Gebiet zeugen noch von dem Märchen aus vergangenen Zeiten. Bei der Sippe der Schwarzkittel angekommen, darf nicht unerwähnt bleiben, daß die letzten städtischen Saatkrähenkolonien am Eingange zum Rosentale und an der nördlichen Promenade 1895 bzw. 1908 erloschen. Von den weiteren einstigen zahlreichen Kolonien der Leipziger Flußgebiete besteht gegenwärtig nur die bei Kahnsdorf-Zöpen noch, vielleicht die einzige des engeren Vaterlandes. Auch unsere schmucke, einst in Stadtnähe brütende Elster ist selten geworden und scheinbar noch völliger Vernichtung preisgegeben; schade um den reizenden Burschen. Mir ist sie unter solchen Umständen auch als Waidmann heilig. –
Was das ritterliche Geschlecht der gefiederten Räuber betrifft, so bleibt die tief bedauerliche Tatsache bestehen, daß es mit ihrem Bestande tief nach abwärts gegangen ist. Heute muß schon ein brütendes Bussardpärchen als seltenes Beobachtungsobjekt gewertet werden. Wie arm ist doch die Natur geworden, wenn wir der Zeiten gedenken, da der Fischadler nach Ludwig Thienemann noch Brutvogel »in der Nähe Leipzigs« war und der König der Lüfte, der braune und rote Milan, im Landschaftsbilde stolz seine Kreise zog, dahin, unwiederbringlich; »ein Loch in der Natur« schließt sich nur in den seltensten Fällen wieder. Ich kann an dieser Stelle leider nur andeutungsweise berichten und muß wiederum auf die bereits erwähnte Broschüre verweisen. –
Noch dürfen wir Leipziger in unserem landschaftlich reizvollen Niederungsgebiete uns gewiß einer reichen, sangesfrohen Kleinvogelwelt erfreuen, aber auch an ihr sind mancherlei schädigende Einflüsse nicht spurlos vorübergegangen. Die Uferschwalbenkolonien peripher gelegener Stadtteile gehören seit langen Jahren schon der Vergangenheit an; sie wurden, auch weniger an Individuenzahl, in weiter abseits gelegene ländliche Bezirke gedrängt. Der rotrückige Würger, der einstige Hauptbrutpfleger des Kleinvogelmörders Kuckuck, ist dort infolge seines Pflegeramtes schon mehr ein Seltling geworden, und Cuculus sucht nach neuen Ammenvögeln. Von den einstigen wenigen Brutstellen des prächtigen Rotkopfwürgers ist uns nur die Aufzeichnung im Schrifttum geblieben. Jammer und Empörung greifen mir gleichzeitig ans Herz, wenn ich nun auch der Sängerkönigin Nachtigall gedenken muß. Wohin sind die Zeiten, da wir ihrem Schlage noch in Stadtnähe und selbst in städtischen Grünlandstellen andächtig und ergriffen lauschen und uns rühmen durften, das reichstbesiedelte Nachtigallengebiet des [348]Vaterlandes unser Eigen nennen zu können! Und alle dicht bebuschten Auen der Flußläufe klangen im Wonnemonat wieder vom Jubel der zahlreichen Sänger. Vielfach fielen das Buschholz und die Heckensäume des Waldes, und Raubtier homo insipiens vollendete, was dem tierischen Großstadtraubwild noch entgangen war. Selbst die städtischen Anlagen wurden einer rücksichtslosen, gemeinen Fängerzunft tributpflichtig. »Der Moor hat seine Schuldigkeit getan« in Stadt und Stadtnähe, aber das tückische Schlaggarn lauert weiter draußen, wo die Welt noch »vollkommener« ist im königlichen Sänger. Wie lange, bis auch dort nur noch das rauhe Lied »des Raben« durch die Öde hallt. Es ist erschreckend rückwärts gegangen mit dem Bestand unserer Nachtigall. Selbst von den nordwestlichen Gegenden der Elsteraue, wo man vor etwa fünf Jahren noch den Sänger in erfreulicher Zahl verhören konnte, lauteten die letztjährigen Berichte niederschmetternd und hoffnungslos. –
Aber manche der verändernden Faktoren in der Zusammensetzung unserer Ornis zeigen neben dem hemmenden Einfluß auch einen fördernden Wert. Wo die Hand des Menschen ändernd im Landschaftsbilde eingreift, da entzieht sie gleichzeitig gewissen Arten die Daseinsbedingungen. Der Flucht der ursprünglichen folgt das Nachrücken anderer Arten, denen mit der Veränderung ein günstiger Lebensraum geschaffen wurde. In meiner kleinen Schrift: »Die im Stadtgebiet Leipzig brütenden Vögel« habe ich, weiter ausgreifend, versucht, die einem gewissen zentripedalen Trieb folgenden Arten namentlich aufzuführen und die Gründe ihrer Umformung von scheuen Wald- in zutraulichere Stadtbrutvögel darzulegen. Breite, mit Baumreihen besäumte Straßenfluchten, parkartige Kinderspiel- und Schmuckplätze, Promenaden mit altehrwürdigen Baumriesen, Schreber- und Familiengärten, Berufsgärtnereien, Lagerplätze, Villen- und Institutsgrundstücke mit ansehnlichen Garten- und Parkanlagen und stillgelegte oder noch benutzte Friedhöfe in mannigfacher Abwechselung, bringen buntfarbige Gliederung und Vielgestalt in die kalte Starre der Häusermassen. »Leipzig ist so nicht nur eine grün umgürtete, sondern auch eine von Grün durchwirkte Großstadt, über derem lauten Pulsschlag des hastenden Lebens der Wald stellenweise seinen grünen Mantel breitet.« Als natürliche Folge davon hat nun, von den günstige Nahrungs- und Fortpflanzungsmöglichkeiten bietenden Grünflächen angezogen, sich eine artenreiche Kleinvogelwelt hier seßhaft gemacht. In einer Arbeit über die Brutvögel der Friedhöfe (Mitteil. Sächs. Heimatsch. X) konnte ich etwa vierzig, in der Abhandlung über die Brutvögel der Stadt über sechzig Arten aufführen. Ich kann mich im Rahmen dieser Arbeit wiederum nur auf das Auffälligste und Bemerkenswerteste beschränken. – Das Vordringen der Ringeltaube war in jahrzehntelang zurückliegender Zeit vereinzelt und selten; erst während der letzten Jahre wird die Verbreitung allgemeiner und häufiger. Es gibt an gewissen Stellen kaum eine mit höheren Baumreihen bestandene Straße, kaum einen mit altem Baumbestand bestockten Garten, insbesondere in Wald- und Parknähe, wo die Ringeltaube nicht auch ihr leichtgefügtes, durchsichtiges Nest ins Astwerk der Kronen setzt. Der Turmfalk – nomen est omen – betreut [349]auf verschiedenen Stadtkirchtürmen schon seit Jahrzehnten die zahlreichere Nachkommenschaft, und im vergangenen Jahre wurde mir auch die Gewißheit, daß auch die Schleiereule, das zwar unsichtbare, aber zu gewissen Zeiten um so lauter hörbare Wahrzeichen ländlicher Kirchtürme auf dem Turme einer Vorortskirche zwei Gelege zeitigte. Dort, wo die Grünanlagen auch Baumbestände vorgerückten Alters zeigen und zu Höhlenbildung neigen, siedelt sich auch gern das kleine Käuzchen an. Die gleichen Stellen beziehen auch zwei Zimmerleute unserer Wälder gern, der kleine und große Buntspecht, insbesondere dann, wenn die Ernährungsfrage durch naheliegende Waldteile günstig beeinflußt wird. Mit dem fortschreitenden Alter städtischer Baumbestände treten dieselben in erfreulichen Wettbewerb zum Walde. Ein charakteristischer Sänger unserer Auwälder, der Trauerfliegenfänger, rückt in vereinzelten Fällen aus waldnahegelegenen Gärten oder aus dem Walde selbst zentralwärts vor, und der tropisch-schöne, im Walde recht scheue Pirol, ist als Parkbrutvogel durchaus keine ungewöhnliche Erscheinung mehr. Mit 1920 etwa breitet sich der überall nordwärts vordringende Girlitz von den Friedhöfen über das gesamte städtische Grünland strahlenförmig aus. Die Anzeichen mehren sich, daß der Gimpel vielleicht in absehbarer Zeit schon in die Liste der Leipziger Brutvögel eingereiht werden darf. Die vereinzelten Fälle seines sommerlichen Vorkommens oder ein schüchterner Brutversuch in einer Gartenkolonie des Südens lassen jedoch noch nicht erkennen, ob die Vögel etwa entflogen waren. Es besteht ebenso die Möglichkeit, daß sie als die vordersten Etappen aus westlich gelegenen Brutrevieren gewertet werden müssen. Die Gebirgsstelze ist fürs Gesamtgebiet gegenwärtig ein ziemlich häufiger Flachlandsvogel geworden, und selbst innerhalb des Häusermeeres an Stellen, die seines Lebenselementes, des Wassers, nicht entbehren, Brutvogel. Mit der Umbildung scheuer Wald- in zutrauliche Stadtvögel wird die Amsel wohl am zeitigsten mit den Reigen eröffnet haben. Sie dürfte schon die Häufigkeit des Spatzen erreicht haben, wenn der Schrebergärtner nicht Grund hätte, ihre vorbildliche Fruchtbarkeit durch Gegenmaßnahmen zu neutralisieren und ihren Bestand auf ein erträgliches Maß zu beschränken. Von der Singdrossel wissen wir ziemlich genau, wann sich die Umbildung zum Stadtvogel vollzog; der Zuzug zur Stadt wird etwa von 1910/12 an allgemeiner und häufiger. Der Sumpfrohrsänger ist im Außengebiet von Leipzig als Getreidefeldsänger überall verbreitet, und schon können wir die ersten bescheidenen Versuche buchen, daß der Teichrohrsänger an peripheren, stark bebuschten Stellen, auch wenn sie des Wassers entbehren, als Brutvogel auftritt. Dasselbe gilt von der Sperbergrasmücke, die, im allgemeinen nur in wasser- und dornbuschreichem Flußauengelände nistend, seit einigen Jahren sich auch in trockenem, östlichem Buschgebiet verbreitete. Das kleine Volk der Laubsänger ist in allen drei Arten, besonders im Fitis- und Weidenlaubsänger auf städtischen Friedhöfen und in größeren Gärten durchaus keine Seltenheit mehr. Der Gartenrotschwanz, im Walde ein ausgesprochener Höhlenbrüter, nimmt lange schon in städtischen Gärten [350]auch mit Mauernischen, Laubenwinkeln und Epheugerank als Nistplatz vorlieb.
Schließlich entbehrt es sicher nicht eines gewissen Interesses, wenn ich am Schlusse erwähne, daß im Gesamtgebiet der Leipziger Flachlandsbucht außer einigen, jedenfalls entflogenen, beziehentlich nicht sicher nachgewiesenen Vögeln, bisher zweihundertneunundsechzig Arten nachgewiesen werden konnten, von denen etwa einhundertdreißig im Gebiet brüten. Sieben Arten sind gegenwärtig jedenfalls aus der Liste der Brutvögel zu streichen. Im Vergleiche zur Gesamtbesiedlung des Vaterlandes bleibt unser Gebiet um etwa einunddreißig Arten gegen die vaterländische zurück, ein erfreulicher Reichtum, der uns und kommenden Geschlechtern erhalten bleiben möge.
Dr. Paul Zinck
In einer Stadt des Welthandels, der Wissenschaft und Musik, wie Leipzig, in der nicht nur Angehörige aller deutschen Stämme sich niedergelassen haben, sondern auch Glieder aller europäischen und auch außereuropäischer Nationen sich ein Stelldichein geben, Volksbräuche und andere volkstümliche Werte zu suchen, scheint auf den ersten Blick ein törichtes Unterfangen zu sein, und doch haben sich in das internationale Getriebe der modernen Meßstadt hinein zwei Volksfeste gerettet, die von einem großen Teile der Bevölkerung noch gefeiert werden und einen lokalen Charakter an sich tragen: das eine, das Johannisfest, heute nur noch ein ernster Tag, ein Blumenfest der Toten; das andere, der Tauchaer Jahrmarkt, kurz, »der Tauchsche«, ein Fest überschäumender Lust der Jugend. Vielleicht dürfte es sich um der Fernerstehenden willen doch lohnen, der Entwickelung beider Feste in großen Umrissen nachzugehen.
Das Johannisfest heute! Ein Blumenhimmel tut sich vor unseren Augen auf. Wart ihr schon am Johannismorgen auf Leipzigs Friedhöfen? Da ist kein Tod, da flutet wechselvolles Leben! Selbst die Sonne hat nicht lange Ruhe. Schon vor vier Uhr morgens ist sie erwacht. Mit blankgeputzter, glänzender Scheibe steht sie am dunkelblauen Morgenhimmel, und bald bestrahlt sie die festlich geschmückten Scharen, die durch die blühenden, duftenden Rosengärten gedankenvoll wallen, mit Kränzen und Sträußen und Girlanden beladen. Frische Thomanerstimmen bringen mit ernsten, von Meister Bach gesetzten Chorälen großen Männern Leipzigs, die man zur letzten Ruhe bettete, den Zoll der Dankbarkeit, und in ihren Gesang mischt sich froher Finkenschlag und Amselsang. Und alle halten sie Zwiesprache mit den lieben Dahingeschiedenen, die Mutter mit dem Liebling, den eine tückische Krankheit dahinraffte, der Sohn mit dem Vater, der ihm noch lange hätte ein treuer Berater sein können, der Freund mit dem Freund, und wehmutsvoll umstehen Gatte und Kinder das Grab der Guten, die des Hauses Mutter war. Da ist kein Tod! Der Zauberstab des jungen Sommers hat alles zu einem neuen Leben erweckt, [351]zu einem stillverklärten Leben der Erinnerung, umstrahlt von farbiger Blumenpracht, umweht von süßem Blütenduft. Schon lange, mehr als hundert Jahre, feiert Leipzig am Tage Johannis des Täufers, dem sein erster großer Friedhof geweiht ist, dieses sinnige Blumenfest der Toten, während draußen das rasch pulsierende Leben der regen Handels- und Meßstadt tost.
Aber auch in dieses Fest mischten sich ein halbes Jahrhundert lang weltliche Töne, die nichts zu tun hatten mit dem Gedenken an die Dahingeschiedenen. Am 24. Juni 1833 wurde das Johannistal eingeweiht, eine Gartenkolonie, die zur Zeit der Baumblut in ein weißes Blütenmeer verzaubert ist, vormals eine öde Sandgrube der Ostvorstadt, die durch die Tatkraft des Stadtrats Dr. Seeburg in eine Erholungsstätte für Hunderte von Mitbürgern verwandelt wurde. Die Einweihung wurde mit der stillen Gedächtnisfeier auf dem Friedhofe verbunden; die Gärtchen im Johannistale waren alle bunt geschmückt, das »Sandtor«, durch das man das Tal betrat, die beiden Brunnen und das Doppelkreuz am Pulverhäuschen mit Girlanden und Kränzen geziert. Kindergesänge, Musik und Ansprachen wechselten miteinander ab. In den kommenden Jahren genügte aber diese schlichte Feier den Zuschauern nicht mehr, die ins Johannistal wallfahrteten; sie wollten derbere Genüsse haben. Unter die Kränze und Blumengewinde und die in den Sachsenfarben lustig flatternden Fähnchen der Gärten drängten sich bald Schankzelte und Verkaufsstände; Gesang und Choralmusik wurden von Gassenhauern vertrieben, vom frühen Morgen bis zum späten Abend huldigte man dem Biertrinken und Bratwurstessen, und bald blieb es nicht mehr bei kleinen Ausschreitungen, es kam zu Roheiten und Gemeinheiten. Fünfzig Jahre war das Volksfest gefeiert worden, da machte ihm der Rat ein Ende, indem er am 18. Juni 1883 beschloß, die Erlaubnis zur Errichtung von Schankzelten und Verkaufsständen am Johannistage nicht mehr zu erteilen.
Zwei eigenartigen, alten Bräuchen huldigte man aber bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein: Am Eingange des Johannistales verkauften Handelsfrauen Glückshändchen, die Wurzeln einer nachts vorher ausgegrabenen Orchidee mit fingerförmigen Nebenwürzelchen, die ihren Trägern Glück bringen, vor allem die Taschen wieder füllen sollten, und im alten Johannishospital schmückte man das Johannismännchen, eine Holzfigur mit dem Lämmchen im Arm, die wahrscheinlich Johannis den Täufer darstellen sollte, mit einem weißen Hemd mit Krause und einem Blumenkranze, stellte wohl auch einen Johannistopf mit heilkräftigen Kräutern und Blumen daneben. Dieser zweite Brauch reichte vielleicht Jahrhunderte zurück, in eine Zeit, in der man den Johannistag in Leipzig ganz anders beging als heute. Im Jahre 1786 verbot der Rat der Stadt, das Johannismännchen auszustellen und am Gesundbrunnen Kaffee zu kochen, und machte so Bräuchen ein Ende, die wohl gar in vorchristlicher, altgermanischer Volksanschauung von geheimnisvollen Kräften in der Natur wurzelten, die aber damals schon nicht mehr verstanden wurden und deshalb Unsitten und Roheiten anderer Art Platz gemacht hatten. Am Morgen des Johannistages strömte damals, wie der Verfasser des Schriftchens »Tableau [352]von Leipzig« (Benjamin Heidecke) aus dem Jahre 1783 erzählt, jung und alt zum Grimmschen Tore hinaus zum Johannishospital. Hier begaffte man das Männchen, hörte einer Predigt zu und wanderte dann weiter hinaus zum Gesundbrunnen oder Marienborn beim heutigen Napoleonstein. Viele tranken von seinem frischen Wasser, ja sie füllten wohl – ähnlich wie in der Osternacht – schweigend eine Flasche und nahmen sie mit sich nach Hause; die jungen Mädchen wuschen sich mit dem Wasser, weil es schön machen sollte. Die meisten Leute aber zogen zu Fuß, Pferd und Wagen hinaus zum Gesundbrunnen, ließen sich dort den mitgebrachten Kaffee kochen, schmausten Kuchen und Kirschen, schmückten sich mit Blumen, sangen, sprangen und tanzten und trieben in den nahen Feldern allerlei Unfug, der schließlich in grobe sexuelle Unsittlichkeiten ausartete. Der Gesundbrunnen oder Marienborn soll am Johannistage des Jahres 1441 den Aussätzigen des Johannishospitals von der Jungfrau Maria zur Genesung erschlossen worden sein[6].
So reichen die letzten Wurzeln der Johannisbräuche bis in das späte Mittelalter zurück. Wird es mit dem »Tauchschen« auch so sein? Heutzutage könnte man fast der Meinung sein, daß enge Beziehungen zwischen den Jagdgefilden der Rothäute und diesem Volksfeste der Jugend bestehen. Schon tagelang vor dem ersten oder zweiten Septembermontag, an dem in Taucha Jahrmarkt abgehalten wird, merkt man in den Knabenklassen der Volksschule, daß »große Dinge« in der Luft liegen, und kaum ist der Unterricht geschlossen, so ziehen auch schon die ersten »Indianerhorden«, zum Teil halb nackt, mit roter Paste bemalt, mit Federn geschmückt, mit allerhand Waffen ausgerüstet, durch die Straßen; Kampfgeheul erschallt, und nicht lange dauert es, so liegen die »feindlichen Stämme« einander in den Haaren. Hier und dort tauchen sie blitzschnell auf und verschwinden wieder. Einmal hat eine solche Horde ein Karussell auf dem Meßplatz im Sturm besetzt und den Besitzer »gezwungen«, ihr kostenlos einen Ritt auf seinen feurigen Rossen zu gestatten. In ganz ergötzlicher Weise hat H. Tetzner in einer »Leipziger Straßenjungengeschichte im Leipziger Straßenjungenjargon«: Die Sieger vom Tauchschen (Leipziger Kalender 1911) dieses Treiben geschildert. Mit Einbruch der Dämmerung wird das Leben auf den Straßen immer bunter. Hier und da tauchen bunte Laternen auf, von Kindern in farbigen Papierkleidern getragen; allerlei vermummte Gestalten, Knaben in Mädchen- oder Frauenkleidung, Mädchen in Männerkleidern, Rotkäppchen und andere Märchengestalten beleben das wechselvolle Straßenbild; Feuerwerkskörper werden abgebrannt; Buntfeuer beleuchtet magisch hier und dort die Gassen. So wunderschön ist es, daß am nächsten Tage noch einmal »Lumpen-Tauchscher« gefeiert wird. Und kein Kind denkt dabei an das Nachbarstädtchen Taucha, das den Anlaß zu all dieser Freude gibt. Vor achtzig Jahren und auch die folgenden Jahrzehnte noch war es anders. Da spielte sich das Volksfest nur in den östlichen Vorstadtdörfern [353]Reudnitz, Anger-Crottendorf und Volkmarsdorf und in Taucha selbst ab. Adolf Lippold entwirft in seinen »Erinnerungen eines alten Leipzigers« ein anschauliches Bild von dem Tun und Treiben, wie es vielleicht um das Jahr 1845 vor sich ging. War es schon früh lebhaft, so zog es doch nachmittags und abends besonders die ganze Leipziger Bevölkerung, alt und jung, in seine Kreise und zeitigte oft so tolle Blüten, daß der Leipziger Rat wieder dann und wann – wie auch heute noch – mit Verboten einschreiten mußte. Die »Elite« des Publikums vergnügte sich in den Gastwirtschaften zum »Bienenkorb« und zur »Goldnen Säge«, das mittlere und untere Volk im »Colosseum«, dem jetzigen »Pantheon«; in den Dörfern draußen waren die uralte Kneipe von »Staudtens Ruhe«, das »Lämmchen«, der »Kleine Kuchengarten« und noch andere jetzt noch bestehende Gastwirtschaften von Zechenden und Schmausenden besucht. An der Straße zwischen Leipzig und Reudnitz war eine Reihe von Ständen mit Masken, Bärten, Schnurren oder Waldteufeln von oft gewaltiger Größe, Pfeifen, Trommeln, Klappern und »Döppertrompeten«, mit buntfarbigen Papiermützen, -hüten, -schürzen, Fächern, Windmühlen, Pritschen und dergleichen aufgebaut; denn alt und jung verkleidete sich, oft in zierlichen Rokokokostümen, als Bauern, Tiroler, Soldaten oder auch als irgendwelche Schreckgestalten, und alle bemühten sich, den Höllenlärm noch zu vergrößern. Der Tumult war oft beängstigend, und noch in den achtziger Jahren war er oft so groß, daß die Straßenbahn nur im Schritt durch die Menschenmenge fahren konnte. Daneben kredenzten »ältliche Heben« in braunen Kännchen Bliemchenkaffee oder Schokolade, und »Wiener Würstchen von Stöpel« dufteten weithin über die Straßen. Nachmittags begannen dann auch die feindlichen Parteien, damals Studenten und Handwerksgesellen, aufzutreten; mit Hänseleien fing es an, mit Schlägereien, blutigen Nasen, zerbrochenen Stöcken und Schirmen und eingetriebenen Zylinderhüten endete es. Oft boten die Dienstmädchen, die im besten Sonntagsstaate, der enganschließenden »Contouche« oder dem weitbauschigen, mit unzähligen Falbeln besetzten Oberrock und der möglichst malerisch drapierten Saloppe, auf den »Reitschulen« fuhren, den Anlaß dazu. Sie kokettierten gern mit den Studenten, die in Pikeschen und Kanonenstiefeln und mit langen mit Quasten und Schnuren geschmückten Pfeifen antraten, und reizten dadurch die Gesellen, die im blauen Staubhemd, dem mit Wachsleinewand überzogenen Zylinderhut, mit dem für die »Walze« ausgerüsteten »Affen« und dem gewaltigen Knotenstock, einer gefährlichen Waffe, erschienen. Einer der beliebtesten Aufzüge der Studenten war der des Bärenführers. Angetan mit möglichst verschossenen Pikeschen, einen roten Fez auf dem Haupte und Peitschen in den Händen, einen Leierkasten, Tambourin und Pickelflöte dabei malträtierend, führten sie ein unglückliches Menschenkind, das sich einige Groschen verdienen wollte, als Bären verkleidet, von Kneipe zu Kneipe und durch die sich quetschende Menge, der bei den Schlägereien gewöhnlich die meisten Püffe bekam. Die Studenten dehnten ihr tolles Treiben auch bis Taucha aus, das auch von anderen Leipzigern an diesem Tage besucht wurde. In zwei- und vierspännigen Karossen, mit Vorreitern, die kostümierten Wichsiers auf [354]dem Bock, zogen Korpsbrüder und Burschenschafter hinaus, um alles auf den Kopf zu stellen. Man sah sie trotzdem nicht ungern kommen, besonders die Gastwirte und die jungen Mädchen. –
Wie ist nun dieses eigenartige Volksfest entstanden, das von einem Mummenschanz und dann wieder einem Maskenscherz der Erwachsenen sich umgestaltete zu einem Licht- und Maskenfest der Kinder?
Ist es die Feier eines Sieges der Leipziger Bürger über die von Taucha? Soll es eine Verhöhnung der Tauchaer sein, weil sie einmal die Messen an sich hatten ziehen wollen, als ihre Stadt größer war als Leipzig? Wustmann erwähnt in seiner Geschichte von Leipzig Taucha nicht unter den Städten, die die Privilegien der Meßstadt ernstlich schädigen wollten, und ein Sohn Tauchas selbst nennt es in einer kürzlich erschienenen Schrift[7] eine heute noch lebendige Fabel, daß Taucha einst viel bedeutender als das benachbarte Leipzig gewesen sei. Die Stadt ist allerdings als Rivalin des markgräflich-meißnischen Leipzig von Magdeburg aus gegründet worden, und Erzbischof Wichmann suchte sie zu einem wichtigen Handelsplatz zu machen; aber schon 1355 kommt sie an die Markgrafschaft Meißen und 1569 gerät sie sogar in unmittelbare Abhängigkeit von Leipzig. Soweit müßte dann mindestens der »Tauchsche« in seinen Anfängen zurückreichen, aber kein alter Leipziger Lokalhistoriker erwähnt den Brauch, auch Joh. Jak. Vogel nicht, der doch gewissenhaft alle alten Bräuche in seinen »Annalen« verzeichnet hat, wenn sie zu irgendwelchen Ausschreitungen Anlaß gaben. Ich kann den Brauch nicht für allzu alt halten, und glaube, daß seine Entstehung sich auf einfache, natürliche Weise erklären läßt. Allerorts pflegt man gern die Jahrmärkte, Schützenfeste und andere Volksfeste benachbarter Orte zu besuchen, weil man meint, sich dort etwas mehr »austun« zu können als zu Hause, und vor allem die Herren Studenten waren jederzeit dazu geneigt. Warum sollten dann die Leipziger nicht auch nach Taucha gehen? Unterwegs blieb mancher Trinkfeste schon in einer der vielen Gastwirtschaften hängen, und schließlich wurde in diesen und ihrer Umgebung mehr geboten, als in der kleinen Stadt, die man gar nicht mehr besuchte. Und Mummenschanz hat man wie bei allen Völkern auch in Leipzig jederzeit gern getrieben, nicht nur um unerkannt der rauhen Wirklichkeit und den Behörden ein Schnippchen zu schlagen, sondern auch aus tieferen, kultischen Gründen: Die heiligen Christspiele – J. J. Vogel nennt sie deshalb larvae natalitiae – arteten ebenso in solchen aus, wie die Spiele der Fastenzeit und die Passionsspiele. Ganz besonders wurde der Mummenschanz in der Fastenzeit aufs ausgiebigste betrieben und zwar mit soviel die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdenden Begleiterscheinungen, daß der Rat besonders im 17. Jahrhundert aller zwei bis drei Jahre das ganze Treiben verbot. Könnte da nicht, da sich das Volk doch einmal im Jahr austoben wollte, als Ersatz für diese Fastnachtsmummereien [355]der »Tauchsche« aufgekommen sein, in dessen Verkleidungen sich – allerdings, wie das bei Volksbräuchen üblich ist, post festum – Zeitmoden und -liebhabereien wie Rokoko, Alpensport, Indianerschwärmerei, in bunter Reihe widerspiegeln.
Nebenher sei bemerkt, daß von allen sonstigen Fastenbräuchen sich nur ein weit verbreiteter, und zwar ganz verblaßt, in die Gegenwart gerettet hat; es ist das »Ascheabkehren« am Aschermittwoch. Bettelkinder laufen heute noch an diesem Tage mit Tannenreisern in die Häuser, um unter Herleiern des Verschens »Asche abkehren, langes Leben, müßt mer och en Dreier geben« Gaben zu heischen. Nur ein anderer in Leipzig noch üblicher Vers
läßt in seiner zweiten Zeile ahnen, daß man es hierbei mit einem uralten Fruchtbarkeitsbrauche, dem Schlagen mit der Lebensrute, zu tun hat.
Wenn ich mich des Raumes wegen in meinen Ausführungen auch nur auf heute noch übliche Volksfeste und -bräuche beschränken möchte, so möchte ich doch noch in Kürze das Leipzig eigentümliche »Fischerstechen« erwähnen, das gewöhnlich am 3. August aufgeführt wurde, wenn dasselbe auch während des Krieges eingeschlafen ist und an allgemeinem Interesse auch schon vor dem Kriege eingebüßt hatte. Wir haben es dabei mit einem der in vielen deutschen Städten beliebten Handwerker- und Zunftfeste zu tun. Es ist sicher eine Nachahmung des im Mittelalter berühmten Ulmer Fischerstechens. Mit einem festlichen Umzuge, der vor dem Hause des Oberfischermeisters zu einer kurzen Ovation Halt macht, wird das Fest eröffnet. Dann geht es zum Teiche – anfangs in Apels, später in Reichels Garten, zeitweilig wohl auch zu dem in der Großen Funkenburg –, wo die Kämpfer die bereitgehaltenen Kähne besteigen, während die alten Herren, die in Frack und Schnallenschuhen und mächtigem Dreimaster dem Zuge voranschritten, mit der Musik und den Gästen auf einem festlich geschmückten Boote Platz nehmen. »Mit hoch erhobener Stange, auf der äußersten Spitze des Kahnes stehend, versuchen nun die jungen Leute, sich gegenseitig ins Wasser zu stoßen. Die Kähne werden je zwei und zwei handgemein, und unter jauchzenden Zurufen der Zuschauer und unter dem Tusch der Musik nimmt bald hier, bald dort ein überwundener Streiter ein unfreiwilliges kaltes Bad. Selbst die unechten Mohren, die im Zuge einen Bären führten, bleiben nicht verschont und steigen – weiß gewaschen wieder aus den Wellen. Einen anderen Teil des Festes macht das Aalfangen aus. Über den ganzen Teich ist eine Leine ausgespannt, an welcher ein lebendiger Aal befestigt ist, um den sich nun die jungen Fischer bemühen. Boot auf Boot gleitet rasch unter der Leine hinweg, und der Reihe nach suchen die Fischer den schlüpfrigen [356]Fisch zu erlangen; nach vielen Mißerfolgen gewöhnlich erst gelingt es diesem oder jenem, das Tier zu erhaschen und sich so zum Helden des Tages zu machen.« Das erste Fischerstechen wurde jedenfalls am 12. Mai 1714 zu Ehren Augusts des Starken, der seinen Geburtstag in Leipzig feierte, gehalten und aufs glanzvollste ausgestattet. Kaufmann Apel hatte sogar Gondelführer aus Venedig kommen lassen. Der König war so entzückt, daß er den Fischern das Recht verlieh, jedes Jahr ein solches Wasserturnier abzuhalten und dabei eine Fahne mit dem kursächsischen Wappen zu führen. Die älteste Beschreibung des Fischerstechens lieferte ein komischer Kauz namens Johann Christian Trömer (pseudonym: Deutsch Francos Jean Chrêtien Toucement) 1717 in poetischer Form und einem wunderlichen »deutsch-französischen Kauder- und Schauderwelsch« à la Riccaut de la Marliniere; sie beginnt:
Wird dieser einzige uns gebliebene Zunftbrauch vergangener Tage wieder aufleben? Auf dem großen Elsterbecken draußen vor dem Frankfurter Tore würde Tausenden Gelegenheit gegeben werden können, ihn sich anzuschauen zum Ruhme der alten »Seestadt« Leipzig.
[357]
Fußnoten:
[6] Vergleiche zum Johannisfeste des Verfassers Buch »Leipzigs Sagen im Spiegel seiner Geschichte« und Ernst Kroker, Das Johannisfest und Johannistal (Leipz. Kalender 1911).
[7] Dr. Uhlemann, Taucha. Das Werden einer Kleinstadt auf flurgeschichtlicher Grundlage aufgebaut. Obersächsische Heimatstudien, herausgegeben von Prof. Kötzschke und Dr. Uhlemann, Heft 2.
Von Franz Ehregott Hauptvogel
Anmerkung: Viele meinen, die obersächsische Mundart, vor allem der Dialekt der Leipziger und Dresdner Gegend, sei wohl imstande, Humoristisches zum Ausdruck zu bringen, zur Wiedergabe ernster Seelenzustände sei diese Mundart aber nicht geeignet. Dazu ist zu sagen: Wohl erscheint der Dialekt Leipzigs und Dresdens, an reinem Hochdeutsch gemessen, manchem klanglich unbefriedigend; das liegt aber daran, daß eben aus ihm, aus der Sprache der meißnischen Kanzleien, das heutige Hochdeutsch herausgewachsen ist und die Mundart ihm so nahe verwandt, daß sie hier und da den Eindruck eines scheinbar »verdorbenen Hochdeutsch« hervorzurufen vermag. Daß es sich in Wirklichkeit um den umgekehrten Prozeß handelt, wissen die meisten nicht. Jedenfalls hat aber dieser Dialekt genau denselben Eigenwert wie jede andere deutsche Mundart und braucht der Muttersprache Fritz Reuters, Klaus Groths, Karl Stielers, Ludwig Thomas und anderer in keinem nachzustehen. So ist es auch immer wieder erfreulich, wenn sich bei uns Dialektschriftsteller finden, die von der Berufenheit ihrer Muttersprache in Lust und Leid, in Scherz und Ernst durchdrungen sind. In einem Gebiet, wo die Brüder Schumann durch ihre billigen »Bliemchen«-Schriften heillose Verwirrung angerichtet haben, ist jeder, der sich der Mundart mit Ernst und Stammesstolz bedient, ganz besonders zu begrüßen. Als der beträchtlichste Schriftsteller des Leipziger Dialekts erscheint zur Zeit Franz Ehregott Hauptvogel, und so muß sein Gedicht »De Heimat« im Sinne des eben Ausgeführten verstanden werden.
F.
[359]
Fußnote:
[8] Aus dem Buche »De droggne Bemme«, Gedichte und Erzählungen in sächsischer Mundart. H. Haessel, Verlag, Leipzig, Roßstraße 5/7, gebunden 3 RM.
Oswin Lindner, Niederhaßlau. Die Zwickau-Schneeberger Landstraße und ihre wirtschaftliche Bedeutung für das obere Erzgebirge, nebst einer kurzen Beschreibung der eigenen und benachbarten Brücken, 1921. (Selbstverlag des Verfassers.)
Seit der grundlegenden Arbeit von Wiechel hat die Heimatforschung der Wegekunde mit Recht steigende Aufmerksamkeit geschenkt. Es gilt, die oft nur schwachen Spuren älterer Straßenführung festzuhalten, ehe sie die moderne Zeit völlig verwischt. Neben der geographischen Bedingtheit der Weganlage darf das geschichtliche Moment nicht übersehen werden. Wege sind älter als die Siedlungen. Dazu ist die Kunststraße samt Brückenanlagen usw. eine noch viel zu wenig gewürdigte Kulturtat unserer Vorfahren. Beides ist in Lindners Arbeit sorgfältig betrachtet, und die Studie bringt, da sie reiches Quellenmaterial heranzieht, manchen Nebengewinn, z. B. über das verzwickte Kräftespiel der am Straßenbau beteiligten Bevölkerungskreise. Karten und Lichtbilder erhöhen die Anschaulichkeit des Gebotenen. Selbst die anscheinend dürren Tabellen erzählen Lebendiges. So geben die anspruchslosen Darlegungen Lindners reiche Anregung für jeden Heimatforscher; denn zumal in wissenschaftlichem Neuland wird man methodisch am besten immer mit dem Wege einsetzen, zu Flur, Flurgliederung (und Flursage) übergehen und erst dann die eigentliche Siedelungskunde samt dem chronikalischen ins Auge fassen. Als Muster sei das Werkchen warm empfohlen.
Professor Dr. Wagner, Rochlitz.
Winkelnest, ein fröhliches Heimatbuch von Karl Hennig. Verlag Gebrüder Müller, Bautzen.
Der Inhalt dieses Buches gibt mehr, als das Äußere verspricht, gibt anmutige Bilder aus vergangenen Zeiten, mit der Sonne des Herzens durchwärmt, mit dem Auge der Liebe durchleuchtet, mit dem Lächeln des Humors verklärt, Bilder aus einer alten Stadt, manchmal etwas alltäglicher Art, aber doch so, daß es ein schönes Erinnerungsbuch ist und bleibt, über dem das Dichterwort stehen könnte: »Ihr schönen Jugendtage mit eurem stillen Glück«. In der Art seiner Darstellung erinnert er an Franziskus Naglers gemütvolle Bücher. Das Titelblatt – wie schön hätte es in diesem Falle sein können! – verrät mit der Ortenburg den Schauplatz der Geschichten, nämlich das alte Bautzen. So wird das Buch zuerst örtliche Bedeutung haben; dem Verfasser darf man aber wünschen, daß es auch darüber hinaus Verbreitung findet; denn es gleicht einer stillen, verträumten Insel, fern dem wilden Weltleben, aber nahe dem, was Gemütswerte schafft.
Das sächsische Bauernhaus und seine Dorfgenossen von Bruno Schmidt. Aus den Büchern des Dresdner Zeichenlehrervereins »Mit offenen Augen«. Verlag Emil Pahl, Dresden. 2. Auflage. 64 Seiten Großquart. 89 Abbildungen.
Der Landesverein Sächsischer Heimatschutz hat durch seinen verewigten Vorsitzenden Herrn Geh. Baurat Schmidt dem Werke Pate gestanden, und er kann sich seiner Patenschaft wahrhaft freuen. Das Buch wird seiner Aufgabe, die der Arbeitsausschuß des Dresdner Zeichenlehrervereins im Vorwort seinem Erscheinen voranstellt, vollkommen gerecht. Es ist ein wertvoller Erzieher zum Schauen, zum bewußten Schauen der Heimat, zum nachdenklichen Werten von hundert Dingen, die dem Oberflächlichen vorübergehen, zum Verstehen und damit zur sorgenden Liebe um bodenständiges Heimatgut. Wenn sich das Buch besonders an die wendet, die lehren und führen und wahrhaft erziehen wollen, geht es den rechten Weg. Es kann bei seiner sachlichen Gründlichkeit und der damit notwendigen Schlichtheit als Mittler zur großen Menge des herzlichwarmen Wortes eines begeisterten Lehrers nicht entbehren. Es ist ein wertvolles Buch in seinem liebevollen Eingehen auf Grund und Sinn, Zweck und Schönheit all dessen, was dem ungelehrten und unempfindlichen Auge verborgen bleibt.
Vielleicht könnte das Buch in seiner endlichen Aufgabe, dem Heimatfilm und damit dem Heimatschutz zu dienen, noch gründlicher ausgewertet werden, wenn sein Inhalt an [360]der Hand des zeitgemäßen Lichtbildes der großen Menge in Bildungsvereinen, Volkshochschulen und ähnlichen nahegebracht würde.
W. Otto Ullmann.
Naturschutz-Bücherei, herausgegeben von Walter Schoenichen. Band 1. Neues Schmetterlingsbuch. Verlag von Hugo Bermühler, Berlin-Lichterfelde. Als Band 1 der von dem bekannten Direktor der preußischen staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege Prof. Dr. Schoenichen herausgegebenen Naturschutz-Bücherei stellt sich im ansprechenden Gewande das Neue Schmetterlingsbuch vor, dessen Eigenart sofort schon bei flüchtigem Durchblättern angenehm auffällt. In ansprechender Form wendet es sich hauptsächlich an die Jugend, die geneigt ist, die Schmetterlinge als Sammelobjekte in möglichst zahlreichen Arten fein säuberlich in Kästen reihenweise aufzuspießen und auf diese Weise unsre Fluren des schönsten Schmuckes bunter und seltener Schmetterlingsarten zu berauben. Hat doch schon in Preußen und Bayern der Apollofalter durch Polizeiverordnung geschützt werden müssen. Das Schmetterlingsbuch soll nun die Jugend lehren, den Schmetterling, seinen Bau und sein Leben kennenzulernen, und hat nicht die Absicht, die Kenntnis der verschiedenen Arten zu vermitteln. Das pädagogisch Wertvolle an dem Buch ist, daß es die Jugend lehrt, Modelle der verschiedenen Teile des Schmetterlingskörpers herzustellen, z. B. Schnittmuster von Schmetterlingsflügeln, Flügelschuppen, Schmetterlingsaugen. Interessant und leicht anzufertigen ist das aus Glasröhre, Gummiball und Gummiröhren bestehende Modell eines Schmetterlingsverdauungskanals. Es ist also auch der Werkunterricht in den Dienst der Wissenschaft gestellt, so daß als Schlagwort »Arbeitsunterricht« die Befolgung der Lehren dieses vorzüglichen Buches einen realen Inhalt erhält. Unsrer Jugend und unsern Biologielehrern kann das Buch nicht dringend genug empfohlen werden.
Dr. Koepert.
Gerhard Platz, »In Busch und Korn«. Verlag Craz u. Gerlach, Freiberg. Preis gebd. M. 5.—. (S. Beilage in diesem Heft.)
Dieses Buch, das uns der Heimatlandwanderer Gerhard Platz schenkt, ein Buch voll sonnigen Humors und stiller Lust an Gottes herrlicher Natur, das hinweghilft über das Leid trüber Sorgentage. Das Buch ist neu und darum bedarf es eines kurzen Hinweises. Sobald die ersten Käufer es gelesen haben werden, sind lobende Worte überflüssig. Dann wird das Buch für sich selbst sprechen.
Es werden gar viele Dinge angepriesen, die hinterher enttäuschen. Hier ist’s ganz anders. Wer Sinn und Herz hat für die Lebenserscheinungen seiner Heimat, wird seine Erwartungen übertroffen sehen, dem öffnet sich ein frohes weites Land. Frühlingswind braust in diesem Buch und der Wald raunt uns geheimnisvolle Weisen zu. Auf jeder Seite begegnen wir der unendlichen Liebe zur Scholle, in der die Wurzeln unserer Volkskraft und des deutschen Gemüts ruhen. Wir vernehmen die süßen Klänge der Heimat von sturmumrauschten Bergeshöhen bis hinab zum sächsischen Niederland, wo die Wasser sanfter fließen. Gerhard Platz sieht sein Land mit den sinnenden Augen des Dichters, er weckt in unserem Herzen einen Vollakkord, der lange geschlummert hatte. So möge das liebe gute Buch seinen Weg nehmen hinaus ins Land, wie sein Urheber ihn fand, überallhin durch die deutsche, besonders sächsische Heimat.
Für die Schriftleitung des Textes verantwortlich: Dr. Friedrich Schulze, Leipzig – Druck: Lehmannsche Buchdruckerei,
Dresden – Photographische Platten »Perutz« – Photographische Aufnahmen: Max Nowak – Auflage 50 000
Diesem Hefte liegt ein Werbeschreiben des Verlags Craz & Gerlach, Freiberg, bei
Landesverein Sächsischer Heimatschutz
Satzung
§ 1.
Name, Zweck und Sitz des Vereins.
Der Landesverein »Sächsischer Heimatschutz« bezweckt, die sächsische Heimat in ihrer natürlichen und geschichtlich gewordenen Eigenart zu schützen, Neuentstehendes im Sinne dieser Eigenart zu beeinflussen, sowie das Bau- und Wohnungswesen zu fördern.
Sein Arbeitsgebiet umfaßt namentlich:
a) Pflege der überlieferten ländlichen und bürgerlichen Bauweise, Beratung für Bauten und Anlagen aller Art, Maßnahmen gegen die Verunstaltung von Stadt und Land, sowie die Erstattung von Gutachten über alle diese Fragen;
b) Pflege der Volkskunde und Volkskunst;
c) Schutz der landschaftlichen Natur, der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt, sowie der geologischen Eigentümlichkeiten des Landes.
Entsprechend diesen Aufgaben des Vereins bestehen drei Hauptgruppen unter je einem besonderen Leiter, nämlich:
Gruppe A: Bauberatungsstelle,
Gruppe B: Volkskunde und Volkskunst,
Gruppe C: Naturschutz.
Außerdem besteht als besondere Abteilung: eine Beratungsstelle für Bebauungspläne.
Die Verfassung und Tätigkeit dieser Abteilung, sowie ihre Stellung im Gesamtverein wird durch eine vom geschäftsführenden Vorstand aufzustellende Geschäftsordnung geregelt.
Der Sitz des Vereins ist Dresden.
Der Verein ist in das Vereinsregister eingetragen.
§ 2.
Die Organe des Vereins sind:
a) der geschäftsführende Vorstand,
b) der Gesamt-Vorstand,
c) die Hauptversammlung.
§ 3.
Das Geschäftsjahr läuft vom 1. Januar bis mit 31. Dezember.
§ 4.
Der Landesverein setzt sich zusammen aus:
a) körperschaftlichen Mitgliedern,
b) Einzelmitgliedern,
c) Ehrenmitgliedern.
Die Höhe der Jahresbeiträge und der sonstigen Aufwendungen, die zur Erhaltung des Vereins erforderlich sind, bestimmt der geschäftsführende Vorstand, der auch befugt ist, im Einzelfalle Nachlässe zu gewähren. Um Irrtümer zu vermeiden, geben wir hierzu folgende Erklärung: Der Jahresbeitrag ist auf RM. 12.— festgesetzt[9].
Der Eintritt erfolgt durch Anmeldung.
§ 5.
Zu Ehrenmitgliedern oder Förderern können auf Vorschlag des geschäftsführenden Vorstandes durch den Gesamtvorstand Personen ernannt werden, die sich um die Bestrebungen des Landesvereins in hervorragender Weise verdient gemacht haben.
§ 6.
Der Gesamt-Vorstand des Landesvereins besteht aus:
a) dem Vorsitzenden,
b) dem 1., 2. und 3. Stellvertreter des Vorsitzenden,
c) dem Schatzmeister,
d) den Leitern der drei Hauptgruppen und deren Stellvertretern (zu vergleichen § 14),
e) dem Geschäftsführer, sowie
f) 80 Beisitzern.
Für die Angelegenheiten der Abteilung für Bebauungspläne tritt deren Vorsitzender und dessen Stellvertreter hinzu.
Die Zuziehung noch weiterer Personen mit beratender Stimme bleibt dem Gesamt-Vorstand überlassen.
Die Leiter der Hauptgruppen sowie der Abteilungen können gleichzeitig ein anderes Amt im Gesamt-Vorstande bekleiden.
Die unter a–e Genannten bilden samt 8 Beisitzern des Gesamtvorstandes, die der Gesamt-Vorstand wählt, den geschäftsführenden Vorstand.
§ 7.
Der Gesamt-Vorstand wird auf die Dauer von 5 Jahren von der Hauptversammlung gewählt. Die Wahlen des Vorsitzenden, des 1., 2. und 3. Stellvertreters des Vorsitzenden, des Schatzmeisters und der Leiter der drei Hauptgruppen erfolgen in je einem besonderen Wahlgange, die der übrigen Vorstandsmitglieder mit Ausnahme des Geschäftsführers, der als Beamter gilt, in einem gemeinsamen Wahlgange. Die Abstimmung ist schriftlich und geheim, wenn nicht die Mehrheit der Versammlung die Wahl durch Zuruf genehmigt. Wiederwahl der ausscheidenden Gesamt-Vorstands-Mitglieder ist zulässig.
Scheidet ein Gesamt-Vorstands-Mitglied vorzeitig aus, so kann sich der Gesamt-Vorstand bis zur nächsten Hauptversammlung durch Zuwahl ergänzen.
Der Gesamt-Vorstand tritt auf Berufung des Vorsitzenden nach Bedarf zusammen.
§ 8.
Der Vorsitzende hat den Verein gerichtlich und außergerichtlich zu vertreten und bildet den Vorstand im Sinne von § 26 des BGB. Im Behinderungsfalle tritt einer der drei Stellvertreter für ihn ein.
§ 9.
Hauptgruppen und Abteilungen (§ 1) erledigen die in ihr Tätigkeitsgebiet fallenden Angelegenheiten selbständig unter eigener Verantwortung ihrer Leiter und Vorsitzenden. Diese können jedoch solche Angelegenheiten, insbesondere Fragen von grundsätzlicher oder allgemeiner Bedeutung, jederzeit nach eigenem Ermessen vor den Vorstand bringen, wie ebenso der geschäftsführende Vorstand aus gleichen Gründen seine Mitentschließung fordern kann.
§ 10.
In der Regel findet aller fünf Jahre die Hauptversammlung statt.
Die Berufung außerordentlicher Hauptversammlungen beschließt der Gesamt-Vorstand selbständig oder auf schriftlichen Antrag von mindestens einem Fünftel der Vereinsmitglieder.
Zeit, Ort und Tagesordnung einer Hauptversammlung sind spätestens zwei Wochen vorher durch Veröffentlichung in der »Sächsischen Staatszeitung« und tunlichst in den Mitteilungen bekanntzugeben.
§ 11.
1. Dem geschäftsführenden Vorstand liegt ob:
die Leitung und Geschäftsführung des
Landesvereins;
die Kassen- und Vermögensverwaltung.
2. Dem Gesamt-Vorstand liegt ob:
Die Entscheidung über wichtige und
grundsätzliche Fragen aus dem Arbeitsgebiet
des Landesvereins, soweit sie nicht
den Hauptgruppen oder Abteilungen zuwiesen
sind, die Prüfung und Richtigsprechung
des vom geschäftsführenden
Vorstand erstatteten Jahres- und Kassenberichts.
3. Die Hauptversammlung der Mitglieder des Landesvereins (§ 4) wählt den Gesamt-Vorstand, beschließt über Satzungsänderungen und Auflösung des Vereins (§ 19).
§ 12.
Über die Verhandlungen der Vereinsorgane und die von ihnen gefaßten Beschlüsse sind Niederschriften aufzunehmen, die von dem Vorsitzenden und dem Schriftführer nach Vorlesen zu unterzeichnen sind.
§ 13.
Sitzungen können gegebenenfalls auch nach Orten außerhalb Dresdens einberufen werden.
§ 14.
An der Spitze jeder Hauptgruppe (§ 1) stehen ein Leiter (Vorsitzender) sowie dessen Stellvertreter. Dem Leiter (Vorsitzenden) steht es zu, Mitglieder des Landesvereins als Gruppenmitarbeiter hinzuzuziehen.
§ 15.
Für größere und einheitliche Arbeiten können vom Gesamt-Vorstande besondere Ausschüsse (Arbeitsausschüsse) bestellt und nach Bedarf als dauernde Einrichtung beibehalten werden.
§ 16.
Jede vorschriftsmäßig einberufene Hauptversammlung ist beschlußfähig. Der Gesamt-Vorstand ist beschlußfähig, wenn wenigstens ein Zehntel der stimmberechtigten Mitglieder anwesend ist, der geschäftsführende Vorstand bei Anwesenheit von mindestens ein Drittel der Mitglieder.
Bei allen Abstimmungen entscheidet, soweit nicht die Satzung anders bestimmt (vgl. § 18) einfache Stimmenmehrheit. Jedes Mitglied hat – auch im Falle des § 6 Absatz 4 – eine Stimme. Im Falle der Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Vorsitzenden, bei Wahlen das Los.
Abstimmungen des Gesamt-Vorstandes und des geschäftsführenden Vorstandes können auch auf schriftlichem Wege erfolgen.
§ 17.
Änderungen dieser allgemeinen Satzung, sowie des Vereinszweckes kann die Hauptversammlung mit einer Mehrheit von drei Viertel der Anwesenden beschließen.
§ 18.
Zur Auflösung des Vereins bedarf es des übereinstimmenden und jedesmal von wenigstens vier Fünftel der erschienenen Mitglieder gefaßten Beschlusses zweier mindestens vier Wochen auseinanderliegender Hauptversammlungen. Der Antrag auf Auflösung muß wenigstens drei Monate vor der Versammlung beim Gesamt-Vorstande schriftlich angebracht und öffentlich durch die »Sächsische Staatszeitung« bekannt gemacht werden.
§ 19.
Im Falle der Auflösung wird das Vereinsvermögen dem Gesamtministerium zur freien Verfügung überwiesen.
§ 20.
Die am 1. Juli 1908 errichtete Satzung ist am 15. Mai 1909, 15. Mai 1911, 8. Mai 1912 und am 1. September 1919 abgeändert und am 1. September 1923 in vorliegender Fassung neu errichtet worden.
Dresden, am 1. September 1925.
Fußnote:
[9] Der Beitrag ist beliebig zahlbar (monatlich, vierteljährlich, halbjährlich oder fürs ganze Jahr). Das Vereinsjahr ist das Kalenderjahr. Jeder, der im Laufe des Jahres eintritt, erhält sämtliche Veröffentlichungen dieses Jahres kostenlos, hat aber auch den Beitrag für das Eintrittsjahr voll zu entrichten. Der Austritt aus dem Verein ist nur zum Schluß des Kalenderjahres schriftlich zulässig, der Beitrag für das Austrittsjahr ist gleichfalls voll zu entrichten, sämtliche Veröffentlichungen des Austrittsjahres erhält das Mitglied kostenlos. Für Minderbemittelte (Erwerbslose, Kleinrentner, Lehrlinge, Schüler) kann der Jahresbeitrag auf jährlich zu wiederholenden schriftlichen Antrag auf 50 Pf. monatlich herabgesetzt werden. Die Abmeldung hat an den Verein und nicht an eine Mittelsperson zu erfolgen und ist nur dann gültig, wenn sie vom Verein schriftlich bestätigt wurde.
Lehmannsche Buchdruckerei, Dresden-N.
Weitere Anmerkungen zur Transkription
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.